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Katastrophenjournalismus-Mäander

Ich war ein etwas merk­wür­di­ges Kind und leg­te schon früh eine gewis­se Obses­si­on für Jour­na­lis­mus an den Tag, beson­ders in Kata­stro­phen­si­tua­tio­nen: als in mei­nem Hei­mat­dorf ein Gast­haus abbrann­te, schnitt mein sie­ben­jäh­ri­ges Ich in den nächs­ten Tagen alle Arti­kel dar­über aus der Zei­tung aus und edi­tier­te sie neu zusam­men, um sie in einer von mir selbst mode­rier­ten Nach­rich­ten­sen­dung (Zuschau­er: mei­ne Stoff­tie­re) zu ver­le­sen.

Mit acht sam­mel­te ich in Zei­tun­gen und Radio alle Infor­ma­tio­nen über einen Flug­zeug­ab­sturz in Ams­ter­dam, derer ich hab­haft wer­den konn­te. Nach dem Absturz eines Bun­des­wehr­hub­schrau­bers ((Die Typen­be­zeich­nung Bell UH-1D könn­te ich Ihnen ohne nach­zu­den­ken nen­nen, wenn Sie mich nachts um vier aus dem Bett klin­gel­ten – was Sie aber bit­te in unser bei­der Inter­es­se unter­las­sen!)) bei der Jugend­mes­se „YOU“ in Dort­mund, nach dem Unfall­tod von Prin­zes­sin Dia­na, nach dem ICE-Unfall von Esche­de schal­te­te ich Fern­se­her und Video­text ein und wech­sel­te jede hal­be Stun­de zum Radio, um aus den dor­ti­gen Nach­rich­ten mög­li­che neue Ent­wick­lun­gen zu ent­neh­men und – ich wünsch­te wirk­lich, ich däch­te mir das aus – zu notie­ren: Sound­so vie­le Tote, Ursa­che noch unklar, drück­te den Hin­ter­blie­be­nen an der Unfall­stel­le sein Mit­ge­fühl aus. Den 11. Sep­tem­ber 2001 ver­brach­te ich kniend auf dem Wohn­zim­mer­tep­pich mei­ner Eltern vor dem Fern­se­her, am 7. Juli 2005 ver­ließ ich mein Wohn­heims­zim­mer nicht.

Dann wur­den im August 2006 in Groß­bri­tan­ni­en zahl­rei­che Ver­däch­ti­ge fest­ge­nom­men, die Anschlä­ge auf Pas­sa­gier­ma­schi­nen geplant haben soll­ten, und nach etwa einer hal­ben Stun­de CNN und BBC schal­te­te ich den Fern­se­her aus, ging raus und dach­te „Was’n Scheiß!“

Ziem­lich exakt seit es mir tech­nisch mög­lich wäre, mich in Echt­zeit selbst über Ereig­nis­se zu infor­mie­ren, noch wäh­rend sie pas­sie­ren, wün­sche ich mir, dar­über im Geschichts­buch lesen zu kön­nen. Mit allen Erkennt­nis­sen, die im Lau­fe der Jah­re gewach­sen sind, mit his­to­ri­scher Ein­ord­nung und in genau dem Umfang, der ihnen ange­mes­sen ist: Dop­pel­sei­te, hal­be Sei­te, klei­ner Kas­ten, Fuß­no­te.

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Als ich am ver­gan­ge­nen Frei­tag die ers­te Mel­dung bekam, dass sich in Mün­chen irgend­was schlim­mes ereig­net habe, ((Bizar­rer­wei­se per Push-Benach­rich­ti­gung der BBC-App.)) guck­te ich kurz bei Face­book Live und Peri­scope rein, weil ich ja manch­mal auch für aktu­el­le Infor­ma­ti­ons­sen­dun­gen arbei­te und mir die­se Tech­nik mal aus einer pro­fes­sio­nel­len Per­spek­ti­ve anse­hen woll­te. Ich sah also ver­wa­ckel­te Video­bil­der, auf denen Men­schen mit erho­be­nen Hän­den in Rich­tung von Poli­zei­au­tos rann­ten, und die von einem Mann mit bay­ri­schen Akzent mit anhal­ten­dem „krass, krass“ kom­men­tiert wur­den. Die Wör­ter „Mün­chen“, „Olym­pia“, „Schüs­se“ und „Kame­ra“ bil­de­ten in mei­nem Kopf eine Linie und ich dach­te, dass man so Schei­ße wie 1972, als die Gei­sel­neh­mer dank Live-Fern­se­hen per­ma­nent über die Aktio­nen der Poli­zei infor­miert waren, ja ruhig 44 Jah­re spä­ter mit Mit­teln für den Heim­an­wen­der noch mal wie­der­ho­len kann. Ich erbrach mich kurz bei Twit­ter und tat dann das Ein­zi­ge, was mir an einem sol­chen Tag noch sinn­voll und sach­dien­lich erschien: ich ging in die Küche und mach­te Mar­mor­ku­chen und Nudel­sa­lat für einen Kin­der­ge­burts­tag.

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Der Begriff des „Zeu­gen“ ist in ers­ter Linie ein juris­ti­scher. Zeu­gen haben von den Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den (und dort von mög­lichst geschul­tem Per­so­nal) gehört zu wer­den und soll­ten nach Mög­lich­keit nicht vor lau­fen­de Kame­ras gezerrt wer­den. Schon bei einem harm­lo­sen Ver­kehrs­un­fall kann man die wider­sprüch­lichs­ten Infor­ma­tio­nen zusam­men­sam­meln, bei einer unüber­sicht­li­chen Gefähr­dungs­la­ge dürf­te die Chan­ce, tat­säch­li­chen Mehr­wert zu gene­rie­ren (der sich anschlie­ßend inhalt­lich auch noch als zutref­fend erweist), genau­so groß sein wie wenn der Mode­ra­tor im Stu­dio ein­fach mal rät, was pas­siert sein könn­te.

Zu den Leu­ten, die nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen aus­plau­dern, was sie gese­hen und gehört zu glau­ben haben, kom­men natür­lich noch die Idio­ten hin­zu, die sich irgend­was aus­den­ken, um auf Twit­ter oder Face­book geteilt zu wer­den – oder weil es sich ja zufäl­lig als tref­fend erwei­sen könn­te.

Auf einem der Peri­scope-Vide­os aus Mün­chen sah ich Dut­zen­de Men­schen, die alle ihre Han­dys in Rich­tung eines nicht näher ein­zu­ord­nen­den Ortes rich­te­ten, den ich jetzt ein­fach mal als „poten­ti­el­le Gefah­ren­quel­le“ bezeich­nen wür­de. Die Gei­sel­neh­mer von Glad­beck müss­ten heu­te nicht mal mehr war­ten, dass „Hans Mei­ser, deut­sches Fern­se­hen“ bei ihnen anruft oder der spä­te­re „Bild“-Chefredakteur Udo Röbel zu ihnen ins Auto steigt.

Neben all dem fin­det man in den Sozia­len Netz­wer­ken natür­lich auch die Bes­ser­wis­ser: ((Zu denen ich in der Blü­te der Arro­ganz von Jugend und Inter­net­glau­ben auch gehört habe.)) das Fern­se­hen soll mehr berich­ten, das Fern­se­hen soll weni­ger berich­ten, die Poli­ti­ker sol­len sich gefäl­ligst jetzt äußern. Fast wür­de man die­sen Leu­ten ein „Macht’s bes­ser!“, ent­ge­gen schrei­en wol­len, wenn man nicht davon aus­ge­hen müss­te, dass sie schon im Glau­ben sind, auf ihren Pro­fi­len genau das zu tun.

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Wäh­rend etwas geschieht, ist man in aller Regel nicht in der Lage, die Dimen­si­on die­ses Ereig­nis­ses auch ein­zu­schät­zen. Das gilt für die ers­te Begeg­nung mit der spä­te­ren gro­ßen Lie­be genau­so wie für Nach­rich­ten. Es hat sich mir förm­lich ins Hirn gebrannt, wie ich mit fünf Jah­ren ver­se­hent­lich eine Aus­ga­be der „Aktu­el­len Stun­de“ mit­krieg­te, die vom Absturz eines US-Kampf­flug­zeugs in einer Stadt namens Rem­scheid berich­te­te. ((Note to self: Nie­mals Nach­rich­ten gucken, wenn das Kind in der Nähe ist.)) Die Wor­te „Flug­zeug­ab­sturz“ und „Rem­scheid“ sind für mich seit­dem untrenn­bar seman­tisch mit­ein­an­der ver­bun­den, obwohl ich bis heu­te nicht sagen könn­te, wo Rem­scheid liegt. ((An der A1 zwi­schen Wup­per­tal und Köln, aber was weiß ich, wo die A1 lang führt – und wo zum Hen­ker liegt über­haupt Wup­per­tal, außer halt süd­lich des Ruhr­ge­biets?)) Die aller­meis­ten Men­schen, die die­se Nach­richt damals zur Kennt­nis genom­men haben und nicht direkt von dem Absturz betrof­fen waren, dürf­ten sie kom­plett ver­ges­sen haben – die dama­li­gen Mode­ra­to­ren der „Aktu­el­len Stun­de“ inklu­si­ve. Für die Stadt Rem­scheid dürf­te der Tag eine deut­lich grö­ße­re Bedeu­tung haben als für die US Air Force. Und allein die Tat­sa­che, dass ich die Fak­ten dazu jetzt ganz schnell nach­schla­gen konn­te, gibt dem Unglück ja eine gewis­se Wer­tung: Es ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass am glei­chen Tag auf den Stra­ßen in NRW mehr Todes­op­fer bei Auto­un­fäl­len zu bekla­gen waren – Anfang Dezem­ber, viel­leicht Blitz­eis? – als die sie­ben beim Flug­zeug­ab­sturz, aber dazu gibt es halt kei­nen Wiki­pe­dia-Ein­trag.

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Als ich noch rela­tiv klein war, lief ein psy­chisch kran­ker Mann mit einer Schuss­waf­fe durch die Dins­la­ke­ner Innen­stadt, schoss auf Poli­zis­ten und erschoss sich am Ende in einer Gara­ge. Jeden­falls ist es das, wor­an ich mich sehr dun­kel – und aus­schließ­lich auf Erzäh­lun­gen mei­ner Mut­ter an jenem Tag basie­rend – erin­ne­re. Ich bil­de mir ein, dass es im Herbst 1991 gewe­sen sein müss­te, aber ich habe ehr­lich gesagt kei­ne Ahnung – um das gan­ze irgend­wie veri­fi­zie­ren zu kön­nen, müss­te ich nach Dins­la­ken fah­ren und in den Archi­ven der Lokal­re­dak­tio­nen von „NRZ“ und „Rhei­ni­scher Post“ meter­wei­se Mikro­film sich­ten. Angeb­lich war auch das Fern­se­hen vor Ort, viel­leicht fän­de ich etwas im Kel­ler von RTL West.

Nur zehn Jah­re spä­ter hät­te die­ses Ereig­nis zumin­dest ein paar Arti­kel in Online-Medi­en nach sich gezo­gen, die ich jetzt ergoo­geln könn­te. Zwan­zig Jah­re spä­ter hät­te es ver­mut­lich schon so viel Social-Media-Buzz erzeugt, dass man die Ent­wick­lun­gen auch in einer fer­nen Zukunft noch minu­ten­ge­nau nach­voll­zie­hen könn­te – oder halt beim Nach­le­sen genau­so ahnungs­los ist, als wäre man selbst dabei. Und in die­ser Woche wäre es nicht unter einem „Brenn­punkt“ und einer Soli­da­ri­täts­adres­se min­des­tens eines aus­län­di­schen Spit­zen­po­li­ti­kers auf Twit­ter pas­siert. Der ört­li­che Poli­zei­pres­se­spre­cher hät­te sich auch ande­re Fra­gen anhö­ren müs­sen.

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Schon seit eini­gen Jah­ren erwähnt Barack Oba­ma, wenn er wie­der mal mit zit­tern­der Unter­lip­pe ein State­ment zu einer Mas­sen­schie­ße­rei in den USA abge­ben muss, dass er bereits zu vie­le State­ments zu einer Mas­sen­schie­ße­rei in den USA abge­ge­ben habe.

Nun bin ich – Gott sei Dank – nicht der US-Prä­si­dent und glau­be auch nicht, dass es irgend­wel­che grö­ße­ren Aus­wir­kun­gen hat, wenn ich hier mei­ne Mei­nun­gen zu Medi­en­be­rich­ten nach schreck­li­chen Ereig­nis­sen ver­öf­fent­li­che, aber auch ich habe schon viel zu oft mei­ne Mei­nung zu Medi­en­be­rich­ten nach schreck­li­chen Ereig­nis­sen ver­öf­fent­licht:

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Musik

Song des Tages: Ryan Adams – New York, New York

Zum ers­ten Mal gehört: Anfang Janu­ar 2002, als ich mir nach mehr­fa­cher Emp­feh­lung end­lich „Gold“ von Ryan Adams gekauft habe.

Wer musi­ziert da? Ryan Adams. Nicht Bryan. Der Ex-Sän­ger von Whis­key­town, des­sen aktu­el­les, selbst­be­ti­tel­tes Album die­ser Tage erscheint.

War­um gefällt mir das? Ich mag den Dri­ve, den Bon­gos und Orgel erzeu­gen, und die Atmo­sphä­re, die die­ser Song aus­strahlt. Als ich zum ers­ten Mal in New York war, muss­te ich natür­lich mit die­sem Song im Ohr durch die Stra­ßen lat­schen.
Bonus-Gän­se­haut: Das Musik­vi­deo mit die­sen Tür­men im Hin­ter­grund wur­de am 7. Sep­tem­ber 2001 gedreht.

[Alle Songs des Tages — auch als Spo­ti­fy-Play­list]

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Leben Politik

Städte, die das möchten

Damit war nicht zu rech­nen gewe­sen, als wir Dirk Elbers zwi­schen Weiß­wein (er) und Sekt (ich) anspra­chen. Doch der Düs­sel­dor­fer Ober­bür­ger­meis­ter ant­wor­te­te auf mei­ne Fra­ge, ob sei­ne Stadt Euro­vi­si­on Song Con­test, Mara­thon und eine rie­si­ge Indus­trie­mes­se gleich­zei­tig locker weg­ste­cken kön­ne, mit einem Satz, der als Glau­bens­be­kennt­nis aller Stadt­obe­ren in latent grö­ßen­wahn­sin­ni­gen Kom­mu­nen (also qua­si über­all) gel­ten kann: „Das ist eine Stadt, die das möch­te!“

Nun ist Düs­sel­dorf, eine Stadt, die es sich nicht mal neh­men lässt, einen ver­damm­ten Ski­lang­lauf-Welt­cup in ihrer Innen­stadt aus­zu­rich­ten, ein Extrem­bei­spiel jener Städ­te, die so ger­ne eine Metro­po­le wären, aber eben doch nur rein ver­wal­tungs­recht­lich eine Groß­stadt sind – aber bei­lei­be kein Ein­zel­fall.

Zwi­schen April und Okto­ber gibt es qua­si kein ein­zi­ges Wochen­en­de, an dem nicht min­des­tens ein, zwei Bus­li­ni­en in der Bochu­mer Innen­stadt umge­legt wer­den müs­sen, weil die eine oder ande­re Haupt­stra­ße (oder gleich meh­re­re davon) gesperrt ist. Da ist natür­lich Bochum Total („Euro­pas größ­tes inner­städ­ti­sches Musik­fes­ti­val“), aber auch der „Spar­kas­sen-Giro“ (ein Rad­ren­nen), der „Bochu­mer Musik­som­mer“ (auch eine Art Musik­fes­ti­val, aber mehr mit Wein­bu­den und ange­grau­ten Leh­rer-Ehe­paa­ren als Ziel­grup­pe), „Bochum kuli­na­risch“ (kei­ne Musik, noch mehr Wein­bu­den und Leh­rer) und am ver­gan­ge­nen Wochen­en­de erst­ma­lig der „Rewir­power-Halb­ma­ra­thon“ (ein Halb­ma­ra­thon). Hin­zu kom­men Ver­an­stal­tun­gen wie „Die Nord­see kommt – Das Welt­na­tur­er­be Wat­ten­meer zu Gast in Bochum“, das „Kuh­hir­ten­fest“, das Uni­fest, meh­re­re Floh­märk­te, ein Fisch­markt, sowie diver­se „Events“ in und um die inner­städ­ti­schen Ein­kaufs­zen­tren. Wer kei­nen Schre­ber­gar­ten hat, kann eigent­lich jedes Wochen­en­de irgend­wo hin­ge­hen, bevor dann im Novem­ber end­lich der Weih­nachts­markt eröff­net. Und das alles gibt es in jeder Nach­bar­stadt hier im Ruhr­ge­biet selbst­ver­ständ­lich noch ein­mal.

Ver­ant­wort­lich sind natür­lich vie­le unter­schied­li­che Ver­an­stal­ter. Oft ist das Stadt­mar­ke­ting dabei, aber nicht immer. Es gibt vie­le unter­schied­li­che Ziel­grup­pen und für sich genom­men mag jede Ver­an­stal­tung ihre Berech­ti­gung und ihren Charme haben. In der Sum­me gleicht es einer Fünf­jäh­ri­gen, die sich Mut­tis Schmuck umge­han­gen hat (und zwar den gan­zen) und deren Gesicht unter einer zen­ti­me­ter­di­cken Schmink­schicht ver­schwun­den ist. ((Außer­dem kann die klei­ne nicht rich­tig gehen, weil sie in über­gro­ßen Pumps steckt.))

Was uns zum vor­läu­fi­gen Tief­punkt bringt, der erreicht war, als „City Point“ und „Dreh­schei­be“ (die zuvor erwähn­ten inner­städ­ti­schen Ein­kaufs­zen­tren) kürz­lich die „Living Doll 2011“ zu küren such­ten. Da stan­den vor den ein­zel­nen Geschäf­ten Men­schen, die Pro­duk­te aus den jewei­li­gen Läden tru­gen und sich nicht bewe­gen durf­ten. Dazwi­schen stan­den ande­re Men­schen, ((Oder waren es die glei­chen? Ich hat­te mich abwen­den müs­sen.)) die Karao­ke san­gen. „Nur ein Wort“ von Wir Sind Hel­den, zum Bei­spiel. Alles, aber auch wirk­lich alles muss schief gegan­gen sein, damit so etwas pas­siert.

Nun ist es natür­lich nicht so, dass ech­te Metro­po­len völ­lig auf sol­cher­lei Ver­an­stal­tun­gen ver­zich­ten wür­den. In New York ist an jedem Wochen­en­de ver­mut­lich mehr los, als in ganz NRW in einem hal­ben Jahr. Aber die Stadt ist natür­lich bedeu­tend grö­ßer, so dass nicht stän­dig die glei­chen Stra­ßen gesperrt wer­den müs­sen, und außer­dem gibt es dort Tou­ris­ten.

Ande­rer­seits hat der Ver­an­stal­tungs­wahn zumin­dest in Bochum den (poli­tisch sicher so gewoll­ten) Vor­teil, dass man sich an den Wochen­en­den eher für das oft unan­sehn­li­che Gan­ze schämt, anstatt stän­dig für die eige­ne Stadt­spit­ze. Immer­hin hat­te es unse­re Ober­bür­ger­meis­te­rin für nötig gehal­ten, sich nach einer durch­aus hit­zi­gen öffent­li­chen Debat­te dar­über, ob Josef Acker­mann im Bochu­mer Schau­spiel­haus reden soll (of all places), bei Herrn Dr. Acker­mann per­sön­lich „für die unwür­di­ge Dis­kus­si­on“ zu ent­schul­di­gen. ((Nicht etwa für die Art der Dis­kus­si­on, die natür­lich als „weit­ge­hend unsach­li­che Kri­tik, aber auch die über­zo­ge­ne Bericht­erstat­tung in Tei­len der Lokal­pres­se“ gegei­ßelt wur­de, son­dern gleich für die gan­ze ver­damm­te Dis­kus­si­on an sich! Wer schreibt die­ser Frau ihre Brie­fe und Pres­se­er­klä­run­gen?!))

Jetzt aber ab heu­te und bis Sonn­tag „Bochu­mer Musik­som­mer“ und die nächs­te ganz gro­ße Pein­lich­keit: Am Sonn­tag wird das Pro­gramm auf allen Büh­nen von 14.46 Uhr bis 15.03 Uhr unter­bro­chen. War­um so krumm? Nun, in die­ser Zeit läu­ten in der gan­zen Stadt die Glo­cken zum Geden­ken an die Opfer der Anschlä­ge vom 11. Sep­tem­ber. ((War­um man dafür den Zeit­raum zwi­schen dem Ein­schlag des ers­ten und des zwei­ten Flug­zeugs ins World Trade Cen­ter gewählt hat, die Abstür­ze ins Pen­ta­gon und in Shanks­ville und den Ein­sturz der Tür­me aber außen vor­lässt, weiß ver­mut­lich vor allem der Wind.)) 17 Minu­ten Betrof­fen­heit bei Brat­wurst und Ape­rol Spritz, dann geht’s wei­ter mit Musik.

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Die Bonner Republik

Das Land mei­ner Kind­heit exis­tiert nicht mehr. Es ist nicht ein­fach unter­ge­gan­gen wie die DDR, in der ein paar mei­ner Freun­de ihre ers­ten Lebens­jah­re ver­bracht haben, aber es ist auch nicht mehr da.

Frü­her, als in den Radio­nach­rich­ten noch die Orts­mar­ken vor­ge­le­sen wur­den, gab es die­ses Wort, das mehr als ein Wort oder ein Städ­te­na­me war: „Bonn.“ Damals braucht man in den Nach­rich­ten noch kei­ne Sound­tren­ner zwi­schen den ein­zel­nen Mel­dun­gen, denn es gab die­ses Wort, das wie ein Tren­ner klang, wie der Schlag mit einem Rich­ter­ham­mer. Bonn.

Bonn war die Haupt­stadt des Lan­des, in dem ich leb­te, und die Stadt, in der mei­ne Oma damals leb­te. Ich glau­be nicht, dass ich das eine mit dem ande­ren jemals in einen Zusam­men­hang gebracht habe, aber das Land, in dem ich leb­te, wur­de von alten, grau­en Män­nern in karier­ten Sak­kos regiert und ihre Ent­schei­dun­gen wur­den von glei­cher­ma­ßen alten, glei­cher­ma­ßen grau­en Män­nern in glei­cher­ma­ßen karier­ten Sak­kos ver­le­sen.

Wahr­schein­lich wuss­te ich damals noch nicht, was „regie­ren“ bedeu­tet und wel­che Funk­ti­on die letzt­ge­nann­ten Män­ner hat­ten (außer, dass man als Kind still sein muss­te, wenn sie zur Abend­brot­zeit über den Fern­se­her mei­ner Groß­el­tern flim­mer­ten), aber es gab einen dicken Mann mit lus­ti­gem Sprach­feh­ler, der immer da war und das war – neben Tho­mas Gott­schalk – der König von Deutsch­land.

Die Aus­wir­kun­gen, die die Exis­tenz Hel­mut Kohls auf gan­ze Gebur­ten­jahr­gän­ge hat­te, sind mei­nes Wis­sens bis heu­te nicht unter­sucht wor­den. Aber auch Leu­te, die in den ers­ten acht bis sech­zehn Jah­ren ihres Lebens kei­nen ande­ren Bun­des­kanz­ler ken­nen­ge­lernt haben, sind heu­te erfolg­rei­che Musi­ker, Fuß­bal­ler, Schau­spie­ler oder Autoren, inso­fern kann es nicht gar so ver­hee­rend gewe­sen sein.

Es pass­te fast dreh­buch­mä­ßig gut zusam­men, dass Kohls Regent­schaft ende­te, kurz bevor das ende­te, was er geprägt hat­te wie nur weni­ge ande­re alte Män­ner: die Bon­ner Repu­blik. Ger­hard Schrö­der wur­de Kanz­ler und plötz­lich wirk­te die gan­ze gemüt­li­che Bon­ner Bun­ga­low-Atmo­sphä­re ange­staubt. Schrö­der zog nach einem hal­ben Jahr in einen gro­tes­ken Protz­bau, den Hel­mut Kohl sich noch aus­ge­sucht hat­te, der aber magi­scher­wei­se von der Archi­tek­tur viel bes­ser zu Schrö­der pass­te. Bei Ange­la Mer­kel hat man häu­fig das Gefühl, sie säße lie­ber wie­der in einem holz­ver­tä­fel­ten Bon­ner Büro.

Die Ber­li­ner Repu­blik währ­te nur drei Som­mer. Das hat­te aus­ge­reicht für ein biss­chen Deka­denz und Fin de Siè­cle, für einen Kanz­ler mit Zigar­ren und Maß­an­zü­gen, einen schwu­len Regie­ren­den Bür­ger­meis­ter in Ber­lin und die voll­stän­di­ge Demon­ta­ge von Hel­mut Kohl und wei­ten Tei­len der CDU. In ganz Euro­pa herrsch­te Auf­bruch­stim­mung: Unter dem Ein­druck von New Labour war ganz Euro­pa in die Hän­de der soge­nann­ten Lin­ken und Sozia­lis­ten gefal­len, die Son­ne schien, alles war gut und nichts tat weh.

Dann kamen der 20. Juli und der 11. Sep­tem­ber 2001.

Bit­te? Sie wis­sen nicht, was am 20. Juli 2001 pas­sier­te? An jenem Tag starb Car­lo Giu­lia­ni auf den Stra­ßen Genu­as. Der 20. Juli hät­te der 2. Juni unse­rer Gene­ra­ti­on wer­den kön­nen, Giu­lia­ni war schon weni­ge Wochen spä­ter als Pos­ter­boy der auf­kom­men­den Anti-Glo­ba­li­sie­rungs-Bewe­gung auf der Titel­sei­te des „jetzt“-Magazins. Doch 53 Tage spä­ter flo­gen ent­führ­te Pas­sa­gier­flug­zeu­ge ins World Trade Cen­ter und Giu­lia­ni geriet der­art in Ver­ges­sen­heit, dass ich zu sei­nem 10. Todes­tag kei­ner­lei Bericht­erstat­tung beob­ach­ten konn­te. In Ber­lin tag­te nun das Sicher­heits­ka­bi­nett, das aber auch in Bonn hät­te tagen kön­nen, irgend­wo in der Nähe des atom­si­che­ren Bun­kers im Ahrtal.

Das, was die CDU-Par­tei­spen­den­af­fä­re von Hel­mut Kohl übrig gelas­sen hat­te, wird gera­de zer­legt – so zumin­dest die Mei­nung ver­schie­de­ner Jour­na­lis­ten. Zwei Bio­gra­phien, eine über Han­ne­lo­re Kohl, eine Auto- von Wal­ter Kohl, ent­hül­len, was nie­mand für mög­lich gehal­ten hät­te: Die gan­ze schö­ne Fas­sa­de der Fami­lie Kohl war nur … äh … Fas­sa­de. ((Und wie sehr das Pri­vat­le­ben von Poli­ti­kern ihr Ver­mächt­nis trü­ben kön­nen, sieht man ja etwa an John F. Ken­ne­dy und Wil­ly Brandt.))

Die Fami­li­en­fo­tos der Kohls wei­sen eine erstaun­li­che, aber kaum über­ra­schen­de Deckungs­gleich­heit mit den Kind­heits­fo­tos mei­ner Eltern (und mut­maß­lich Mil­lio­nen ande­rer Fami­li­en­fo­tos) auf: Jungs in kur­zen Hosen, die Fami­lie am Früh­stücks­tisch, auf dem ein rot-weiß karier­tes Tisch­tuch ruht. ((Es gab damals – was nur die Wenigs­ten wis­sen – ein Tisch­de­cken-Mono­pol in Deutsch­land: Alle wur­den in der Fabrik eines geschäfts­tüch­ti­gen, aber latent wahn­sin­ni­gen Fans des 1. FC Köln pro­du­ziert. Bit­te zitie­ren Sie mich dazu nicht.)) Das alles in einer heu­te leicht ins Bräun­li­che chan­gie­ren­den Optik und obwohl die Anzahl von Gar­ten­zwer­gen objek­tiv betrach­tet auf den meis­ten Bil­dern bei Null liegt, hat man doch, sobald man nicht mehr hin­schaut, das Gefühl, min­des­tens einen Gar­ten­zwerg erblickt zu haben. ((Natür­lich ganz ordent­li­che Gar­ten­zwer­ge und nicht so ein pfif­fi­ges neu­mo­di­sches Exem­plar mit Mes­ser im Rücken oder ent­blöß­tem Geni­tal.)) Mei­ne Kind­heits­fo­tos sahen schon ein biss­chen anders aus, ver­folg­ten aber noch das glei­che Kon­zept. Auf heu­ti­gen Kin­der­fo­tos sieht man Drei­jäh­ri­ge im St.-Pauli-Trikot auf Surf­bret­tern ste­hen, Gar­ten­zwer­ge wer­den allen­falls von ihnen durch die Gegend getre­ten.

Die Gemüt­lich­keit der Bon­ner Repu­blik ist ver­schwun­den, obwohl ihre Bevöl­ke­rung immer noch da ist. Regel­mä­ßig ent­sorgt man die Kata­lo­ge von Bil­lig­mö­bel­häu­sern, die Schrank­wän­de Ver­sailler Aus­ma­ße und Patho­lo­gie-erprob­te Flie­sen­ti­sche anbie­ten, und regel­mä­ßig fragt man sich, wer außer den Aus­stat­tern von Pri­vat­fern­seh-Nach­mit­tags­re­por­ta­gen so etwas kauft. Dann klin­gelt man mal beim Nach­barn, weil die Regen­rin­ne leckt, und schon kennt man wenigs­tens einen Men­schen, der so was kauft. In Deutsch­land gibt es 40,3 Mil­lio­nen Haus­hal­te und Ikea kann nicht über­all sein. Ein Blick auf die Leser­brief­sei­te der „Bild“-Zeitung oder in die Kom­men­tar­spal­ten von Online-Medi­en beweist, dass auch die Auf­klä­rung noch nicht über­all sein kann.

Eigent­lich hat sich wenig geän­dert (oder alles, dann aber mehr­fach), aber Deutsch­land wird heu­te … Ent­schul­di­gung, ich woll­te gera­de „Deutsch­land wird heu­te von Ber­lin aus regiert“ schrei­ben, was völ­li­ger Unfug gewe­sen wäre, weil Deutsch­land nach­weis­lich nicht regiert wird. Die deut­sche Haupt­stadt ist also heu­te Ber­lin, eine Stadt, die eigent­lich gar nicht zum Rest Deutsch­lands passt: Eine Metro­po­le, von der vor allem Aus­län­der schwär­men, sie sei der Ort, an dem man jetzt sein müs­se. Gan­ze Land­stri­che in Schwa­ben und Ost­west­fa­len lie­gen ver­las­sen da, weil ihre Kin­der das Glück in der gro­ßen Stadt suchen. Von Bonn wur­de sol­ches nie berich­tet.

Am Sams­tag war ich nach rund zwan­zig Jah­ren mal wie­der in Bonn. Der ers­te Taxi­fah­rer, zu dem ich mich in Auto setz­te, konn­te nicht lesen und schrei­ben, was die Bedie­nung sei­nes Navi­ga­ti­ons­ge­räts schwie­rig mach­te. Der zwei­te muss­te sei­nen Kol­le­gen fra­gen, wo die gesuch­te Stra­ße lie­gen könn­te. Ich woll­te in eine Neu­bau­sied­lung, erstaun­lich, dass es das in Bonn gibt. Ich saß auf dem Bei­fah­rer­sitz in der freu­di­gen Erwar­tung eines Deutsch­land­bil­des vol­ler Bun­ga­lows und Gar­ten­zwer­ge, aber Bonn sah eigent­lich aus wie über­all. Für einen Moment fühl­te ich mich sehr zuhau­se.

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We don’t know why /​ But we know it’s not right

Ich muss Ihnen nicht sagen, wel­ches Datum heu­te ist. Wenn Sie in den letz­ten Tagen einen Fern­se­her ein­ge­schal­tet haben, wis­sen Sie eh, wor­um es geht.

Frank-Wal­ter Stein­mei­er woll­te mir ja erzäh­len (aus der Rei­he „Sel­te­ne Sät­ze deut­scher Spra­che“), dass „die Tage, Woche und Mona­te nach dem 11.9.“ in Deutsch­land „ein biss­chen außer Gedächt­nis gera­ten sei­en. Ich hal­te das für Quatsch. Ich weiß noch genau, dass ich mich gefragt habe, ob ich mei­nen 18. Geburts­tag zwei­ein­halb Wochen spä­ter noch erle­ben wür­de, oder ob wir bis dahin schon alle von Ter­ro­ris­ten oder ame­ri­ka­ni­schen Gegen­schlä­gen getö­tet sein wür­den (was man als 17-Jäh­ri­ger halt so denkt).

Es sind vie­le, vie­le Songs geschrie­ben wor­den über die­se Zeit (unter ande­rem das gan­ze „The Rising“-Album von Bruce Springsteen), aber am Bes­ten zusam­men­ge­fasst wird das alles in einem Song, der unwahr­schein­li­cher­wei­se von den Fun­punk­pop­pern Gold­fin­ger, Good Char­lot­te und Mest stammt und irgend­wann im Herbst 2001 im Inter­net ver­schenkt wur­de. Ver­lust, Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit und Angst (auch dar­über, was fremd aus­se­hen­den Men­schen plötz­lich blüht) sind auf eine so unmit­tel­ba­re, nai­ve Art Gegen­stand des Tex­tes, dass man acht Jah­re spä­ter fast ein biss­chen pikiert dar­über ist. Aber Pop­mu­sik ist nun mal ger­ne ein unre­flek­tier­tes Zeit­do­ku­ment und des­halb auch meis­tens per­sön­lich packen­der als ein Geschichts­buch:

Das Video ist ein biss­chen quat­schig, aber ich woll­te nicht schon wie­der bren­nen­de Tür­me zei­gen.

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Unterwegs

New York, New York

Die Freiheitsstatue vor New York

Unse­re Autorin Anni­ka fliegt in Kür­ze nach New York City. Wie schon im Janu­ar mit San Fran­cis­co habe ich auch dies­mal wie­der einen klei­nen Rei­se­füh­rer zusam­men­ge­stellt – aber weil ich nur vier Tage in New York war, gibt es dies­mal nicht drei Tei­le, son­dern nur einen, in dem dafür so ziem­lich alles abge­klap­pert wird, was man in vier Tagen machen kann. Nur der obli­ga­to­ri­sche Aus­flug auf einen der noch ste­hen­den Wol­ken­krat­zer fehlt hier – die waren mir ein­fach zu teu­er.

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Rundfunk

Wenn es passiert

Ich ver­eh­re Chris­ti­an Das­sel. Die Repor­ta­gen, die er für „Hier und heu­te“ oder die „Aktu­el­le Stun­de“ dreht, ste­chen aus dem sons­ti­gen Elend im deut­schen Fern­se­hen her­aus und besche­ren mir die weni­gen Momen­te im WDR-Fern­se­hen, in denen ich mei­ne Rund­funk­ge­büh­ren nicht für ver­schwen­det hal­te. Das­sel schafft es, ganz nor­ma­le Men­schen und all­täg­li­che Situa­tio­nen so zu por­trä­tie­ren, dass man sie als etwas ganz Beson­de­res wahr­nimmt.

Als der WDR eine neue Doku­men­tar­rei­he von Das­sel ankün­dig­te, in der er Men­schen por­trä­tiert, deren Lebens­we­ge sich mit der Welt­ge­schich­te gekreuzt haben (11. Sep­tem­ber, Mau­er­fall, Tsu­na­mi), war ich mir sicher, dass dabei Gro­ßes ent­ste­hen wür­de. Nach­dem ich Gele­gen­heit hat­te, die ers­ten bei­den Fol­gen von „Wo warst Du, als … ?“ zu sehen, bin ich ent­täuscht – aber nur ein biss­chen.

Ver­mut­lich weiß jeder noch, wo er am Nach­mit­tag des 11. Sep­tem­ber 2001 war, als er zum ers­ten Mal die Nach­rich­ten aus New York City hör­te. Sus­an Bor­chert ver­brach­te den Rest des Tages vor dem Fern­se­her. Ihr Mann Klaus arbei­te­te im World Trade Cen­ter und sie wuss­te lan­ge nicht, ob er hin­aus­ge­kom­men war.

Die Geschich­te der Bor­cherts, die von Lars Fiech­t­ner, des­sen Schwes­ter Inge­borg vier Wochen nach den Anschlä­gen an den fol­gen ihrer Ver­let­zun­gen starb, oder von Rai­ner Groß, der durch den Bör­sen­crash nach den Anschlä­gen sein Ver­mö­gen ver­lor und sich dar­auf­hin ent­schloss, einen Kauf­haus­kon­zern zu erpres­sen – sie alle sind span­nend, glei­cher­ma­ßen außer­ge­wöhn­lich wie all­täg­lich, und es gibt durch­aus genug Raum, sie neben­ein­an­der in einer hal­ben Stun­de zu erzäh­len.

Lei­der wer­den sie auf eine Art und Wei­se erzählt, die einem mit­un­ter tie­risch auf die Ner­ven geht: Schnel­le, unmo­ti­vier­te Schnit­te; ein On-Screen-Design das wirkt, als hät­ten Schü­ler mit iMo­vie „Matrix“ nach­bau­en wol­len; Rasanz sug­ge­rie­ren­de Schnurr- und Zirp­ge­räu­sche und eine gro­tesk über­dra­ma­ti­sie­ren­de Off-Spre­che­rin machen viel von der Atmo­sphä­re kaputt. Wenn man Das­sels ande­re Arbei­ten kennt, ahnt man, was man alles aus dem Roh­ma­te­ri­al hät­te her­aus­ho­len kön­nen.

In der zwei­ten Fol­ge über den Fall der Ber­li­ner Mau­er passt dann alles ein biss­chen bes­ser zusam­men: Das­sel por­trä­tiert einen Mann, der damals wegen Vor­be­rei­tung zur Repu­blik­flucht im DDR-Gefäng­nis saß; eine Frau, die ihre Toch­ter am 10. Novem­ber 1989 auf einem Ber­li­ner Geh­weg zur Welt brach­te, und einen Oberst­leut­nant der Staats­si­cher­heit, der damals am Grenz­über­gang Born­hol­mer Stra­ße Wache schob.

Er gibt heu­te ganz offen zu, 28 Jah­re sei­nes Lebens einem Unrechts­staat gedient zu haben – „mit allen mei­nen Fähig­kei­ten“ -, aber wenn er vom Befehls­va­ku­um berich­tet, das damals herrsch­te und die Grenz­sol­da­ten auf sich selbst gestellt zurück­ließ, kommt auch hier das Mensch­li­che durch. Die Bil­der der Gren­zer, die jahr­zehn­te­lang an ein Sys­tem geglaubt haben, das inner­halb weni­ger Stun­den vor ihren Augen zer­fiel, umweht dann auch eine gro­ße Tra­gik, und die Men­schen und die Geschich­te tref­fen sich auf eine ganz ande­re Wei­se als in den ande­ren Erzähl­strän­gen.

Trotz der sti­lis­ti­schen Schwä­chen sind die Doku­men­ta­tio­nen von „Wo warst Du, als … ?“ berüh­rend und beein­dru­ckend. Die in ihrer eigent­li­chen Grö­ße unbe­greif­li­chen Ereig­nis­se wer­den in den All­tag her­un­ter­ge­bro­chen und sind dadurch viel­leicht nicht ver­ständ­li­cher, aber greif­ba­rer. Es wäre schön, wenn die Rei­he (nach ein paar Kor­rek­tu­ren) fort­ge­setzt wür­de.

„Wo warst Du, als … ?“
Ers­te Fol­ge am Sonn­tag, 8. Febru­ar um 23:35 Uhr im Ers­ten, Fol­ge 2 und 3 an den dar­auf fol­gen­den Sonn­ta­gen um 23:30 Uhr.

Über­schrift: Wir Sind Hel­den

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Musik Print Digital

Tower Records

Preis­fra­ge: Was ist das?

a) Ein Plat­ten­co­ver von Wil­co.
b) Ein Foto der Mari­na City in Chi­ca­go, IL.
c) Ein Teil einer Bil­der­ga­le­rie bei „RP Online“.
d) Irgend­was mit Elf­ter Sep­tem­ber.

Sie brau­chen gar nicht lan­ge zu grü­beln oder jeman­den anru­fen: Alle vier Ant­wor­ten sind rich­tig.

Aus gege­be­nem kalen­da­ri­schen Anlass haben sich „Rhei­ni­sche Post“ und „RP Online“ des The­mas „Pop­mu­sik seit dem 11. Sep­tem­ber“ ange­nom­men. Autor Sebas­ti­an Peters beginnt bei Enyas Kata­stro­phen­be­gleit­mu­sik „Only Time“, erwähnt Songs („Let’s Roll“ von Neil Young) und Alben („The Rising“ von Bruce Springsteen), die unter den Ein­drü­cken der Ter­ror­an­schlä­ge ent­stan­den sind, und führt dann aus, dass der Pop poli­ti­scher gewor­den sei:

Die lin­ke Pop­kul­tur von Radio­head bis zu den Dixie Chicks wie­der­um hol­te zum Rund­um­schlag gegen Prä­si­dent Bush aus. Und neu­er­dings üben sich Stars von Kid Rock bis Madon­na im Plä­doy­er für Oba­ma und gegen die Repu­bli­ka­ner. Ohne Zwei­fel ist Pop­mu­sik in Ame­ri­ka nach dem 11. Sep­tem­ber poli­ti­scher gewor­den.

Nun pas­sen Radio­head und „Pop­mu­sik in Ame­ri­ka“ nicht unbe­dingt sooo gut zusam­men – noch weni­ger ver­ständ­lich ist aller­dings, wann sich Kid Rock „für Oba­ma“ aus­ge­spro­chen haben soll. Das letz­te, was der Proll­ro­cker zum The­ma Poli­tik gesagt hat, war eigent­lich die Auf­for­de­rung, dass Pro­mi­nen­te im Bezug auf Wahl­emp­feh­lun­gen die Klap­pe hal­ten soll­ten.

Peters schreibt über Pop, der „seit dem 11. Sep­tem­ber auch in Deutsch­land wie­der poli­tisch aufgeladen„sei, und belegt das wie folgt:

Auch die Sport­freun­de Stil­ler sind Stell­ver­tre­ter die­ser x‑ten „Neu­en Deut­schen Wel­le“. Ihr Lied „54, 74, 90, 2006“ sagt laut Ja zur Hei­mat, Sol­che Posi­tio­nen waren zuvor exklu­siv dem Schla­ger vor­be­hal­ten, plötz­lich lan­den sie in der Pop-Mit­te.

Jene Sport­freun­de Stil­ler, die im Jahr 2000 eine Sin­gle namens „Hei­mat­lied“ ver­öf­fent­licht haben?

Noch merk­wür­di­ger als der Text ist aber – immer­hin reden wir hier von „RP Online“ – die dazu­ge­hö­ri­ge Bil­der­ga­le­rie, in der acht Plat­ten­co­ver abge­bil­det und not­dürf­tig mit Titel und Inter­pret ver­se­hen sind (und das manch­mal auch noch feh­ler­haft).

Dort fin­det man:

  • den Sam­pler „Ame­ri­ca: A Tri­bu­te To Heroes“
  • Bruce Springsteens „The Rising“
  • „Are You Pas­sio­na­te?“ von Neil Young
  • „Riot Act“ von Pearl Jam (ver­mut­lich wegen des Songs „Bu$hleaguer“)
  • „Gold“ von Ryan Adams (ver­mut­lich, weil das Video zur Sin­gle „New York, New York“ am 7. Sep­tem­ber 2001 gedreht wur­de und das noch intak­te World Trade Cen­ter zeigt)
  • den Sam­pler „Love Songs From New York“ (kei­ne Ahnung, was das sein soll, Goog­le kennt’s nicht)
  • „Kid A“ von Radio­head
  • das oben gezeig­te „Yan­kee Hotel Fox­t­rot“ von Wil­co.

Zu mög­li­chen Par­al­le­len von „Kid A“ und den Ereig­nis­sen vom 11. Sep­tem­ber gibt es eine recht span­nen­de Abhand­lung von Chuck Klos­ter­man in sei­nem Buch „Kil­ling Yours­elf To Live“, aber das wird kaum der Grund sein, wes­halb die­ses, im Okto­ber 2000 erschie­ne­ne Album in der Bil­der­ga­le­rie auf­taucht. Immer­hin wer­den Radio­head ja im Text erwähnt, ganz anders als Wil­co.

Für deren Auf­tau­chen suche ich noch nach der rich­ti­gen Erklä­rung:

a) Weil „Yan­kee Hotel Fox­t­rot“ ursprüng­lich am 11. Sep­tem­ber 2001 ver­öf­fent­licht wer­den soll­te, was sich wegen eines Label­wech­sels aber bis April 2002 ver­zö­ger­te.
b) Weil sich auf dem Album ein Song namens „Ashes Of Ame­ri­can Flags“ befin­det, der sich aber (s. das geplan­te Ver­öf­fent­li­chungs­da­tum) nicht auf den 11. Sep­tem­ber bezieht.
c) Weil das Cover die Zwil­lings­tür­me eines Hoch­hau­ses zeigt, das – im Gegen­satz zum World Trade Cen­ter – auch heu­te noch steht.
d) Wie­so Erklä­rung? Da steht’s doch: „RP Online“.

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Unterwegs

Ground Zero, Square One

Ver­mut­lich weiß jeder Mensch, wo er war und was er tat, als am 11. Sep­tem­ber 2001 die Flug­zeu­ge ein­schlu­gen. Ich saß, gera­de aus der Schu­le gekom­men, am Küchen­tisch und aß eine Tief­kühl­piz­za, als mei­ne Mut­ter her­ein­stürm­te und sag­te, das World Trade Cen­ter ste­he in Flam­men. Den Rest des Tages ver­brach­te ich vor dem Fern­se­her und sah die Bil­der, von denen jeder sag­te, sie sei­en „wie im Kino“. Zu unvor­stell­bar waren die Ereig­nis­se und selbst die irgend­wann nach unten kor­ri­gier­ten Zah­len von knapp 3.000 Toten waren in einer Grö­ßen­ord­nung, die das eige­ne Hirn über­for­der­te.

Jetzt bin ich zum ers­ten Mal in mei­nem Leben in der „Stadt mit Loch“, Thees Uhl­mann New York im gleich­na­mi­gen Tom­te-Song nennt, und auch mit meh­re­ren Jah­ren Abstand sind die Anschlä­ge von jenem son­ni­gen Spät­som­mer­tag etwas Abs­trak­tes. Tau­sen­de Male hat man die Sze­nen von den explo­die­ren­den Flug­zeu­gen und den ein­stür­zen­den Tür­men seit­dem gese­hen, die mit Staub bedeck­ten Stra­ßen und Men­schen. Sie sind in der Zwi­schen­zeit pop­kul­tu­rel­le Iko­nen gewor­den und damit noch wei­ter ent­fernt von der Rea­li­tät eines west­deut­schen Stu­den­ten als sie es ohne­hin schon waren, als sie damals noch Nach­rich­ten­bil­der waren.

Wer das alte, voll­stän­di­ge New York nicht kann­te, merkt kaum, das etwas fehlt. Die Sky­line ist auch so noch beein­dru­ckend genug, die Stadt ist groß und laut und bunt. Von einer Melan­cho­lie oder Läh­mung, die man­che Jour­na­lis­ten auch nach Jah­ren noch zu ent­de­cken glau­ben, ist nichts zu bemer­ken. Die Stadt ist leben­di­ger als jede ande­re Stadt, in der ich bis­her war, und wer einen Moment nicht auf­passt als Fuß­gän­ger, gefähr­det sei­ne eige­ne Leben­dig­keit.

Dass etwas nicht stimmt, merkt man erst, wenn man die Fotos und Gemäl­de aus der Zeit vor den Anschlä­gen sieht, die im Bat­tery Park an der Süd­spit­ze Man­hat­tans zu Dut­zen­den an Tou­ris­ten ver­kauft wer­den sol­len. Die Twin Towers sind fast dop­pelt so hoch wie die ohne­hin schon beein­dru­cken­den Hoch­häu­ser, die man auch heu­te noch sehen kann. Ich hal­te die Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger mei­ner rech­ten Hand vor mein Auge, um zwei Tür­me in die Sky­line zu malen. Es klappt nicht: so hohe Häu­ser lie­gen außer­halb der eige­nen Vor­stel­lung, wenn man am durch­weg fla­chen Nie­der­rhein auf­ge­wach­sen ist. Beein­druckt bin ich trotz­dem.

Ich gehe nach Nor­den, in Rich­tung des Ortes, den alle immer noch „Ground Zero“ nen­nen. Plötz­lich bre­chen die engen Stra­ßen­schluch­ten auf und vor mir liegt ein son­nen­durch­flu­te­ter Platz, groß sicher­lich, aber inmit­ten von gro­ßen Häu­sern in einer so gro­ßen Stadt wirkt er gar nicht so. Selbst die Gru­be, in der bereits an den Fun­da­men­ten des neu­en „Free­dom Towers“ gear­bei­tet wird, erscheint einem auf­grund der Pro­por­tio­nen eher wie eine belie­bi­ge Bau­stel­le in einer belie­bi­gen Innen­stadt. Drum­her­um ein Metall­zaun und Schil­der, auf denen die Hafen­be­hör­de von New York bit­tet, die­sen „Ort der beson­de­ren Erin­ne­rung“ wür­de­voll zu behan­deln, hier nicht zu bet­teln und hier nichts zu kau­fen oder zu ver­kau­fen. Eini­ge Män­ner bie­ten Foto­al­ben mit aus dem Inter­net aus­ge­druck­ten Fotos der Flug­zeug­ein­schlä­ge an, lachen­de Mäd­chen las­sen sich gemein­sam vor dem Zaun und dem dahin­ter­lie­gen­den Nichts foto­gra­fie­ren. Es ist die­se Mischung aus Gedenk­stät­ten­haf­tig­keit und Tou­ris­mus, die man in Ber­lin an jeder Ecke erle­ben kann. Drum­her­um ste­hen Hoch­häu­ser, deren Fas­sa­den und Fens­ter teil­wei­se immer noch mit Staub bedeckt sind – nach all den Jah­ren. Hin­ter dem ers­ten Neu­bau steht ein Haus, des­sen hal­be Fas­sa­de fehlt. Das ist anders als alles, was man kennt.

Die U‑Bahn-Sta­ti­on „World Trade Cen­ter“ gibt es immer noch, sie heißt auch immer noch so. Im ers­ten Unter­ge­schoss kann man durch einen Zaun in das Loch gucken, das von hier aus schon sehr viel grö­ßer wirkt als von oben. Wenn man wei­ter­geht, kommt man an einem Schild vor­bei, das einem erklärt, dass die U‑Bahn-Sta­ti­on „von hier an“ noch die ori­gi­na­le Sta­ti­on des World Trade Cen­ters sei. Die Kache­lung an der Wand beginnt selt­sam zer­franst – die Bruch­kan­te zwi­schen dem, was frü­her war, und dem, was jetzt ist. Die Ereig­nis­se sind immer noch so abs­trakt wie die Zahl der Todes­op­fer, aber die­se Kacheln sind kon­kret. Ich bekom­me eine Gän­se­haut und will nur noch weg.

[geschrie­ben im Novem­ber 2006]

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Literatur

Verschwör dich gegen dich

Kommt ein BILD­blog­ger in die Buch­hand­lung und stol­pert über ein Buch mit dem Unter­ti­tel „Was 2007 nicht in der Zei­tung stand“. Er blät­tert ein wenig dar­in, denkt „Das hört sich ja ganz inter­es­sant an“, fragt sich, woher ihm der Name Ger­hard Wis­new­s­ki bekannt vor­kommt und zahlt den sym­pa­thi­schen Preis von sechs Euro.

Und damit lag „Ver­heim­licht, ver­tuscht, ver­ges­sen“ (von nun an: „VVV“) vor mir. Im Vor­wort erklärt Wis­new­s­ki die Inten­ti­on sei­nes „kri­ti­schen Jahr­buchs“:

Mein Ziel war es, bekann­te The­men noch­mals unter die Lupe zu neh­men und unbe­kann­te The­men auf­zu­de­cken, um das Geschichts­bild die­ses Jah­res ein wenig zu kor­ri­gie­ren.

Ein heh­res Ziel, wenn­gleich er einen Absatz spä­ter immer­hin ein­räumt, nicht im Besitz der abso­lu­ten Wahr­heit zu sein. Gute 300 Sei­ten spä­ter weiß der Leser, wo Wis­new­s­ki Kor­rek­tur­be­darf sieht: Es gibt kei­ne vom Men­schen ver­ur­sach­te glo­ba­le Erwär­mung, kei­ne Vogel­grip­pe und kein Aids; die Anschlä­ge des 11. Sep­tem­bers 2001 wur­den von den Ame­ri­ka­nern selbst geplant (wobei eini­ge Medi­en im Vor­feld infor­miert waren) und mit Hil­fe von Al Gore soll eine „Kli­ma­plan­wirt­schaft“, eine „Dik­ta­tur mit lächeln­dem Gesicht, aber mit eiser­nen Fes­seln“ instal­liert wer­den um die Macht der USA in der Welt wei­ter aus­zu­bau­en.

Uff! Da soll­te man sich viel­leicht erst mal noch mal anschau­en, wer die­ser „bekann­te Erfolgs­au­tor und Ent­hül­lungs­jour­na­list“ (so der Ver­lag) Ger­hard Wis­new­s­ki eigent­lich ist. Er ist Jahr­gang 1959, hat Poli­tik­wis­sen­schaf­ten stu­diert, als Jour­na­list gear­bei­tet und meh­re­re Sach­bü­cher geschrie­ben. Zum Bei­spiel „Lügen im Welt­raum“ (die Mond­lan­dung hat es so nicht gege­ben), „Das RAF-Phan­tom“ (die drit­te Gene­ra­ti­on der RAF hat es so nicht gege­ben), „Mythos 9/​11“ und „Ope­ra­ti­on 9/​11“ (den 11. Sep­tem­ber hat es so nicht gege­ben). Über den 11. Sep­tem­ber hat Wis­new­s­ki sogar einen Doku­men­tar­film für den WDR gedreht: „Akten­zei­chen 11.9. unge­löst“ wur­de vom „Spie­gel“ der­art zer­pflückt, dass der WDR anschlie­ßend eine wei­te­re Zusam­men­ar­beit mit Wis­new­s­ki und sei­nem Co-Autor aus­schloss.

Vor­sich­tig aus­ge­drückt sind Wis­newskis Theo­rien also mit Vor­sicht zu genie­ßen. Und in der Tat sind man­che Beweis­füh­run­gen so kru­de, man­che Quel­len so dubi­os und man­che hand­werk­li­chen Feh­ler so offen­sicht­lich, dass es der Glaub­wür­dig­keit des Buches erheb­lich scha­det. Das ist tra­gisch, denn in „VVV“, das die Ereig­nis­se von Okto­ber 2006 bis Sep­tem­ber 2007 behan­delt, gibt es durch­aus Kapi­tel, die lesens­wert sind. So ist zum Bei­spiel eine kur­ze Rück­schau auf die ver­schie­de­nen Bun­des­mi­nis­ter des Inne­ren in den letz­ten Jahr­zehn­ten hoch­in­ter­es­sant, weil hier ein­drucks­voll auf­ge­lis­tet wird, wie es um die Ver­fas­sungs- und Geset­zes­treue der jewei­li­gen Her­ren so bestellt war. Auch Wis­newskis Kri­tik an Wahl­au­to­ma­ten, ePäs­sen und RFID-Chips ist wei­test­ge­hend fun­diert und sinn­voll, sei­ne sta­tis­ti­schen Ver­glei­che der Gefah­ren von Vogel­grip­pe und inter­na­tio­na­lem Ter­ro­ris­mus mit denen im Stra­ßen­ver­kehr sind ange­nehm Hys­te­rie-brem­send. Eini­ge der Kapi­tel über unge­lös­te Kri­mi­nal­fäl­le laden zumin­dest zu einer nähe­ren Beschäf­ti­gung mit den Quel­len ein, sorg­ten aber auch dafür, dass ich mich nach der Lek­tü­re fühl­te wie als Vier­zehn­jäh­ri­ger nach dem „Akte X“-Gucken, als ich bei ein­ge­schal­te­tem Licht ein­schla­fen muss­te.

Wis­new­s­ki ist davon über­zeugt, dass sich die Welt­wirt­schaft unter ame­ri­ka­ni­scher Füh­rung gera­de im Zusam­men­bruch befin­det (was ich als Wirt­schafts­laie nach den Ereig­nis­sen vom Mon­tag nicht mal aus­schlie­ßen kann), ver­mu­tet hin­ter den Vogel­grip­pe-Fäl­len in Deutsch­land eine Ver­schwö­rung von Phar­ma-Indus­trie, Geflü­gel­groß­be­trie­ben und dem Fried­rich-Loeff­ler-Insti­tut und wärmt die alte Ver­schwö­rungs­theo­rie um die BBC am 11. Sep­tem­ber 2001 wie­der auf. Ihn zu wider­le­gen erscheint in den meis­ten Fäl­len unmög­lich, da es ja zum Wesen jeder bes­se­ren Ver­schwö­rungs­theo­rie gehört, dass ihre Ver­brei­ter dem Rest der Welt unter­stel­len, selbst Ver­schwö­rer oder deren Opfer zu sein. Offi­zi­el­le Quel­len gel­ten eh nicht, unab­hän­gi­ge Sach­ver­stän­di­ge sind Teil der Ver­schwö­rung und wer die „Gegen­be­wei­se“ kri­ti­siert gehört zu denen. Unter die­ser Prä­mis­se kann natür­lich kei­ne Sei­te irgend­was bewei­sen – oder es haben ein­fach bei­de Recht.

Ich tue mich schwer damit, „VVV“ pau­schal als sub­stanz­lo­se Ver­schwö­rungs­theo­rie und alber­nes Gewäsch abzu­tun, weil in dem Buch eini­ge inter­es­san­te Denk­an­sät­ze auf­tau­chen. Auf der ande­ren Sei­te steht dar­in aber auch viel Quark, der bei mir teils für Geläch­ter, teils für Wut­an­fäl­le gesorgt hat:

  • Die alber­ne RTL-Come­dy „Frei­tag­nacht­news“ lobt Wis­new­s­ki gleich an zwei Stel­len als „Sati­re­sen­dung“ bzw. die „zusam­men mit Sie­ben Tage, sie­ben Köp­fe […] ein­zi­ge Sen­dung, die man sich im Deut­schen Fern­se­hen über­haupt anse­hen konn­te“.
  • Das Kapi­tel über den unter mys­te­riö­sen Umstän­den ver­stor­be­nen Felix von Quis­torp beginnt Wis­new­s­ki mit dem Hin­weis, dass in Deutsch­land jähr­lich etwa 50.000 Kin­der als ver­misst gemel­det wer­den – um ein paar Zei­len spä­ter auf Fäl­le von ver­wahr­los­ten und miss­han­del­ten Kin­dern zu spre­chen zu kom­men und zwi­schen­durch noch Made­lei­ne McCann zu erwäh­nen, die nun kaum zu den in Deutsch­land ver­miss­ten Kin­dern zäh­len dürf­te.
  • Wis­new­s­ki will Murat Kur­naz des­sen Fol­ter­be­schrei­bun­gen nicht glau­ben, weil die­sem „selbst die Beschrei­bung schlimms­ter Fol­ter­prak­ti­ken“ „kei­ne Gefühls­re­gun­gen“ ent­lo­cke. Eine etwas dün­ne Logik, wenn man sich vor­stellt, wel­che psy­chi­schen Fol­gen sol­che Fol­ter aus­lö­sen muss.
  • Im Fall des Amok­laufs von Blacksburg zwei­felt er die offi­zi­el­le Ver­si­on mit der Begrün­dung an, es habe ja gar kei­ne Ver­bin­dung zwi­schen dem ver­meint­li­chen Täter und sei­nen Opfern gege­ben. Dabei dach­te ich immer, die­se Will­kür gehö­re zum Kon­zept des Amok.
  • Das Kapi­tel über Mark Med­lock (bzw. die Prak­ti­ken von RTL bei der tele­fo­ni­schen Abstim­mung) beginnt er mit dem Kli­schee­satz jedes Kul­tur­pes­si­mis­ten

    Das deut­sche Show­ge­schäft erreicht einen neu­en künst­le­ri­schen und ästhe­ti­schen Tief­punkt.

    um hin­zu­zu­fü­gen, Med­lock sehe „schlecht“ aus, sin­ge „schlecht“ und spre­che „schlecht“:

    Dem Wah­ren, Schö­nen, Guten setzt DSDS das Unwah­re, Häss­li­che und Schlech­te ent­ge­gen.

  • Völ­lig unre­flek­tiert zitiert Wis­new­s­ki einen Wis­sen­schaft­ler, der das „befürch­te­te Über­grei­fen der Seu­che [Aids, Anm. des Blog­gers] auf die hete­ro­se­xu­el­le Bevöl­ke­rung“ in Abre­de stellt.
  • Den Sta­tus der „Bild“-Zeitung als Hof­be­richt­erstat­te­rin im „Arbei­ter- und Mer­kel­staat“ will Wis­new­s­ki allen Erns­tes mit einer Mel­dung über die Qua­li­tät von Bil­lig-Son­nen­cremes bele­gen.
  • Zu Eva Her­man fällt ihm ein, sie sei Opfer eines bös­wil­li­gen Kom­plotts gewor­den. Ihr viel geschol­te­nes Zitat sei doch „ein­deu­tig“ gewe­sen. Dabei hat­te ich gehofft, man könn­te sich inzwi­schen wenigs­tens dar­auf eini­gen, dass das gan­ze Elen­de die­ser unse­li­gen Debat­te nur ent­stan­den ist, weil sich Frau Her­man im frei­en Vor­trag in ihren Neben­sät­zen ver­hed­dert hat­te und sich hin­ter­her zu fein war, die­se Mög­lich­keit auch nur in Betracht zu zie­hen. Wir haben gese­hen, dass man Her­mans berühm­ten Satz in zwei­er­lei Rich­tun­gen aus­le­gen kann und genau das soll­te doch wohl ein Kri­te­ri­um für Unein­deu­tig­keit sein.
  • Wis­new­s­ki macht aber zwi­schen­durch auch noch mal selbst die Her­man, wenn er die „erheb­li­chen“ Unter­schie­de im Ver­hal­ten von Jun­gen und Mäd­chen am fol­gen­den Bei­spiel bewei­sen will:

    Wäh­rend Mäd­chen im Hand­ar­beits­un­ter­richt brav sti­cken, schwei­fen Jun­gen gedank­lich ab und gucken aus dem Fens­ter.

Sol­che Bücher machen mich ganz gaga, weil ich die meis­te Zeit damit beschäf­tigt bin, mich selbst zu fra­gen, ob ich dem Autor bei die­sem oder jenem The­ma über­haupt noch zustim­men kann, wenn ich an ande­ren Stel­len nicht nur nicht sei­ner Mei­nung bin, son­dern sein Vor­ge­hen mal für falsch, mal für gefähr­lich hal­te. Natür­lich kann ich das, denn letzt­lich muss ja sowie­so jeder für sich selbst ent­schei­den, was er glaubt und was nicht. Die Quint­essenz der Lek­tü­re kann also nur lau­ten, allen Quel­len mit einer gewis­sen Grund­skep­sis zu begeg­nen. Für die­se Erkennt­nis brau­che ich aber kei­ne 300 Sei­ten Text.

Der BILD­blog­ger fand dann übri­gens zumin­dest doch noch was: Im Kapi­tel über die Haft­ent­las­sung Bri­git­te Mon­haupts zitiert Wis­new­s­ki die „sehr emp­feh­lens­wer­te, Bild-kri­ti­sche Web­site www.bildblog.de“.

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Don’t party like it’s 1999

Kürz­lich blät­ter­te ich mal wie­der in „Tris­tesse Roya­le“, dem Rea­der der deutsch­spra­chi­gen Pop­li­te­ra­tur der 1990er Jah­re, dem Zeit­do­ku­ment der ers­ten Tage der Ber­li­ner Repu­blik. Und mir wur­de klar: Wer ver­ste­hen will, wie sehr sich unse­re Gesell­schaft und unse­re Welt im letz­ten Jahr­zehnt ver­än­dert haben, der muss nur die­se Pro­to­kol­le der Gesprä­che lesen, die Joa­chim Bes­sing, Chris­ti­an Kracht, Eck­hart Nickel, Alex­an­der von Schön­burg und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re im spä­ten April des Jah­res 1999 im frisch wie­der­eröff­ne­ten Ber­li­ner Hotel „Adlon“ geführt haben.

Neh­men wir nur einen kur­zen Aus­schnitt, der eigent­lich alles sagt:

JOACHIM BESSING Gibt es denn eigent­lich über­haupt noch soge­nann­te gesell­schaft­li­che Tabus?
ALEXANDER V. SCHÖNBURG Die katho­li­sche Kir­che zu ver­tei­di­gen ist zum Bei­spiel ein moder­nes Tabu. Es ist ein All­ge­mein­platz, für die Anti­ba­by­pil­le und gegen die Fami­li­en­po­li­tik des Paps­tes zu sein. Wer heu­te, wie ich, sagt: Ich bin für den Papst und gegen die „Pil­le danach“, bricht ein gesell­schaft­lich ver­ein­bar­tes Tabu. Viel­leicht ist es auch ein ähn­li­cher Tabu­bruch, wenn eine Frau sagt: Ich gehö­re hin­ter den Herd und möch­te ger­ne mei­ne Kin­der erzie­hen. Ich möch­te gar nicht in die Drei-Wet­ter-Taft-Welt ein­tre­ten.

„Tris­tesse Roya­le“, S. 118

Lesen Sie die­se Aus­füh­run­gen ruhig mehr­mals. Und ver­su­chen Sie dann, sich vor­zu­stel­len, dass es eine Welt gab, in der „wir“ noch nicht Papst waren und in der Eva Her­man nur die Nach­rich­ten vor­ge­le­sen hat. Es war eine Welt, in der alles noch so war, wie es war, bevor nichts mehr so war, wie es zuvor gewe­sen war. Eine Welt in einem ande­ren Jahr­tau­send – aber wer heu­te aufs Gym­na­si­um kommt, war damals schon gebo­ren.

Natür­lich ist „Tris­tesse Roya­le“ kein Pro­to­koll einer tat­säch­li­chen Gesell­schaft. Die welt­män­ni­schen Posen der fünf jun­gen, kon­ser­va­ti­ven Her­ren lie­ßen sich auch damals nur schwer­lich mit der Welt­sicht der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung auf eine Line brin­gen. Aber sie pass­ten sti­lis­tisch in die Eupho­rie des Auf­bruchs. Das Buch ist des­halb eine gute Erin­ne­rung an die­se ers­ten Tage der soge­nann­ten Ber­li­ner Repu­blik, als es so aus­sah, als wür­den Ger­hard Schrö­der und die rot-grü­ne Koali­ti­on Deutsch­land allei­ne aus der Kri­se füh­ren. In gewis­ser Wei­se haben sie das getan, aber das Volk hat es ihnen nicht gedankt, weil die als gro­ße „Reform“ anmo­de­rier­te Agen­da 2010 weh tat und sie zu einem nicht uner­heb­li­chen Teil auch unso­zi­al war. Nie­mand fragt, war­um es Deutsch­land unter einer Kanz­le­rin Mer­kel, die bis­her kei­ne ein­zi­ge innen­po­li­ti­sche Ent­schei­dung grö­ße­rer Trag­wei­te getrof­fen hat, plötz­lich so gut gehen soll, wie lan­ge nicht mehr. Nie­mand ist erstaunt, wenn die SPD unter dem Pfäl­zer Ted­dy Kurt Beck plötz­lich wie­der Sozi­al­de­mo­kra­tie der 1960er Jah­re betrei­ben will. Aber alle jam­mern über die­se wahn­sin­ni­gen Teue­rungs­ra­ten und über die Gefahr, schon mor­gen auf dem Koblen­zer Markt­platz Opfer einer isla­mis­ti­schen Atom­bom­be zu wer­den.

Zwi­schen April ’99 und Okto­ber ’07 lag der 11. Sep­tem­ber 2001, der natür­lich viel ver­än­dert hat und der für zwei neue gro­ße Krie­ge auf die­sem Pla­ne­ten ver­ant­wort­lich ist. Aber ich glau­be nicht, dass die­se Ter­ror­an­schlä­ge, so schlimm sie auch waren und so vie­le danach auch noch kamen, der Haupt­grund für die­se Ver­schie­bung gesell­schaft­li­cher Vor­stel­lun­gen ist.

Zwi­schen 1999 und 2007 lag näm­lich auch und vor allem ein Jahr­tau­send­wech­sel, egal ob man den am 1. Janu­ar 2000 oder erst ein Jahr spä­ter begos­sen hat. Wenn wir uns anse­hen, wel­che Aus­wir­kun­gen schon eine schlich­te Jahr­hun­dert­wen­de gehabt hat, dann müs­sen wir erstaunt sein, dass die­ser Über­gang vom zwei­ten zum drit­ten Mill­en­ni­um häu­fig so ein­fach über­gan­gen wird: Das spä­te 19. Jahr­hun­dert hat­te das Fin de siè­cle, das Zeit­al­ter des Deka­den­tis­mus, und genau das fin­den wir auch in „Tris­tesse Roya­le“ und der Gesell­schaft die­ser spä­ten 1990er Tage wie­der. Nicht weni­ge erwar­te­ten für die Sil­ves­ter­nacht 1999/​2000 den sofor­ti­gen Welt­un­ter­gang und ent­spre­chend wur­de auch gefei­ert und gelebt. Die­ser Über­schwung hielt dies­mal aber kei­ne 14 Jah­re, bis ein Ereig­nis die Welt erschüt­ter­te, son­dern die paar Mona­te bis zum Sep­tem­ber 2001.

Als Peter Scholl-Latour am Abend des 12. Sep­tem­ber 2001 in der Talk­show von Michel Fried­man das Ende der Spaß­ge­sell­schaft pos­tu­lier­te, hin­ter­ließ das zwar kei­nen all­zu blei­ben­den Ein­druck bei der Welt­be­völ­ke­rung, aber nach so einer Ansa­ge fie­len die Cham­pa­gner­bä­der in Ber­lin-Mit­te viel­leicht doch zunächst ein biss­chen klei­ner aus. Und ehe man sich’s ver­sah, war auch auf höhe­rer Ebe­ne aus einer apo­li­ti­schen Deka­denz­ge­sell­schaft eine apo­li­ti­sche Bie­der­mei­er­ge­sell­schaft gewor­den, in der man sei­nen dun­kel­haa­ri­gen Nach­barn sofort für einen poten­ti­el­len Mas­sen­mör­der hält, weil der sich drei­mal am Tag die Hän­de wäscht und betet. Ande­rer­seits wird ein alter Kir­chen­mann von Jugend­li­chen wie ein Pop­star ver­ehrt und Fern­seh­mo­de­ra­to­rin­nen erhe­ben das Gegen­teil ihres eige­nen Lebens­we­ges zum Heils­ver­spre­chen für alle Frau­en.

Damit sind wir, auf Umwe­gen, wie­der beim Aus­gangs­zi­tat ange­kom­men. Was machen eigent­lich die­se gro­ßen Män­ner der deutsch­spra­chi­gen Deka­denz heu­te? Nun: Alex­an­der von Schön­burg war kurz­zei­tig Chef­re­dak­teur des Edel­ma­ga­zins „Park Ave­nue“ und kollum­ni­ert für „Bild“; Joa­chim Bes­sing schreibt Bücher, die auf dem „Lebenshilfe“-Tisch der Buch­hand­lun­gen neben denen von Eva Her­man lie­gen; Eck­hart Nickel und Chris­ti­an Kracht grün­de­ten die sehr inter­es­san­te, lei­der aber nicht sehr erfolg­rei­che Lite­ra­tur­zeit­schrift „Der Freund“; Kracht selbst ent­schwebt in sei­nen Repor­ta­gen in immer unzu­gäng­li­che­re Sphä­ren und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war zuletzt als Rosen­ver­käu­fer im neu­en Horst-Schläm­mer-Video zu sehen.

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Alles Elend dieser Welt

In den ver­gan­ge­nen Tagen hat die Mili­tär­jun­ta von Myan­mar, dem frü­he­ren Bur­ma, fried­li­che Pro­tes­te von bud­dhis­ti­sches Mön­chen und Zivi­lis­ten mit aller Bru­ta­li­tät nie­der­ge­schla­gen. Etwa 4.000 Mön­che sol­len in Gefäng­nis­se im Nor­den des Lan­des ver­schleppt wor­den sein, mel­det die BBC.

Es ist ein wenig über­ra­schend, dass ein Land, in dem sol­che Ver­bre­chen seit Jahr­zehn­ten an der Tages­ord­nung sind, plötz­lich doch noch in den Focus der Welt­öf­fent­lich­keit gerät. Und viel­leicht liegt es wirk­lich am Inter­net, dass sich die Welt ein Bild von dem machen kann, was in dem süd­ost­asia­ti­schen Land so vor sich geht. Zumin­dest kann man sich Bil­der­ga­le­rien wie die­se oder jene anse­hen, auch wenn das Land jetzt vom Inter­net abge­schnit­ten ist.

Für den 4. Okto­ber (also Don­ners­tag) ist im Inter­net eine Akti­on geplant, bei der Blogs, Web­sites und Web­fo­ren einen Tag lang zu allen ande­ren The­men „schwei­gen“ sol­len und so auf die Situa­ti­on in Bur­ma auf­merk­sam machen wol­len (alle Infos gibt’s hier).

Wie eigent­lich immer bei sym­bo­li­schen Aktio­nen, kommt sofort die Fra­ge auf, was das brin­gen soll. Wenn das deut­sche Volk von einer Demons­tra­ti­on gegen die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung der deut­schen Bun­des­re­gie­rung in der deut­schen Haupt­stadt Dank der Kom­pe­tenz der deut­schen Nach­rich­ten­agen­tu­ren gleich­sam nichts mit­be­kommt – wie beein­druckt wer­den dann Gene­rä­le, die auf ihr eige­nes Volk schie­ßen las­sen, davon sein, dass irgend­wel­che Blog­ger in irgend­wel­chen Län­dern einen Tag lang nichts schrei­ben? Nun: Dass sie die Mili­tär­jun­ta kaum errei­chen wer­den, wis­sen die Orga­ni­sa­to­ren wohl selbst. Aber eine sol­che Akti­on kann auch Leu­te, die sich bis­her gar nicht mit Bur­ma beschäf­tigt haben (was 95% der Welt­be­völ­ke­rung sein dürf­ten), auf das Land bzw. The­ma auf­merk­sam machen. Sie kann Hin­ter­grün­de erklä­ren, z.B. wel­che Fir­men mit den Mili­tärs so Geschäf­te machen und wel­che deut­schen Unter­neh­men in dem Land ihr Geld ver­die­nen. Vor allem kann sie nicht scha­den, denn im schlimms­ten Fall ändert sich nichts, die Gene­rä­le mor­den wei­ter wie bis­her und in 41 Jah­ren steht viel­leicht Dar­fur mal für zwei Wochen im Focus der Welt­öf­fent­lich­keit.

Das däm­lichs­te und zynischs­te Argu­ment gegen sol­che Aktio­nen aber lau­tet „Es gibt so viel Elend auf der Welt, war­um kon­zen­triert man sich aus­ge­rech­net auf Bur­ma?“. Kon­se­quent zu Ende gedacht, bräuch­te man dann auch kein ein­zi­ges Buch mehr lesen (weil man eh nicht alle Bücher lesen kann), man bräuch­te nicht mehr essen (weil Res­te übrig blei­ben könn­ten und ande­re Men­schen gar nichts zu essen haben), ja, man bräuch­te nicht ein­mal mehr leben (weil ande­re Men­schen tot sind). Men­schen, die so argu­men­tie­ren, frag­ten am Mor­gen des 12. Sep­tem­ber 2001 „Und was ist mit den Kin­dern, die in Afri­ka ver­hun­gern?“, und viel­leicht ste­hen sie sogar am offe­nen Grab ihrer Mut­ter und sagen etwas wie „Nun ja, jetzt isse tot, aber wäh­rend wir hier ste­hen, ster­ben bei einem bewaff­ne­ten Kon­flikt in Süd­ame­ri­ka vier­hun­dert Men­schen.“

Als ich Thees Uhl­mann von Tom­te das ers­te Mal inter­view­te, war weni­ge Mona­te zuvor sein guter Freund, der Musik­jour­na­list Roc­co Clein ver­stor­ben. Tom­te und ande­re Bands hat­ten ein Bene­fiz­fes­ti­val orga­ni­siert, um Geld für Roc­cos Kin­der ein­zu­spie­len. Natür­lich gab es auch damals wie­der Leu­te, die mit den ver­hun­gern­den Neger­kin­dern argu­men­tier­ten und der Mei­nung waren, dass die Halb­wai­sen eines „Pro­mi­nen­ten“ schon genug Geld zum Leben haben müss­ten. Ich frag­te Thees, was er auf die­ses Gere­de ant­wor­ten wür­de, und Thees sag­te wie so oft etwas sehr, sehr Klu­ges:

Men­schen funk­tio­nie­ren so. Sie mögen das, mit dem sie zu tun haben oder hat­ten. War­um ist einem das World Trade Cen­ter näher, als wenn irgend­wo in Ruan­da 120.000 Men­schen inner­halb von 90 Tagen abge­mor­det wer­den? Weil Ruan­da abs­trakt ist. In Ame­ri­ka war jeder schon mal. Und wenn er nicht da war, dann kennt er jeman­den, der da war. So funk­tio­nie­ren Men­schen. Und das ist schlimm oder egal oder gut, aber das ist ein­fach so.

Ich weiß noch nicht, ob ich mich an die­ser Blog­ger-Akti­on betei­li­gen wer­de. Aber ich weiß, dass ich Respekt habe vor denen, die sowas pla­nen, die sich Gedan­ken machen. Es liegt nun mal offen­bar in der Natur des Men­schen, dass er nicht an alles Elend der Welt gleich­zei­tig den­ken kann – aber wür­den wir nicht auch wahn­sin­nig, wenn wir es könn­ten? Vor zwei Wochen wuss­ten vie­le nicht, dass ein Land namens Myan­mar exis­tiert, heu­te machen sie sich für die Men­schen dort, von denen sie ver­mut­lich kei­nen ein­zi­gen je ken­nen­ler­nen wer­den, stark. Das mag man als Aktio­nis­mus sehen, aber dann dürf­te man auch bei den Advents­samm­lun­gen der Kir­chen kein Geld mehr geben und müss­te Medi­ka­men­te und Schu­len ver­bie­ten, weil sie die Chan­cen­gleich­heit („Alle haben kei­ne Chan­ce“) der Men­schen ver­zer­ren. Wer so argu­men­tiert, ver­fügt über die nöti­ge Por­ti­on Zynis­mus und Men­schen­ver­ach­tung, um einem Mili­tär­re­gime anzu­ge­hö­ren.