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Papier ist geduldig

Gestern gab es gleich zwei schlechte Nachrichten im Mediensektor: Das Stadtmagazin “Prinz” wird im Dezember zum letzten Mal als gedruckte Ausgabe erscheinen und die “Frankfurter Rundschau” meldete Insolvenz an.

Sofort ging das Geraune wieder los, Print sei tot. Wahrscheinlich konnte man auch wieder das Idiotenwort “Totholzmedien” lesen. Gerne würde ich diesen Leuten ins Gesicht schreien, dass sie Unrecht haben. Das Problem ist: Ich würde mir selbst nicht glauben. Das Problem bin ich selbst.

Das letzte Mal, dass ich ein Printerzeugnis gekauft habe, war die September/Oktober-Ausgabe der “Spex”. Davor hatte ich in diesem Jahr vielleicht fünf, sechs andere Zeitungen und Zeitschriften gekauft. Nicht, weil ich die Produkte scheiße fände, im Gegenteil, aber: Wann soll ich die denn lesen?

Vielleicht liegt es daran, dass ich von zuhause aus arbeite — mein Weg vom Frühstücks- zum Schreibtisch beträgt sieben Meter, der Gang zur Tageszeitung im Briefkasten wäre ein Umweg. Als ich im ersten Semester meines Studiums noch täglich von Dinslaken nach Bochum gependelt bin, habe ich in dieser Zeit jeden Monat “Musikexpress”, “Rolling Stone”, “Visions” und “Galore” gelesen, dazu zahlreiche Bücher und an manchen Tagen gar Zeitungen. Tatsächlich habe ich alle Zeitschriften, die ich 2012 gekauft habe, in Bahnhofskiosken erworben. Aber auf Zugfahrten kann ich auch endlich mal in Ruhe Podcasts hören oder ein Buch lesen — oder halt die ganze Zeit auf den Bildschirm meines iPhones starren.

Es ist bescheuert, Texte auf einer Fläche lesen zu wollen, die kleiner ist als mein Handteller, und wir werden vermutlich eines Tages alle dafür bezahlen. Aber es ist auch so herrlich praktisch, in der S-Bahn, im Café oder morgens noch vor dem Aufstehen im Bett zu lesen, was gerade in der Welt passiert. Ein Buch würde ich so nie lesen wollen, aber Nachrichten? Warum nicht!

Gemessen daran ist die Tageszeitung, die ich auf dem Weg zum Bäcker kaufen könnte, natürlich alt. Dass sie deshalb überflüssig sei, ist natürlich auch so ein Quatsch-Argument der Internet-Apologeten: Schon vor 30 Jahren konnte es einem passieren, dass die “Tagesschau” um 20 Uhr berichtete, was man schon im “Morgenmagazin” auf WDR 2 gehört hatte. Es geht ja nicht nur um die reine Nachricht, sondern auch um deren Aufbereitung. Und selbst wer den ganzen Tag am Internet hängt, wird nicht alles mitbekommen haben, was sich an diesem Tag ereignet hat. Andererseits ist der Nutzwert einer Zeitung, die fast ausschließlich die gleichen Agenturmeldungen bringt, die am Vortag schon auf zweitausend Internetseiten zu lesen waren, tatsächlich gering. Das gilt leider auch für eine Lokalzeitung, die ihre schönen Enthüllungen schon vorab im eigenen Webportal veröffentlicht hat.

Natürlich liest man Zeitungen ganz anders als Webseiten: Das Auge streift Meldungen, Überschriften und Fotos, nach denen man nie gesucht hätte, die einen aber dennoch ansprechen können — nicht selten zur eigenen Überraschung. Ich liebe gut gemachte Zeitungen, trotzdem lese ich sie nicht. Ich weiß auch, was gutes Essen ist, trotzdem geht nichts in der Welt über Burger, Currywurst und Pizza. Aber warum bin ich, warum sind wir Menschen so?

Es kann mir niemand erzählen, dass die Lektüre eines Textes auf einem Bildschirm (egal ob Smartphone, Tablet oder Monitor) mit der eines Buchs vergleichbar ist. Der Text ist derselbe, aber “Lektüre” ist dann offenbar doch etwas anderes als schlichtes Lesen. Schon ein Taschenbuch fühlt sich nicht so wertig an wie eine gebundene Ausgabe mit Lesebändchen, die digitale Textanzeige ist dagegen ein Witz. ((Anderseits kann eine Volltextsuche schon sehr, sehr praktisch sein.)) Aber offensichtlich gibt es Menschen, denen das an dieser Stelle dann vielbeschworene sinnliche Leseerlebnis nicht so wichtig ist. Ich würde ja auch keine 20 Euro für eine Flasche Wein bezahlen.

Mein Verhältnis zu Vinyl-Schallplatten ist eher theoretischer Natur: Ich habe nur ein paar, das meiste sind Singles, die ich aus einer Mischung von Schnäppchenjagd, Witz und Sammelleidenschaft erworben habe. ((Eine spanische Pressung von “September” von Earth, Wind And Fire? Klar! Die Originalauflage von Sandie Shaws “Puppet On A String”? Brauch ich als ESC-Fan natürlich dringend!)) Ich besitze nicht mal eine ordentliche Stereoanlage, auf der ich die Dinger abspielen könnte, weiß aber natürlich um den legendären Ruf von Vinyl. Meine Sozialisation fand mit CDs statt und ehrlich gesagt frage ich mich manchmal schon, warum anfällige Schallplatten besser sein sollen als die dann doch recht robusten Silberscheiben. Und natürlich sind CDs für mich viel wertiger als MP3s, auch wenn ich viele CDs nur einmal aus der Hülle nehme, um sie in MP3s zu verwandeln. Aber MP3s sind für mich immer noch besser als Streaming-Dienste wie Spotify: Da “habe” ich ja wenigstens noch die Datei. Bei einem Streaming-Dienst habe ich Zugang zu fast allen Tonträgern der letzten 50 Jahre, wodurch jedes Album quasi völlig wertlos wird, auch wenn ich im Monat zehn Euro dafür bezahle, alles hören zu können. Dennoch nutze ich Spotify, wenn auch eher für Klassische Musik und zum Vorhören von Alben, die ich mir dann später kaufe. Ich gucke auch DVDs auf einem Laptop, dessen Bildschirm ungefähr Din-A-4-Größe hat und dessen Auflösung höher ist als die der DVD selbst.

Schadet es also dem Produkt, wenn das Medium als weniger wertig empfunden wird? Ich finde ja. Ich habe im Internet grandiose Texte gelesen, die ich glaub ich noch besser gefunden hätte, wenn ich sie auf Papier gelesen hätte. Nur, dass ich sie auf Papier nie gelesen hätte, weil ich sie dort nie gesucht und gefunden hätte. Und weil ich zu wenig Zeit habe, noch bedrucktes Papier zu lesen, weil ich fast den ganzen Tag vor dem Internet sitze. Es ist bekloppt!

Die meisten Menschen, die ich kenne, haben kein besonderes Verhältnis zu Pferden oder Autos, sie wollen nur möglichst schnell an irgendeinem Ziel ankommen. Das Auto ist schneller als das Pferd — basta! Das war vor hundert Jahren schlecht für die Pferdezüchter und Hufschmiede, aber so ist das. Der Automobilindustrie ginge es auch noch bedeutend schlechter, wenn wir endlich alle Raketenrucksäcke hätten oder uns beamen könnten.

Die meisten Menschen wollen auch einfach nur Musik hören. Von den Arschlöchern mal ab, denen es egal ist, ob die Musiker dafür auch entsprechend entlohnt werden, ist das völlig legitim, sie brauchen keine sieben CD-Regale in der Wohnung und Deluxe-Boxsets. Ihre Umzüge sind mutmaßlich auch weniger anstrengend.

Es gibt offensichtlich Menschen, die Bücher lesen, die keine Bücher mehr sind. Auch das ist legitim und beim Umzug von Vorteil. Ich kann das nicht verstehen, aber ich kann schon nicht verstehen, wie man sich Romane aus der Bücherei ausleihen kann: Wenn mir ein Buch gefällt, will ich Stellen unterstreichen und es anschließend, als Trophäe und zum Wiederhervorholen, im Regal stehen haben.

Die meisten Menschen brauchen aber offenbar auch keine gedruckten Zeitungen und Zeitschriften mehr — außer, sie ziehen gerade um. Ich würde das gern ebenfalls merkwürdig finden. Aber ich bin ja offenbar genauso.

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Klickbefehl (24)

“Norwegen gehört zu den Ländern, in die wir eher selten einrücken.”

Niels Reise berichtet bei “Spiegel Online” von einer schwedischen Eliteeinheit, die bei einer Übung aus Versehen das falsche Haus gesprengt hat — weil in Schweden die Häuser halt alle so aussehen wie bei Astrid Lindgren. Ein Glück, dass die Soldaten nicht auch noch über die Grenze nach Norwegen getapert sind.

* * *

autumn calls for reinvention, a change of scenery. don’t hold back. cut your hair, tell her you love her, tell him you’re leaving, start a band, leave your job, switch your major, do what makes you feel good.

Mal was ganz anderes: Ein sehr poetischer Aufruf, das Beste aus dem Herbst zu machen, im sehr sympathischen Blog “You Are Remarkable”. Definitiv gut für den Karma-Haushalt!

[via Annika]

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Klickbefehl (18)

[D]as Internet, vertreten durch die, die dort anzutreffen sind, mag es nicht, wenn man es nicht mag. Es ist dann schnell beleidigt, denn es ist noch jung und nicht besonders souverän. Aber das verwächst sich sicher noch.

Peter Richter hat gestern in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” über die Zukunft des Buches geschrieben (so viel vorweg: Es gibt eine). Es ist ein kluger, mitunter sehr komischer Artikel, der gegen Ende leider ein bisschen zu sehr in Richtung der “Google ist böse!”-Linie der Verlage abrutscht.

Man sollte ihn aber trotzdem gelesen haben und das kann man bei FAZ.net jetzt tun.

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Der letzte Strohhalm könnte blühen

Blühende Strohhalme (Symbolfoto: Lukas Heinser)

In der letzten tagesaktuellen Fernsehsendung, die ich mir noch ansehe, der “Daily Show”, war am Montag der Journalist Walter Isaacson zu Gast, um über die Zukunft des Journalismus zu sprechen:

Hier klicken, um den Inhalt von media.mtvnservices.com anzuzeigen

Im Wesentlichen hat er dabei (das war ja der Aufhänger seines Auftritts) seine Titelstory aus dem aktuellen “Time”-Magazine paraphrasiert: Ein Journalismus, der sich nur auf Werbekunden verlasse, verliere erstens seine Bindung zum Rezipienten und könne zweitens in Krisenzeiten (so wie … jetzt) schnell ganz ohne Geld dastehen, so Isaacson.

Aber er hat ja schon eine Idee:

So I am hoping that this year will see the dawn of a bold, old idea that will provide yet another option that some news organizations might choose: getting paid by users for the services they provide and the journalism they produce.

Das klingt in Zeiten, in denen eine zunehmende Zahl von Zeitungen und Zeitschriften ihre Archive kostenlos ins Internet stellt und Google das Seine dazu beiträgt, zunächst einmal völlig anachronistisch.

Isaacson manövriert sich dann auch etwas in argumentativen Treibsand, wenn er angesichts einer blühenden Open-Source-Szene ausgerechnet Beispiele wie dieses anführt:

For example, when Bill Gates noticed in 1976 that hobbyists were freely sharing Altair BASIC, a code he and his colleagues had written, he sent an open letter to members of the Homebrew Computer Club telling them to stop. “One thing you do is prevent good software from being written,” he railed. “Who can afford to do professional work for nothing?”

Andererseits weiß auch ich – bei aller Sympathie für Open Source, Musik-Verschenken und ähnlichem -, dass wir alle irgendwie Geld verdienen müssen. Auch ich würde gerne irgendwann mal eine Familie ernähren können.

Und so kommt Isaacson zu einem Schluss, dem ich mir eigentlich nur anschließen kann:

We need something like digital coins or an E-ZPass digital wallet — a one-click system with a really simple interface that will permit impulse purchases of a newspaper, magazine, article, blog or video for a penny, nickel, dime or whatever the creator chooses to charge.

Isaacson denkt dabei an lächerlich erscheinende Preise (5 Cent pro Artikel, 10 Cent für eine Tagesausgabe, 2 Dollar für einen Monat), die sich aber sicher schnell ordentlich summieren würden.

iTunes und der Appstore fürs iPhone beweisen, dass Menschen durchaus bereit sind, Geld für Produkte zu zahlen — es muss nur ganz einfach funktionieren. Als Bezahlung für journalistische Arbeit (dann aber bitte gute!) wären sogenannte Micropayment-Systeme durchaus denkbar. Man müsste nur erstmal eines (er)finden, das einfach funktioniert und universell einsetzbar ist.

Die nächsten Schritte wären klar: Wenn jeder Geld zahlen und empfangen könnte, könnten Nachwuchsbands virtuelle Hüte auf ihrer MySpace-Seite aufstellen, wir könnten Bloggern ein paar Cent zustecken, wenn uns ihre Artikel gefallen haben, oder dem Fotografen unseres Desktop-Hintergrundbildes eine kleine finanzielle Aufmerksamkeit zukommen lassen.

Und wir könnten noch weiter gehen: Statt Rundfunkgebühren über eine kafkaeske Behörde einziehen zu lassen, könnten sich die öffentlich-rechtlichen Sender direkt entlohnen lassen. Niemand, den es nicht interessiert, müsste noch die vielzitierten Volksmusik-Sendungen subventionieren. Das Geld könnte direkt in die einzelnen Redaktionen fließen und mein Geld würde zu null Prozent in Eins-Live-Comedy gesteckt, aber an die Macher des “Zeitzeichens” gehen.

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Digital

Father And Son (ca. 2020)

– “Papa, Papa!”
– “Ja, mein Sohn?”
– “Ich hab gerade in der Encyclopedia Blogia gescrollt …”
– “Oh.”
– “Was ist dieses ‘Spiegel Online’, von dem 2008 so viele Leute geschrieben haben?”
– “Das war damals ein großes Online-Magazin. Erst gab es über viele Jahrzehnte ein angesehenes Printmagazin …”
– “Tote Bäume?”
– “Genau. Das hatte lange einen guten Ruf. Dann hatte es irgendwann einen unfassbar schlechten Ruf – aber nicht beim einfachen Volk. Das hat sowohl die Print- als auch die Online-Version geliebt. ‘Spiegel Online’ war das meistgelesene Online-Medium zu dieser Zeit.”
– “So wie ‘Coffee And TV’ heute?”
– (lacht) “Ja, so ungefähr. Die Leute haben alles geglaubt, was bei ‘Spiegel Online’ stand. Nur die Medienkritiker …”
– “Leute wie Du, Onkel Niggi und Onkel Knüwi?”
– “Solche Leute, genau. Wir haben ‘Spiegel Online’ kritisiert für schlechte Recherche, einseitige Berichterstattung und deren Klick…”
– “Die haben noch Klickhurerei gemacht?!”
– “Wo hast Du denn das Wort schon wieder gelernt?”
– (lacht)
– (grummelt) “Jedenfalls: ja, haben sie.”
– “Oh Mann, wie peinlich!”
– “Du musst wissen: damals galten page impressions noch als heiliger Gral im Internet.”
– (lacht)
– “Na ja, das waren jedenfalls ‘Spiegel’ und ‘Spiegel Online’. 2008 müsste das Jahr gewesen sein, in dem sie gefragt haben, ob das Internet doof macht, und über Twitterer und Blogger gelästert haben.”
– “Aber warum das denn?”
– “Zum einen, weil sie Angst davor hatten – zu Recht, wie wir heute wissen – zum anderen, weil sie sichergehen konnten, dass fast alle Blogger und Twitterer darüber schreiben würden. Und wenn alle über den ‘Spiegel’ schreiben, sieht es noch ein bisschen länger so aus, als sei der ‘Spiegel’ relevant.”
– “Hmmmm. Aber eins versteh ich nicht …”
– “Ja?”
– “Warum haben denn immer alle Blogger und Twitterer darüber geschrieben? Konnte denen das nicht egal sein?”
– “Ja sicher, eigentlich schon.”
– “Oma hat mir mal erzählt, wie sie vor vielen Jahren mit anderen Leuten ein Atu … Autom …”
– “Atomkraftwerk?”
– “Ich glaube ja. Wie sie sowas verhindert haben. Denen war immer egal, was die anderen gedacht, gesagt und in der Zeitung geschrieben haben.”
– “Tja. Die waren damals viel an der frischen Luft um zu demonstrieren, Sauerstoff beruhigt. Wir saßen schlecht gelaunt in unseren Büros und haben uns dann halt aufgeregt. Ab 2009 hat aber keiner – oder kaum noch einer – auf den ‘Spiegel’ reagiert, so dass sie 2010 aufgeben mussten.”
– “2010? Noch vor Zoomer?!”
– “Ja, das ging damals ganz schnell.”
– “Und was ist aus den ganzen Leuten geworden, die da gearbeitet haben?”
– “Das war das lustigste: Als ‘Spiegel Online’ zugemacht hat, kam raus, dass da nur drei verwirrte alte Männer gearbeitet haben: ein Taxifahrer, ein Drogenabhängiger und ein Mann, dem ein wahnsinniger Wissenschaftler ein Brötchen anstelle seines Gehirns eingepflanzt hatte. Alles andere kam aus Computern.”
– “Gruselig.”
– “Ja. Aber nur halb so gruselig wie deren Texte.”
– “Papa?”
– “Ja?”
– “Können wir noch ein bisschen Hologramme gucken?”
– “Was willste denn sehen?”
– “Den Film mit dem Zeitungsmann, der stirbt. Mit dem Schlitten. Das ist sooooo lustig!”

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Gesellschaft Musik

Die Vergangenheit der Musikindustrie

Die wenigsten Jugendlichen, die heute Musik hören (und das sind laut neuesten Umfragen 98% der Europäer), werden wissen, welches Jubiläum dieser Tage begangen wird: Vor 25 Jahren schloss SonyUniversal, die letzte Plattenfirma der Welt, ihre Pforten. Ein Rückblick.

Es war ein wichtiger Tag für Deutschland, als der Bundestag der Musikindustrie im Jahr 2009 das Recht einräumte, sogenannte “Terrorkopierer” (die Älteren werden sich vielleicht auch noch an den archaischen Begriff “Raubkopierer” erinnern) selbst zu verfolgen und bestrafen. Als unmittelbare Folge mussten neue Gefängnisse gebaut werden, da die alten staatlichen Zuchthäuser dem Ansturm neuer Insassen nicht Herr werden konnten. Dies war die Geburtsstunde der Prisonia AG, dem Konsortium von Bau- und Musikindustrie und heute wichtigstem Unternehmen im EuAX. Die Wiedereinführung der Todesstrafe scheiterte im Jahr darauf nur am Veto von Bundespräsident Fischer – die große Koalition aus FDP, Linkspartei und Grünen hatte das Gesetz gegen die Stimmen der Piratenpartei, damals einzige Oppositionspartei im Bundestag, verabschiedet.

Im Jahr 2011 fuhr der frisch fusionierte Major WarnerEMI den höchsten Gewinn ein, den je ein Unterhaltungskonzern erwirtschaftet hatte. Kritiker wiesen schon damals darauf hin, dass dies vor allem auf die völlige Abschaffung von Steuern für die Musikindustrie und die Tatsache zurückzuführen sei, dass die sogenannten “Klingeltöne”, kleine Musikfragmente auf den damals so beliebten “Mobiltelefonen”, für jede Wiedergabe extra bezahlt werden mussten – eine Praxis, die WarnerEMI zwei Jahre später auch für seine MP5-Dateien einführte.

Die Anzeichen für einen Stimmungsumschwung verdichteten sich, wurden aber von den Unternehmen ignoriert: Der erfolgreichste Solo-Künstler jener Tage, Justin Timberlake, veröffentlichte seine Alben ab 2010 ausschließlich als kostenlose Downloads im Internet und als Deluxe-Vinyl-Versionen im “Apple Retro Store”. Heute fast vergessene Musiker wie Madonna, Robbie Williams oder die Band Coldplay folgten seinem Vorbild. Hohn und Spott gab es in allen Medien für den damaligen CEO von WarnerEMI, als der in einem Interview mit dem Blog “FAZ.net” hatte zugeben müssen, die Beatles nicht zu kennen.

Diese öffentliche Häme führte zu einem umfassenden Presseboykott der Musikkonzerne. Renommierte Musikmagazine in Deutschland und der ganzen Welt mussten schließen, Musikjournalisten, die nicht wie die Redakteure des deutschen “Rolling Stone” direkt in Rente – wie man es damals nannte – gehen konnten, gründeten eine Bürgerrechtsbewegung, die schnell verboten wurde. Die Lunte aber war entfacht.

Im Herbst 2012 kündigte Prof. Dieter Gorny, damals Vorsitzender der “Konsum-Agentur für Runde Tonträger, Elektrische Lieder und Lichtspiele” (K.A.R.T.E.L.L.), seine Kanzlerkandidatur an, worüber der damalige Bundeskanzler Guido Westerwelle alles andere als erfreut war. Er setzte neue Kommissionen für Medien- und Kulturindustrie ein und kündigte eine mögliche Zerschlagung der Musikkonzerne an. Diese fusionierten daraufhin in einer “freundlichen feindlichen Übernahme” am Europäischen Kartellamt vorbei zum Konzern SonyUniversalEMI und drohten mit einer Abwanderung in die Mongolei und damit dem Verlust der restlichen 300 Arbeitsplätze.

Aber weder Kanzler Westerwelle noch das deutsche Volk ließen sich erpressen: Zum 1. Januar 2013 musste MTViva den Sendebetrieb einstellen. Die neugegründete Bundesmedienaufsicht unter Führung des parteilosen Stefan Niggemeier hatte dem Fernsehsender, der als sogenannter Musikkanal galt, die Sendelizenz entzogen, da dieser weniger als die gesetzlich geforderten drei Musikvideos täglich gespielt hatte. Die Castingshow “Europa sucht den Superstar” erwies sich für SonyUniversalEMI als überraschender Mega-Flop, der Wert des Unternehmens brach um ein Drittel ein, das “EMI” verschwand aus dem Namen.

Im Berliner Untergrund gründete sich die Deutsche (heute: Europäische) Musicantengilde. Deren heutiger Ehrenvorsitzende Thees Uhlmann erinnert sich: “Es war ja damals schon so, dass die kleinen Bands ihr Geld ausschließlich über Konzerte machen konnten, die ja dann auch noch verboten werden sollten. Erst haben wir unsere CDs ja selbst rausgebracht, aber als die Musikkonzerne dann die Herstellung von CDs außerhalb ihrer Fabriken unter Strafe stellen ließen, mussten wir auf Kassetten ausweichen.” Heute kaum vorstellbar: Das Magnetband galt damals als so gut wie ausgestorben, nur die kleine Manufaktur “Telefunken” produzierte überhaupt noch Abspielgeräte, die entsprechend heiß begehrt waren.

Am 29. November 2013, heute vor 25 Jahren, war es dann soweit: Der Volkszorn entlud sich vor der SonyUniversal-Zentrale am Berliner Reichstagsufer. Das Medienmagazin “Coffee & TV” hatte kurz zuvor aufgedeckt, dass die Musikindustrie jahrelang hochrangige Mitarbeiter gedeckt hatte, die durch “Terrorkopieren” aufgefallen waren. Während der normale Bürger für solche Verbrechen bis zu sechs Jahre ins Gefängnis musste, waren die Manager und Promoter straffrei ausgegangen. Als nun die Mutter des dreijährigen Timmie zu einem halben Jahr Arbeitsdienst verurteilt werden sollte, weil sie ihrem Sohn ein Schlaflied vorgesungen hatte, ohne die dafür fälligen Lizenzgebühren von 1.800 Euro zahlen zu können, zogen die Bürger mit Fackeln und selbst gebastelten Galgen zum “Dieter-Bohlen-Haus” am Spreebogen.

Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder, dann zog der Mob unter den Augen von Feuerwehr und Polizei weiter zur Zentrale der “GEMA” am Kurfürstendamm (der heutigen Toyota-Allee). Wie durch ein Wunder wurde an diesem Tag niemand ernstlich verletzt. Die meisten Führer der Musikindustrie konnten ins nordkoreanische Exil fliehen, den “kleinen Fischen” wurde Straffreiheit zugesichert, wenn sie ein Berufsverbot akzeptierten und einer dreijährigen Therapie zustimmten.

Drei Tage später fand im Berliner Tiergarten ein großes Konzert statt, die erste öffentliche Musikaufführung in Europa seit vier Jahren. Die Kilians, heute Rocklegenden, damals noch junge Männer, spielten vor zwei Millionen Zuhörern, während die Bilder von gestürzten Dieter-Gorny-Statuen um die Welt gingen.

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Gesellschaft

Ohne Telefon geht’s schon

Gestern stand ich in einer vollbesetzten U-Bahn (ich wäre ja auch schön blöd, wenn ich in einer leeren U-Bahn stünde) und war dort gezwungen, in einem Maße am Privatleben eines mir völlig unbekannten Menschen teilzunehmen, dass es mir unangenehm war. Er sei kürzlich umgezogen, erfuhr ich, aber die ganzen Klamotten stünden noch im Wohnzimmer, das auch noch nicht tapeziert sei, aber das komme noch alles. Er wisse noch nicht, was er an Silvester mache, Meike und Kai hätten vorgeschlagen, ein Ferienhaus irgendwo an der Ostsee zu mieten und da “mit alle Mann” hinzufahren, aber er sei sich noch nicht sicher, ob die beiden das wirklich organisieren würden und ob er wirklich mitwolle. Jetzt müsse er aber eh erst mal die Zutaten für ein ordentliches Pilzrisotto kaufen, denn gleich bekäme er noch Besuch.

Der junge Mann erzählte diese Sachen nicht mir, er erzählte sie seinem Mobiltelefon – und damit dem gesamten Zug. Wer derart öffentlich lebt, macht sich natürlich keine Gedanken, wenn der Staat seine Telekommunikationsaktivitäten protokollieren lassen und seinen Computer durchsuchen will, dachte ich. Und dann: Telefonieren ist das neue Rauchen.

Diese steile These liegt weniger darin begründet, dass wohl beides ziemliche Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann, sondern ist historisch belegbar: Zigaretten waren einst ein Statussymbol, eine Requisite von Luxus und Dekadenz. Irgendwann rauchte dann jeder Müllmann und obwohl Rauchen noch lange gesellschaftlich geachtet war, war der Anschein des luxuriösen schnell verschwunden. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die ersten Ärzte und Rechtsanwälte, die C-Netz-Autotelefone in ihren S-Klassen spazieren fuhren. Mir sind Menschen bekannt, die sich auf dem Parkplatz ihres Golfclubs zu ihren Freunden, die solche Autotelefone besaßen, ins Auto setzten und ihren eigenen Anrufbeantworter anriefen und besprachen, nur damit sie mal mit so einem “verrückten neuen Gerät” telefoniert hatten. (Ähnliches ist vielleicht heute wieder bei diesen unsäglichen iPhones zu beobachten.) Irgendwann aber hatte fast jeder so ein “Handy”, gerade von sozial schwächeren Personen heißt es häufiger, dass sie im Besitz gleich mehrerer Mobiltelefone seien. Im vergangenen Jahr war erstmals der Punkt erreicht, wo jeder Mensch in meinem Bekanntenkreis inklusive meiner Großeltern über ein Mobiltelefon verfügte. Inzwischen habe ich tatsächlich wieder Menschen ohne ein solches Gerät kennengelernt und die ersten Freunde haben (noch Telefonlose) Kinder bekommen, so dass die Quote wieder leicht unter hundert Prozent gesunken ist.

Analog zu den Nichtraucherabteilen in Zügen und -zonen in Restaurants gibt es bereits “Ruhewagen” in den ICEs der Deutschen Bahn, in denen das Telefonieren unerwünscht ist, und man hat bereits von “handyfreien” Gaststätten gehört. An vielen Schulen wurden Zigaretten und Mobiltelefone gar gleichzeitig verboten.

Ich erkenne darin eine eindeutige Tendenz, die über kurz oder lang dazu führen wird, dass dem mobilen Telefonieren überall und zu jeder Zeit eines Tages eine ähnliche Opposition gegenüberstehen wird, wie es sie heute bereits bei den militanten Nichtrauchern gibt. Noch wird lediglich getuschelt, wenn in einem Kunstmuseum ein peinlicher polyphoner Klingelton die Stille durchbricht und sich eine Mittfünfzigerin hektisch mit den Worten “Ja, wir sind schon oben. Kommt Ihr nach?” meldet. Aber noch werden auch Raucher noch nicht überall gesellschaftlich ausgegrenzt. Ich bin zuversichtlich, noch den Tag zu erleben, an dem die Staats- und Regierungschefs dieser Welt den “Vertrag zur Ächtung von Mobiltelefonen im öffentlichen Raum” unterzeichnen.

Ich bin übrigens seit dreieinhalb Jahren im Besitz eines Siemens ME45, das früher einem Freund gehörte, und habe die Prepaid-Nummer eines Verwandten übernommen. Mal davon ab, dass die Akku-Leistung langsam nachlässt, bin ich mit dieser Lösung recht zufrieden.