Kategorien
Literatur

Buchstabensuppe

Public Library, New York, NY

Morgen geht die Frankfurter Buchmesse wieder los, was man schon daran merkt, dass die Sonderbeilagen der großen Zeitungen so dick sind wie die Samstagsausgaben der kleinen Zeitungen. Die Kulturjournalisten der Fernsehanstalten haben ihre obskuren Sitzmöbel, auf denen sie namhafte Schriftsteller und Susanne Fröhlich zu befragen gedenken, sicher längst in Stellung gebracht. An den Publikumstagen werden sich unendlich lange Schlangen bilden und für ein paar Tage stehen auch mal diejenigen im Mittelpunkt, an denen man in der Fußgängerzone einfach vorbeigehen würde: die Autoren.

Schon stellt sich wieder die Frage, wer das denn bitteschön alles lesen solle. Die Antwort ist einfach, zumindest wenn es nach Pierre Bayard geht: niemand. Der französische Literaturprofessor hat ein Buch geschrieben, das es sich zu lesen lohnt: “Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat”. Der Titel ist etwas sperrig, hat aber andererseits den Vorteil, ziemlich genau zusammenzufassen, worum es in dem Buch geht.

Ich glaube ja sowieso, dass die wenigsten Bücher, die gekauft werden, auch gelesen werden. Das gilt insbesondere für Bestseller. Und ganz besonders für die Bücher von Bastian Sick. Bayard plädiert deshalb für einen entspannteren Umgang mit nicht gelesenen Büchern: Ob auf Cocktailparties oder in der Universität, überall wird man in Gespräche über Bücher verwickelt, die man oft genug nicht gelesen hat. Da jeder aber andere Informationen aus einer Lektüre mitnehme und man vieles, das man gelesen habe, eh wieder vergesse, hält Bayard es für relativ egal, ob man das diskutierte Buch überhaupt gelesen hat oder nicht. Im Gegenteil: Besonders angeregte Gespräche finden seines Erachtens nicht selten zwischen Personen statt, die den Gesprächsgegenstand beide nicht kennen.

Anhand von unterhaltsamen Anekdoten aus verschiedenen Romanen, von denen Bayard in den Fußnoten meist zugibt, sie selbst nicht gelesen zu haben, erstellt er eine Art “Geschichte des Nichtlesens” und gibt so zumindest indirekt Tipps, wie man auch ahnungslos bestehen kann. Er ermutigt seine Leser aber auch dazu, offen zu ihren Bildungslücken zu stehen.

Als Literaturwissenschaftler müsste man dieses Buch eigentlich hassen: Zum einen deckt es brutal auf, dass wir die wenigsten Bücher, über die wir sprechen und schreiben, überhaupt (vollständig) gelesen haben, zum anderen ermutigt es auch noch Andere zum gleichen Verhalten. Andererseits: Was spricht dagegen, sich mithilfe von Sparksnotes oder der Wikipedia einen Überblick über Bücher zu verschaffen, die man eh nie lesen wird? Man erlaubt sich ja auch Urteile über Filme, von denen man nur den Trailer gesehen hat, oder beurteilt ein Album nach seiner Single.

Lassen Sie es mich also so ausdrücken: Die Lektüre von Bayards Buch lohnt in jedem Falle (die vieler anderer Bücher im Übrigen auch). Es spricht wenig dagegen, in Gesprächen über Bücher, die man nicht gelesen hat, heftig zu nicken und die zwei Informationen, die man darüber kennt, einzustreuen. Vielleicht ist das Gespräch ja so erhellend, dass man das Buch hinterher doch noch liest. Wohl sollte man aber besser nicht von sich aus das Gespräch auf Bücher lenken, von denen man keine Ahnung hat. Das könnte doch schnell peinlich werden.

Kategorien
Gesellschaft

Nichts Wissen macht nichts

Als im Frühjahr 2000 die erste “Big Brother”-Staffel in Deutschland lief (die seltsamerweise nicht zum erwarteten Untergang des Abendlandes führte), geisterte für kurze Zeit eine Meldung durch die Medien, die auch die Menschen erreichte, die “Big Brother” nie gesehen hatten: Der Kandidat Zlatko Trpkovski1 hatte nicht gewusst, wer William Shakespeare war. Ich erinnere mich daran, wie meine Familie sich beim Osterkaffeetrinken darüber echauffierte: dass man sowas nicht wisse, sei doch “beschämend”. Leider war ich nicht schlagfertig oder Willens genug, die derart erhitzten Gralshüter der Kultur zu einem Kurzreferat über den britischen Dichterfürsten aufzufordern (“Nur die wichtigsten Lebensdaten und Werke – und sag nicht ‘Romeo und Julia’ und ‘Hamlet’!”) – ich bin mir sicher, es wäre “beschämend” geworden.

Das Argument, mit dem die Kritiker von einem Automechaniker basale Literaturkenntnisse einfordern wollten, ist das gleiche, mit dem man in Abiturprüfungen angehende Bankkaufleute zur Photosynthese befragt, Theologen zur Stochastik und Mediziner zum Expressionismus: “Allgemeinbildung”.

Nun ist gegen eine ordentliche Allgemeinbildung an sich nichts einzuwenden: Es ist auch für Automechaniker, Techniker des Kampfmittelräumdienstes und Supermarktkassiererinnen nicht völlig ausgeschlossen, dass sie mal in Situationen geraten, in denen es von Vorteil sein kann, Wissen über den Dreißigjährigen Krieg, die Theorien eines Adam Smith oder die Filme Jean-Luc Godards einzustreuen. Allerdings wird ihnen in 85% der Fälle Günter Jauch oder einer seiner Klone gegenübersitzen und sie um die Antwort “A”, “B”, “C” oder “D” bitten – oder ein potentieller Chef, der sich gezwungen sieht, die Anzahl der Stellenbewerber massiv zu dezimieren. Man stelle sich im Gegenzug mal den Aufschrei vor, der durchs Land ginge, wenn ein Bibliothekar im Vorstellungsgespräch gefragt würde, ob er denn auch ein bisschen Ahnung von Starkstromelektrik hätte.

Allgemeinbildung um der Allgemeinbildung Willen hilft niemandem. Ob einem zum Namen William Shakespeare jetzt “Romeo und Julia” und “Hamlet” einfallen oder gar nichts, macht eigentlich keinen Unterschied. Wer sein Abitur macht, kann in der Prüfung vielleicht die wichtigsten Daten des ersten Weltkriegs runterrattern, aber was außer einer ausreichenden Geschichtsnote hat er davon, wenn er mit diesen Daten nichts verbindet und sie spätestens beim Begießen des Abischnitts wieder vergessen hat?

1999 veröffentlichte Dietrich Schwanitz sein Buch “Bildung – Alles, was man wissen muss”, das sofort ein Bestseller wurde. Auch wenn der Untertitel ironisch gemeint war, durchweht das Buch doch eine oberlehrerhafte Einstellung und ein mitunter bedrohlicher Hang zur Verknappung. Wer sich bewusst einen Überblick über Philosophie, Geschichte und Literatur verschaffen kann, kann natürlich ebenso beruhigt zu Schwanitz greifen wie ein oberflächlich naturwissenschaftlich interessierter Leser zu Bill Bryson oder jeder andere zur Wikipedia. Wen aber nichts dergleichen interessiert, der wird auch mit noch so guten “Einführungen” nichts anzufangen wissen.

Das “Recht auf Bildung” ist keine Pflicht. Zwar erleichtert es die Einordnung gesellschaftlicher Vorgänge, wenn man mit den Gedanken von Kant, Hobbes oder Lessing vertraut ist, die bloße Nennung von kategorischem Imperativ, “Leviathan” und “Nathan der Weise” hingegen ist nicht sonderlich hilfreich. Aber Halbwissen ist mittlerweile nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern wird geradezu gefordert2. Fast jeder Radiosender hat Call-in-Sendungen, in denen die Hörer erzählen sollen, was sie von Mafiamorden in Deutschland oder der globalen Erwärmung halten. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass immer wieder Menschen mit nur unzureichender Kenntnis der Sachlage von diversen Medien als “Experte” in die Öffentlichkeit gezerrt werden und sich dort den Ruf ruinieren.

1 Ich wusste ohne Nachzuschlagen, wie man diesen Namen schreibt.
2 Sprechen Sie eine beliebige Person auf die Themen “Globalisierung”, “Islam” oder “Online-Durchsuchung” an und rennen Sie schreiend weg!