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Musik

Ich erinner‘ mich an alles

Alles hat­te mit Tom Liwa ange­fan­gen. Auf mei­nem ers­ten Fes­ti­val, Hald­ern 2000. Zwi­schen all den rocken­den Bands (also: soweit man in Hald­ern von „rocken“ spre­chen kann, es war irgend­wann zwi­schen Soul­wax, Embrace, K’s Choice und Paul Wel­ler) stand da ein Mann auf der Büh­ne, der zur Akus­tik­gi­tar­re irgend­wel­che deut­schen Tex­te näsel­te, in denen For­mu­lie­run­gen wie „jetzt darfst Du mich anfas­sen“ und „der Mit­tel­strei­fen wird nie­mals für uns bei­de rei­chen“ vor­ka­men. Mein bes­ter Freund und ich fanden’s doof – aus Prin­zip. Aber der Mann brauch­te kei­ne vier­zig Minu­ten, um uns durch die Emo­tio­nen „Ableh­nung“, „Mit­leid“, „Respekt“ und „Bewun­de­rung“ zu schi­cken. Anschlie­ßend baten wir höf­lich um Auto­gram­me und waren Fans.

Das ers­te Kon­zert, für das wir uns allei­ne mit der Bahn von Dins­la­ken aus auf den Weg in die gro­ße wei­te Welt mach­ten, war Tom Liwa im Bahn­hof Lan­gen­d­re­er (auf der Rück­fahrt ereig­ne­te sich die­se Epi­so­de). Obwohl wir mit 17 noch nicht die vol­le Dimen­si­on der Liwa’schen Tex­te erfas­sen konn­ten, waren Zei­len wie „Du bist ein selt­sa­mes, selt­sa­mes Mäd­chen“ oder „Es gab eine Zeit, da waren wir alle ver­liebt in Dich – auch ich“ natür­lich auch damals schon greif­bar. Liwa brach­te mir deutsch­spra­chi­ge Musik nahe, lan­ge bevor ich kett­car oder Tom­te kann­te.

Inner­halb von 13 Mona­ten sah ich Tom Liwa fünf Mal live, davon ein­mal auf dem Kir­chen­tag in Frank­furt, wo er zuvor bei einer Podi­ums­dis­kus­si­on irgend­ein Mit­glied der Söh­ne Mann­heims … nun ja: gedisst hat­te. Der bis­her letz­te Kon­zert­be­such war am 13. Sep­tem­ber 2001 in Wesel: Die gan­ze Welt war durch­ein­an­der und Tom Liwa stand auf der Büh­ne des Karo und bret­ter­te mit sei­ner Post-Punk-Band No Exis­te durch sein sonst so fili­gra­nes Werk. Alles war sur­re­al, aber es pass­te. Auf dem Heim­weg fühl­ten wir uns ein Stück weit siche­rer.

Dann dif­fun­dier­te Liwas Werk ins Eso­te­ri­sche: Er nahm Plat­ten auf, die mir gar nichts gaben, bot irgend­wel­che Semi­na­re an, über deren Inhalt und Sinn ich nicht urtei­len kann, und refor­mier­te die Flower­porn­oes für ein auch eher außer­ge­wöhn­lich zu nen­nen­des Album. Im ver­gan­ge­nen Jahr dann „Eine Lie­be aus­schließ­lich“: Tom Liwa wie­der völ­lig redu­ziert und ganz bei sich, dazu je ein Cover von Dylan und Snow Pat­rol.

Und jetzt: Tom Liwa, Bahn­hof Lan­gen­d­re­er. (Almost) ten years after. Die anfäng­li­che Angst, dass man da allei­ne sit­zen wür­de, ver­fliegt schnell. Neben­an tritt Johann König auf – auch nicht schön, aber so sind sie, unse­re Kul­tur­zen­tren: Ein Spie­gel der Gesell­schaft und ihres Geschmacks. Liwa eröff­net mit „I’ll Keep It With Mine“ auf der Uku­le­le und Bob Dylan ist ein gutes Stich­wort: Ein Grea­test-Hits-Pro­gramm wer­de er spie­len, sagt Liwa, „was ein biss­chen schwie­rig ist, weil ich ja nie Hits hat­te“. Aber was er spielt, ist genau das, was ich hören will, und was mich tat­säch­lich um zehn Jah­re zurück­wirft.

Nach einer Dylan-mäßig dekon­stru­ier­ten Fas­sung von „Für die lin­ke Spur zu lang­sam“ (Wie jetzt, „nie Hits“?!) fol­gen vie­le Sachen von den ers­ten bei­den Solo­al­ben, Neil Young, Joni Mit­chell und so ziem­lich das Schöns­te aus Flower­porn­oes-Zei­ten („Nicht müde genug“, „Eng in mei­nem Leben“, „Herz aus Stein“, „Respekt“). Tom Liwa ist blen­dend auf­ge­legt, er hat pri­vat ordent­lich was durch­ge­macht, wie er andeu­tet, aber alles über­wun­den. Nach Elliott Smith, Vic Ches­nutt und Mark Lin­kous tut es gut, einen Musi­ker zu sehen, dem es offen­sicht­lich gut geht. Sei­ne Ansa­gen las­sen den neben­an auf­tre­ten­den Come­di­an alt aus­se­hen. Und dann zwei Stun­den lang die­se Songs in einer Atmo­sphä­re, in der man Steck­na­deln Han­dys fal­len hören kann …

Man kann und will das nicht glau­ben, dass es schon fast eine gan­ze Deka­de her sein soll, als man in sei­nem Jugend­zim­mer saß, „St. Amour“ ins CD-Lauf­werk des PCs ein­leg­te und sich der Melan­cho­lie von Songs hin­gab, die sich einem zum gro­ßen Teil erst jetzt erschlie­ßen. Wenn grad nicht Tom Liwa lief, lie­fen die Smas­hing Pump­kins, an die­sen dunk­len, nas­sen Herbst­aben­den, die im Rück­blick gan­ze Jah­re füll­ten. Bil­ly Cor­gan schreibt heu­te Songs mit Jes­si­ca Simpson, Tom Liwa ist immer noch da. Und er ist so gut wie eh und je.

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Musik

Listenpanik: Reste 2009

Das Jahr ist bald zu Ende, Mar­kus hat sei­ne Bes­ten­lis­te schon raus­ge­hau­en, aber ich muss ja für nächs­te Woche erst mal das Jahr 2008 abfrüh­stü­cken, ehe ich mich dop­pelt und drei­fach dem Rück­blick auf das aktu­el­le Jahr wid­men kann.

Vor­her sol­len aber schon die Alben und Songs genannt wer­den, die die­ses Jahr für mich mit­be­stimmt haben, aber bis­her auf kei­ner Lis­ten­pa­nik-Lis­te genannt sind. Dass ich immer noch jede Men­ge über­se­hen habe, dürf­te klar sein. Aber wenigs­tens das hier ist schon mal nicht ver­ges­sen:

Alben
Kid Cudi – Man On The Moon – The End Of Day
Wie gesagt: Ich höre mich gera­de erst ein in die­ses Gen­re, das sie Hip-Hop oder Rap nen­nen. Ich bin also noch nicht sehr gut im Zuord­nen (wor­auf die Zei­le „I got nine­ty-nine pro­blems and they all bit­ches“ anspielt, ist mir trotz­dem auf­ge­fal­len), aber wer die­ses Album hört, muss sofort erken­nen, dass da jemand klu­ges Musik macht. Beats, Samples und Instru­men­te wer­den da zu anspruchs­vol­len Play­backs auf­ge­türmt, über die der 25-jäh­ri­ge Scott Ramon Segu­ro Mes­cu­di dann rappt wie ein Mann, der schon alles gese­hen hat. Die meis­ten Songs sind eher laid back und düs­ter und ins­ge­samt ist das Album, an dem auch Bands wie MGMT und Rata­tat mit­ge­wirkt haben, weit ent­fernt vom Arsch-und-Tit­ten-Hip-Hop, den man sonst im Musik­fern­se­hen sieht, falls gera­de mal Vide­os lau­fen. Ach ja: Lady Gaga wird auch noch gesam­pelt.

Jay‑Z – The Blue­print 3
Noch mal Hip-Hop, noch mal klug und anspruchs­voll. Genau­er kann ich das gar nicht beschrei­ben, aber es fühlt sich gut an, die­ses Album zu hören. Und wer sich „Fore­ver Young“ von Alpha­ville vor­nimmt, hat bei mir qua­si immer gewon­nen (vgl. Die Gol­de­nen Zitro­nen, Youth Group, Bushi­do feat. Karel Gott).

White Lies – To Lose My Life
Irgend­wann bin ich nicht mehr mit­ge­kom­men mit die­sen Joy-Divi­si­on-Bands. Sind White Lies über­haupt eine? Jeden­falls kom­bi­nie­ren sie trei­ben­de Rhyth­men, Gitar­ren­ge­schram­mel, Key­board­flä­chen und lei­den­schaft­li­chen Gesang. Und obwohl mir das in vier von fünf Fäl­len unglaub­lich auf die Ket­ten geht, gefällt es mir hier.

Tom Liwa – Eine Lie­be aus­schließ­lich
Nach Eso­te­rik-Pro­jek­ten und einer Flower­porn­oes-Reuni­on hat Tom Liwa mal wie­der ein rich­ti­ges Solo­al­bum auf­ge­nom­men: nur er und eine Gitar­re. Eröff­net wird „Eine Lie­be aus­schließ­lich“ von einer Gän­se­haut-Ver­si­on von „Cha­sing Cars“ (ja, das von Snow Pat­rol), hin­ter­her gibt’s auch noch mal Dylan („Idi­ot Wind“), dazwi­schen ganz viel Liwa. Man kann nur ahnen, was für Dra­men sich abge­spielt haben müs­sen, soll­ten die Tex­te alle­samt auto­bio­gra­phisch sein. Es ist Liwas bes­te Plat­te seit „St. Amour“ vor neun Jah­ren und erin­nert in ihrer Reduk­ti­on und Direkt­heit mit­un­ter sogar an die „Ame­ri­can Recor­dings“ von John­ny Cash – die mit­un­ter gewag­ten Über­steue­run­gen inklu­si­ve.

Songs
Kid Cudi – Up Up & Away
Da lobe ich ein Hip-Hop-Album und hebe dann den einen Song her­vor, in dem vor allem Gitar­ren zu hören sind. Aber, Ent­schul­di­gung, „Up Up & Away“ ist ein­fach ein Ham­mer von einem Song. Text­lich eine wun­der­ba­re Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung, musi­ka­lisch eine der eupho­riestei­gernds­ten Num­mern des Jah­res. Und dann die­ser Slo­gan für T‑Shirts und Unter­arm-Täto­wie­run­gen: „They go judge me any­way, so: wha­te­ver?“

Glas­ve­gas – Geral­di­ne
Glas­ve­gas live zu sehen war eine schlech­te Idee für den ers­ten Ein­druck, denn ihr Auf­tritt hat mir die Band schon arg ver­lei­det. So bedurf­te es aus­ge­rech­net einer Lager­feu­er­ver­si­on von Thees Uhl­mann und Simon den Har­tog, damit ich erkann­te, was für ein tol­ler Song „Geral­di­ne“ ist. So unge­fähr der ein­zi­ge rich­tig tol­le auf dem selbst­be­ti­tel­ten Debüt-Album der Schot­ten, aber dafür eben ein wirk­lich rich­tig tol­ler. Als Lin­gu­ist ist man erstaunt, wie vie­le Voka­le in Zei­len wie „My name is Geral­di­ne, I’m your social worker“ offen­sicht­lich über­flüs­sig sind und ganz ein­fach weg­ge­las­sen wer­den kön­nen.

Jay‑Z – Empire Sta­te Of Mind
Er sei der neue Sina­tra, rappt Jay‑Z in sei­nem „New York“-Pendant. Und wahr­schein­lich hat er damit nicht mal unrecht. Dazu Strei­cher, Kla­vier, Chö­re und Ali­cia Keys. Einen Song die­ser Grö­ße hat die Stadt ver­dient („und umge­kehrt“, falls das Sinn ergibt), so wie Ber­lin „Schwarz zu Blau“ von Peter Fox.

Tom­my Fin­ke – Halt‘ alle Uhren an
Tom­my Fin­ke hat mir jetzt schon mehr­fach zu erklä­ren ver­sucht, was das für ein Sound ist, der da das Riff spielt. Inzwi­schen habe ich die Hoff­nung auf­ge­ge­ben, es zu ver­ste­hen, aber es ist auch egal. Ein schö­ner Sound, ein ein­gän­gi­ges Riff und ein wun­der­ba­rer Song. Das Album kommt im Janu­ar 2010, die Sin­gle ist jetzt schon drau­ßen und weil ich gemein­sam mit den Jungs von Get Addic­ted mit dem Künst­ler eine Wet­te über Chart­plat­zie­run­gen lau­fen habe, täten Sie uns allen einen Gefal­len (sich selbst natür­lich sowie­so), wenn Sie das Lied käuf­lich erwür­ben.

Vir­gi­nia Jetzt! – Die­ses Ende wird ein Anfang sein
Vir­gi­nia Jetzt! hat­te ich irgend­wann nach dem zwei­ten Album aus den Augen ver­lo­ren. Kürz­lich war ich bei einem ihrer Kon­zer­te (eigent­lich nur, um mir Oh, Napo­le­on im Vor­pro­gramm anzu­se­hen) und ich war wirk­lich schwer begeis­tert. So sehr, dass ich mir ihr aktu­el­les Album gekauft habe. Was live super funk­tio­nier­te, ist auf Plat­te mit­un­ter arg hart an der Gren­ze (wobei die Idee, Ste­fan Zau­ner von der Mün­che­ner Frei­heit Back­ground-Chö­re sin­gen zu las­sen, natür­lich schon gigan­tisch ist), aber „Die­ses Ende wird ein Anfang sein“, die­se char­man­te Up-Tem­po-Num­mer mit Blä­sern, die ist schon sehr gut gewor­den.

White Lies – To Lose My Life
„Let’s grow old tog­e­ther and die at the same time“ ist eigent­lich auch nichts groß ande­res als das, was John Len­non 1980 in „Grow Old With Me“ aus­drü­cken woll­te – und trotz­dem natür­lich irre roman­tisch. Dazu ein trei­ben­der Refrain mit einem Key­board, das so sen­sa­tio­nell ner­vig rein dröhnt, dass man sich die Ohren zuhal­ten müss­te – wenn das beim Tan­zen nicht total beknackt aus­sä­he. Ein schö­ner Song.

Lady Gaga – Papa­raz­zi
„Ernst­haft?“ Ernst­haft! Was für coo­le Sounds, was für ein gelun­ge­ner Refrain! Außer­dem dach­te ich am Anfang, als ich nur die Stro­phe gehört habe, das sei eine neu­er Song von The Kni­fe.

[Lis­ten­pa­nik, die Serie]

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Leben Unterwegs

Die lustigste Geschichte

Unter allen Men­schen, die ich mal per­sön­lich getrof­fen habe, dürf­te es etwa drei bis vier geben, denen ich die­se Geschich­te noch nicht erzählt habe. Da mein bes­ter Freund kürz­lich mein­te, man müs­se sich mit mir ja gar nicht mehr unter­hal­ten, wenn man die­ses Blog nur auf­merk­sam genug lese, gehe ich also davon aus, die­se Geschich­te nun zum letz­ten Mal erzäh­len zu müs­sen:

Vor sie­ben Jah­ren, als ich noch in Dins­la­ken zur Schu­le ging, fuh­ren mein ande­rer bes­ter Freund und ich zu einem Kon­zert von Tom Liwa im Bahn­hof Lan­gen­d­re­er. Die­se Infor­ma­ti­on ist eigent­lich nur von min­de­rer Bedeu­tung für den wei­te­ren Ver­lauf der Geschich­te, könn­te ande­rer­seits auch eine wich­ti­ge Erklä­rung für ihre Poin­te sein.

Wenn ich es mir recht über­le­ge, wird die Geschich­te die Erwar­tungs­hal­tun­gen an sie, die ich bis­her auf­ge­baut habe, ver­mut­lich nicht erfül­len kön­nen, aber ich fah­re ein­fach mal fort: Nach dem Kon­zert muss­ten wir, damals bei­de noch min­der­jäh­rig und ohne Füh­rer­schein, also mit der S‑Bahn zurück­fah­ren. Wir stie­gen in Lan­gen­d­re­er ein, die S‑Bahn ruckel­te los in die Dun­kel­heit, als plötz­lich ein Mann mitt­le­ren Alters ent­setzt auf­sprang.

„Ist das hier die S‑Bahn Rich­tung Düs­sel­dorf?“, rief er panisch in die Bahn.
„Ja, ja“, bestä­tig­ten wir.
„Oh, dann ist gut“, ant­wor­te­te er und atme­te tief durch. „Dann hab‘ ich mich nur fal­schrum hin­ge­setzt!“

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Literatur

Aus den Papierkörben der Weltliteratur (2)

Auf mei­ner Fest­plat­te habe ich wei­te­re Tex­te gefun­den, die vor mehr als einem hal­ben Jahr­zehnt ent­stan­den sind, bei denen ich aber der Mei­nung bin, dass man sie zumin­dest noch mal zur Blog­ver­fül­lung nut­zen kann.

So zum Bei­spiel der nun fol­gen­de Text, der im Deutsch­un­ter­richt bei eben jener Leh­re­rin ent­stand. Die Auf­ga­be war es, einen Text zu einem Bild zu schrei­ben, auf dem sich ein Mann mit bei­den Hän­den an einer Art Zaun abstützt, der sich in der Mit­te zu öff­nen scheint. (Ich hät­te die­ses Bild ger­ne ein­ge­scannt, habe es aber nicht mehr gefun­den.)

Des­halb steht über dem Text auch „Am Zaun“. Der Text und die Fuß­no­ten sind auf dem Stand vom 7. Juni 2001 und wur­den nur behut­sam an die gän­gi­gen Recht­schreib­re­geln ange­passt.

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Musik Radio

Von Blumen und Hunden, Euros und Quoten

„Fünf Jah­re nach mir und drei Jah­re nach Blum­feld /​ Kau­fen sie alles ein, was deutsch singt“ sang Tom Liwa, der in die­ser Bezie­hung erschre­ckend visio­nä­re Sän­ger der Flower­porn­oes, 1993 in „Titel­sto­ry gegen ganz­sei­ti­ge Anzei­ge“. Jetzt, zwei Jah­re nach Madsen und im Wind­schat­ten von Bands wie Sil­ber­mond, Juli und Revol­ver­held, scheint die Musik­in­dus­trie – ihrer seit Jah­ren anhal­ten­den schwe­ren Kri­se zum Trotz – wirk­lich alles signen zu müs­sen, was jung ist, eine Gitar­re hal­ten kann und deutsch spricht bzw. singt. Was ja für sich betrach­tet erst mal weder gut noch schlecht ist – die Nach­wuchs­för­de­rung ist sogar aufs hef­tigs­te zu begrü­ßen.

Die neu­es­te Sau, die der­art durchs Dorf gejagt wird, heißt Kar­pa­ten­hund. Ihre Sin­gle „Gegen den Rest“ (die man bei MySpace hören kann), konn­te in den Indie-ori­en­tier­ten Cam­pusCharts genau­so punk­ten (Platz 1 am 16. April wie in den deut­schen Sin­gle­charts (Neu­ein­stieg auf Platz 43). Der Pop­kul­tur­jun­kie las im aktu­el­len Spie­gel (Arti­kel online nicht ver­füg­bar) unter ande­rem:

Für über 30 000 Euro wird Kar­pa­ten­hund Prä­senz auf MTV gesi­chert, dazu zählt, dass „Gegen den Rest“ im April 16-mal die Woche gespielt wird.

und

Bericht im ‘WOM-Maga­zin’ und Son­der­pla­zie­rung bei WOM und Kar­stadt? Rund 15 000 Euro. Bei der süd­deut­schen Laden­ket­te Mül­ler pro­mi­nent auf­tau­chen? 3000 Euro. Pla­zie­rung bei Ama­zon als Neu­heit? 2500 Euro.

Mal davon ab, ob die­se Zah­len so stim­men (die uns übri­gens wie­der zur Liwa’schen Titel­sto­ry brin­gen) und dass die­se Pra­xis so neu und exo­tisch auch nicht ist, klingt die Musik auch noch. Und zwar so, wie deutsch­spra­chi­ge Indie­bands, die auf ein stu­den­ti­sches Publi­kum zie­len, eben so klin­gen. Die Braut Haut Ins Auge, die Las­sie Sin­gers oder die Mouli­net­tes (mit deren Best Of die Kar­pa­ten­hund-Sin­gle übri­gens ver­blüf­fen­de Cover-Ähn­lich­kei­ten hat) klan­gen so schon vor län­ge­rem.

„Gegen den Rest“ ist ein net­ter Schubi­du-Pop­song, zu dem man in der Indi­edis­co tanzt und ihn auf dem Heim­weg schon wie­der ver­ges­sen hat – Hund Am Strand 2007 halt. Ich fin­de es nur immer ein biss­chen scha­de, dass die klei­ne­ren, eigent­lich span­nen­de­ren Acts wie Jona, Jan­ka oder Zuhau­se, die nicht so eine gro­ße Pro­mo­ma­schi­ne im Rücken haben wie Kar­pa­ten­hund, Fotos oder Madsen, mal wie­der irgend­wie unter­ge­hen. Und dann blo­ckiert auch noch die (übri­gens fan­tas­ti­sche) neue Sin­gle von Wir Sind Hel­den die Radio­sen­der.

Es ist übri­gens noch kei­ne drei Jah­re her, da for­der­ten ein paar über­wie­gend älte­re, haupt­säch­lich unspan­nen­de und auch sonst eher ner­vi­ge Musi­ker (z.B. Heinz Rudolf Kun­ze) unter Mit­hil­fe der dama­li­gen Bun­des­tags­vi­ze­prä­si­den­tin Ant­je Voll­mer eine sog. Deutsch­quo­te. Die damals ver­ein­zelt ange­reg­ten Alter­na­ti­ven wür­de ich heut­zu­ta­ge nur zu ger­ne mal dem Peti­ti­ons­aus­schuss vor­stel­len …

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Musik

Listenpanik (2): Hier kommt Rock’n’Roll

Die letz­te Bestands­auf­nah­me ist schon wie­der fast zwei Mona­te her und so rich­tig sinn­voll will mir die­ses unstruk­tu­rier­te Vor­ge­hen nicht erschei­nen. Des­we­gen gibt es hier ab dem­nächst immer am Monats­en­de eine Lis­te der wich­tigs­ten Plat­ten und Sin­gles. Jetzt aber erst mal die für Ende Febru­ar bis Mit­te April – natür­lich wie immer streng sub­jek­tiv und garan­tiert unter ver­se­hent­li­chem Ver­ges­sen von hun­dert ande­ren Sachen, die auch toll sind.

Alben
1. Get Cape. Wear Cape. Fly – The Chro­nic­les Of A Bohe­mi­an Teen­ager
Pas­sen­der kann ein Album­ti­tel kaum sein: Ganz gro­ßes Gefühls­ki­no mit­ten aus dem Leben, das von ver­spiel­tem Geplu­cker vor dem Sturz in den Emo-Stru­del bewahrt wird. Sam Duck­worth ist gera­de mal 20 und damit ein mehr als wür­di­ger Erbe für Con­nor Oberst, des­sen Bright Eyes das Tal der Trä­nen lang­sam zu ver­las­sen wol­len schei­nen.

2. Mika – Life In Car­toon Moti­on
Pas­sen­der kann ein Album­ti­tel kaum sein: Höchst ver­gnüg­li­cher Bubble­gum-Pop, der immer kurz davor steht, ins Alber­ne abzu­schwei­fen, sich aber immer wie­der ret­tet. Dass der 23jährige Sän­ger (als Kind mit sei­ner Mut­ter aus dem Liba­non geflo­hen, der Vater sie­ben Mona­te im Irak ver­schwun­den, hat frü­her Tele­fon­war­te­schlei­fen besun­gen) bis­her schon ein für heu­ti­ge Ver­hält­nis­se erschre­ckend beweg­tes Leben geführt hat, macht ihn auch als Inter­view­part­ner inter­es­sant.

3. Flower­porn­oes – Wie oft musst du vor die Wand lau­fen, bis der Him­mel sich auf­tut?
Pas­sen­der … Nee, anders: Es mag Zufall sein, dass Tom Liwa sei­ne Band in dem Jahr reak­ti­vier­te, in dem mit Blum­feld eine ande­re gro­ße deutsch­spra­chi­ge Indie­band der ers­ten Stun­de die Büh­ne ver­lässt. Stra­pa­zier­te Liwa auf sei­nen letz­ten Solo­plat­ten die Ner­ven sei­ner boden­stän­di­ge­ren Fans mit­un­ter erheb­lich mit eso­te­ri­schen The­men, steht er plötz­lich wie­der mit­ten im Leben. Die E‑Gitarren bol­lern und er singt Geschich­ten von Zahn­arzt­töch­tern, Apfel­ker­nen und Rock’n’Roll. Und der ist bekannt­lich grö­ßer als wir alle.

4. Maxï­mo Park – Our Earth­ly Plea­su­res
Die neben Bloc Par­ty ver­mut­lich span­nends­te Band der Bri­tish Class of 2005 legt eben­falls nach. Wie es sich für einen guten Zweit­ling gehört, wirkt die Band gefes­tig­ter und scheint ihren Weg gefun­den zu haben. Musi­ka­lisch gro­ßer Indiepop mit vol­lem Instru­men­ta­ri­um, text­lich oft genug ganz tief drin in den mensch­li­chen Abgrün­den.

5. Just Jack – Over­to­nes
Hip Hop? Funk? Pop? Na ja, in irgend­ei­ne Schub­la­de wird man das Album schon stop­fen kön­nen. Bes­ser auf­ge­ho­ben ist es aber im Disc­man, wäh­rend man auf der Wie­se in der Son­ne liegt. So laid back und som­mer­lich kann Musik klin­gen, ohne gleich süß­lich duf­ten zu müs­sen.

Sin­gles
1. Manic Street Pre­a­chers – Your Love Alo­ne Is Not Enough
Okay, okay: noch ist die Sin­gle nicht erschie­nen. Aber wenn die Manic Street Pre­a­chers durch die Solo­aus­flü­ge von James Dean Brad­field und Nicky Wire zu alter Stär­ke zurück­fin­den und dann noch ein Duett mit Nina Pers­son von den Car­di­gans, der Frau in die jeder ordent­li­che Indie­hör­er und ‑musi­ker min­des­tens ein­mal ver­liebt war, ver­öf­fent­li­chen, ist das Release­da­te ja wohl egal. Wenn Brad­field und Pers­son durch die­se nach Pet­ti­coat und Tanz­tee klin­gen­de Num­mer schun­keln und neben­bei noch ein paar Selbst­zi­ta­te ver­bra­ten („You sto­le the sun“ – „Straight from my heart, from my heart, from my heart“), ist das eben ganz und gar groß­ar­tig.

2. Tra­vis – Clo­ser
Auch noch nicht erschie­nen, aber eben­falls bereits zu hören ist die Come­back-Sin­gle von Tra­vis. „Clo­ser“ ist ein ech­ter grower, der beim ers­ten Hören lang­wei­lig erscheint, und den man nach fünf Durch­gän­gen schon ewig zu ken­nen glaubt. „Gän­se­haut-Zeit­lu­pen-Sta­di­on-Pop­hym­ne“ nennt das die Pres­se­info und hat damit sogar irgend­wie recht. Die Band tän­zelt durchs Video und man wür­de es ihr ger­ne gleich­tun. Das macht – zusam­men mit den ande­ren Hör­pro­ben, die es bereits gab – ganz gro­ße Lust auf das neue Album.

3. Just Jack – Starz In Their Eyes
Night fever, night fever! In der sog. gerech­ten Welt wäre das der Tanz­bo­den­fül­ler der Sai­son. So ist es eben nur der Funk­song, mit dem man sich bis zum Erschei­nen des nächs­ten Phoe­nix-Albums die Bei­ne ver­tre­ten kann. Oder was man sonst mit Bei­nen so macht, wenn Musik läuft.

4. Kili­ans – Fight The Start
Ja ja, die klin­gen total wie die Strokes. Nur, dass ich mich nicht erin­nern könn­te, dass die Strokes je A Tri­be Cal­led Quest zitiert hät­ten. Außer­dem kön­nen Men­schen, die sich für beson­ders schö­ne Bass­läu­fe inter­es­sie­ren, hier noch rich­tig was ler­nen. Und alle ande­ren auch. Gerech­te Welt: Rie­sen­hit. Kann man sogar nach­hel­fen.

5. The View – Was­ted Litt­le DJ’s
Bevor alle Welt New Rave fei­ert – was auch immer das genau sein soll – gibt es hier noch mal Indie­rock. Der Song den­gelt zwi­schen Liber­ti­nes und Beach Boys dahin und soll­te die­ses Jahr auf kei­nem Mix­tape feh­len.