Leute, ich sag’s Euch, wie’s ist: Es gibt Zeiten, die sind einfach so voll mit Dingen, schönen wie unschönen, dass alles nur so vorbei rauscht. Und dann ist plötzlich der Abend des 31. Oktober, Kinder klingeln an der Tür und rufen „Süßes oder Saures!“ und die Begleittexte zum Oktober-Mixtape sind immer noch nicht zur Hälfte fertig.
Aber ich mach das hier alles in meiner Freizeit und unbezahlt (Wenn Ihr meine Arbeit finanziell unterstützen wollt, könnt Ihr meinen Newsletter abonnieren und dafür Geld bezahlen!) und mir ist wichtiger, dass Ihr gute Musik hört, als dass ich mir da jetzt noch ein paar Dutzend Absätze aus den Fingern sauge, von denen ich gar nicht so genau weiß, ob Ihr sie überhaupt lest. *hust*
Jedenfalls: Hier sind 22 Songs, die ich diesen Monat gehört habe. Ich wünsche Euch viel Spaß damit!
Meet Me @ The Altar – You’ve Got A Friend In Me
Wer auch immer bei Disney auf die Idee gekommen ist, ein Album zu veröffentlichen, auf dem Pop-Punk-Bands einige der beliebtesten Songs aus den eigenen Animationsfilmen covern (ein*e Millennial, vermutlich), hat hoffentlich eine fette Gehaltserhöhung. Dabei sing New Found Glory, Simple Plan, Yellowcard, Plain White T’s, Bowling For Soup, Tokio Hotel (!), aber auch Meet Me @ The Altar, die jetzt seit ein paar Jahren zu meinen „neuen“ (also: nicht seit Jahrzehnten mit mir rumgeschleppten) Lieblingsbands gehören.
Die queer POC all-girl band aus Florida covert Randy Newmans „You’ve Got A Friend In Me“ aus „Toy Story“ und drückt damit bei mir sehr viele Knöpfe.
MJ Lenderman – She’s Leaving You
Manchmal gibt es ja so Namen und Alben, von denen man so oft in verschiedenen Zusammenhängen liest, dass man sie einfach hören muss: MJ Lendermans „Manning Fireworks“ ist so ein Album und es ist sogar sogar noch besser, als alle sagen. Die Songs klingen, als würde ich es schon mein halbes Leben kennen. Oder, anders: So, wie wenn The Get Up Kids und The Weakerthans sich vor 20, 25 Jahren in einer Scheune in Montana, in der zufällig noch ein paar Folk-Musiker sitzen, gegenseitig gecovert hätten. (MJ Lenderman wurde vor 25 Jahren geboren.)
„You can put your clothes back on / She’s leaving you“ ist kein ganz schlechter Anfang, es wird danach aber noch besser: Ein Song, der auch Ryan Adams gut zu Gesicht gestanden hätte, wenn wir noch Ryan Adams hören würden.
Rae Morris – Something Good
Wenn man sich die Nachrichten, die sogenannten Sozialen Medien und oft genug auch den eigenen Alltag anschaut, könnte sich der Eindruck verstärken, alles, aber auch wirklich alles, sei absolut furchtbar. Aber ist es nicht immer am Dunkelsten, kurz bevor die Sonne aufgeht?
Rae Morris, die als bisher einziger Act zwei Mal (2012 und 2018) meinen ganz persönlichen Song des Jahres veröffentlicht hat, hat das Gefühl, dass etwas Gutes passieren wird, und singt davon in diesem leicht zappeligen Elektropop-Song. Hoffen wir alle, dass sie recht hat.
Willie Nelson – Do You Realize??
Willie Nelson ist jetzt 91 Jahre alt, hat 101 Studioalben veröffentlicht, war neben Johnny Cash, Waylon Jennings und dem kürzlich verstorbenen Kris Kristofferson Mitglied der Highwaymen, und wird – trotz seines jahrzehntelangen Marihuana-Konsums – einfach nicht müde.
Jetzt hat er sich „Do You Realize??“ von The Flaming Lips vorgenommen, einen Song von ihrem 2002er Album „Yoshimi Battles The Pink Robots“, zu dessen Hintergrund es eine sehr schöne Folge „Song Exploder“ gibt und in dem die Band mit „You realize the sun doesn’t go down / It’s just an illusion caused by the world spinning round“ die Vorlage für Tomtes „Das ist nicht die Sonne, die untergeht / Sondern die Erde, die sich dreht“ („Die Schönheit der Chance“) lieferte.
Long story short: „Do You Realize??“ ist schon im Original ein wunderschöner Song und Willie Nelson arbeitet das Lob der zerbrechlichen Schönheit noch einmal ganz besonders heraus. Auch Wayne Coyne und Steven Drozd von The Flaming Lips sind sichtlich angetan.
Maggie Rogers – In The Living Room
Maggie Rogers hatte eigentlich erst im April ihr drittes Album „Don’t Forget Me“ veröffentlicht, jetzt gibt es schon wieder neue Musik: „In The Living Room“ klingt wie Aimee Mann — und das ist ja nun wirklich nicht das Schlechteste, was man über einen Song sagen kann.
Cecily – Rich
„Im Cecily. Im a young singer / songwriter in Nashville just trying to bring authentic lyrics and feel good melodies into moments that capture who l am and what I believe, while also creating space for you to find out what it means for you too.“ schreibt Cecily über sich selbst.
„Rich“ ist eine Folkballade, dessen Text erst von Sozialer Ungerechtigkeit handelt, dann von Privilegien, ehe sich alles zu einem hymnischen Liebeslied öffnet.
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Anderthalb Jahre lang, über 36 Ausgaben, haben wir bei Spotify unsere kleine Musiksendung veröffentlicht, die genauso hieß wie dieses Blog hier: Coffee And TV. Dann hat der böse, ausbeuterische Tech-Konzern die Möglichkeit abgeschafft, eine solche … nun ja: Radiosendung im Internet zu produzieren.
Ich habe ein bisschen gebraucht, um zu überlegen, wie wir weitermachen, denn es gehört ja zu meinen tiefsten Überzeugungen, dass Schönheit geteilt gehört — und Ihr sollte ja weiter hören können, was ich gerade so höre. Die nächstgelegene Idee ist natürlich eine Playlist — vorerst erstmal weiter bei Spotify, weil der Absprung von so einem Streamingdienst ungefähr so kompliziert ist wie ein Umzug mit drei Kindern und fünf Haustieren ins Ausland, aber auch bei Tidal, wo ich gerade ein Probe-Abo abgeschlossen habe, und die Musik wirklich hundert Mal besser klingt (außerdem kriegen die Künstler*innen mehr Geld).
Und weil eine Befragung auf Instagram ergab, dass Ihr gerne nicht nur Songs hintereinander hören, sondern auch Informationen und Meinungen dazu lesen wollt, habe ich jetzt ca. zwei Arbeitstage damit zugebracht, diesen Blog-Eintrag hier zusammenzubauen. (Wenn Ihr meine Arbeit finanziell unterstützen wollt, könnt Ihr meinen Newsletter abonnieren und dafür Geld bezahlen!)
Also dann: Herzlich willkommen zum ersten CTV-Mixtape!
Manic Street Preachers – Decline & Fall
Ich bin jetzt seit fast 25 Jahren Fan der Manic Street Preachers; sie haben mich durch die Oberstufenzeit begleitet und politisiert. Ihr letztes richtig gutes Album ist jetzt auch schon vierzehn Jahre alt — und dann ballern die plötzlich so eine Single raus: eine Piano-Hook wie bei ABBA, Gitarren wie bei Guns ‘n’ Roses und eine Gesangsmelodie, die ungefähr so eingängig ist wie ein gelungenerer Schlager.
Der Text handelt davon, im Angesicht einer verfallenden Welt die kleinen Wunder zu feiern — vielleicht ein bisschen fatalistisch für eine Band, die die meiste Zeit ihrer Karriere die sozialistische Weltrevolution anzetteln wollte, aber in Zeiten, in denen sich so viele immer radikaler äußern, ist es auch auf eine Art radikal, das Gegenteil zu tun. Und wenn es darum geht, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen, bin ich natürlich dabei! Der beste Song einer Band „von früher“ seit Jahren!
Ider – You Don’t Know How To Drive
Wir waren bei Coffee And TV schon große Fans von Ider, bevor das britische Elektropop-Duo überhaupt 2019 sein Debütalbum „Emotional Education“ veröffentlicht hatte. Der Bildspender für den Titel dieser Single ist die männliche Unfähigkeit, sich im Straßenverkehr zu orientieren, aber immer gute Ratschläge zu geben — und das ist nur die erste Strophe, denn die burns werden danach noch viel, viel gemeiner.
„I wanna throw your shit in the middle of the street / Really make a big scene and burn your red SG / Delete the files of your solo EP, yeah no ones gonna hear it now“, singen Megan Markwick und Lily Somerville im Refrain und vielleicht muss man ein paar Musiker im Bekanntenkreis haben, um die Tiefe und Schärfe dieser Zeilen voll würdigen zu können, aber lasst es mich so sagen: Das hier ist die nukleare Option — aber sehr, sehr lustig!
Ider haben gerade ihr drittes Album „Late To The World“ angekündigt, das am 21. Februar 2025 erscheinen soll. Ende März spielen sie in Hamburg, Berlin und Köln.
Christian Lee Hutson – After Hours
Seit dem Release Anfang Juli liege ich meiner gesamten peer group in den Ohren, dass sie sich bitte, unbedingt, keine Zeit zu Warten, diesen Song anhören sollen. Nein: müssen!
„After Hours“ klingt, als würde ich es seit 25 Jahren kennen, aber ich kann nicht genau sagen, an was mich Stimme und Musik erinnern: Nick Drake? Nein. The Weakerthans? Auch nicht. Vor allem war Christian Lee Hutson vor 25 Jahren gerade acht und hat (hoffentlich, denn das Wort „fuck“ kommt auch drin vor) noch nicht solche Songs geschrieben. Refrains gibt’s keine, dafür Strophen, die sich frei assoziativ von Spätis im Himmel über die Schauspielerin Catherine O’Hara bis zur Feststellung „The good stuff is behind a paywall“. Das Album „Paradise Pop. 10“ erscheint am 27. September und ich bin sehr gespannt!
Anna Erhard – Not Rick
Stellt Euch einen jungen, weiblichen Werner Herzog vor, der einen cleveren, aber nicht zu cleveren Text rezitiert, in dem es unter anderem um den legendären Musikproduzenten Rick Rubin geht, während im Hintergrund die Band Cake ein Mashup von Becks besten Songs, die nicht „Loser“ heißen, spielt. Okay, ich bin nicht hilfreich.
Ihr müsst mir einfach glauben, dass dieser Song von Anna Erhard, die in der Schweiz aufgewachsen ist und jetzt in Berlin lebt, einige der besten Indierock-Trends der letzten vier Jahrzehnte enthält. Oder besser: es hören!
Pete Yorn – Real Good Love
Pete Yorn war der Soundtrack der letzten Monate vor meinem Abi — und zwar gleich doppelt: zum einen war er in den Jahren 2000 bis 2002 auf gefühlt jedem zweiten Soundtrack-Album von „Dawson‘s Creek“ bis „Spider-Man“ dabei (so versuchten Major-Labels damals, ihre Acts groß zu machen), zum anderen war sein Debüt-Album „Musicforthemorningafter“ damals ein treuer Begleiter.
Es wurde keine enge, dauerhafte Beziehung (sein gemeinsames Album mit Scarlett Johansson hab ich bis heute nie gehört), aber wenn er neue Musik veröffentlicht, höre ich immer wieder gerne rein. (Und im Gegensatz zu Ryan Adams, dem anderen großen liebestrunkenen Troubadour jener Tage, hat er sich, soweit ich weiß, nichts zu Schulden kommen lassen.) Sein neues Album „The Hard Way“ ist kein Meisterwerk, über das man in zehn Jahren noch begeistert sprechen wird, aber es kann die Zeit zwischen „Nicht mehr Sommer“ und „Noch nicht Herbst“ untermalen wie eine akustische Übergangsjacke. Und so eine solide Freundschaft ist doch auch viel wert!
PRONOUN – In The Still
Vielleicht gar nicht so doof, das eigene Musikprojekt nach der vielleicht polarisierendsten Wortgattung aller Zeiten zu benennen. Alyse Vellturo beschreibt sich selbst als „Brooklyn-based indie label manager by day, bedroom artist by night“ und „In The Still“ ist mein Erstkontakt mit ihrem Schaffen.
Wenn Jimmy Eat World und The Pains Of Being Pure At Heart eine gemeinsame Tochter hätten und die dann mit ihren Freundinnen von britischen 80er-Jahre-Bands (und zwar nicht Pet Shop Boys oder Wham!, sondern The Cure und New Order) inspirierte Musik machen würde, dann könnte das Ergebnis so klingen.
Japandroids – Chicago
Für alle, die immer schon Bruce Springsteen und Hüsker Dü geliebt haben, gibt es das kanadische Duo Japandroids. Ihr zweites Album „Celebration Rock“ aus dem Jahr 2012 ist eines der am passendsten betitelten Alben aller Zeiten und bevor ich für „Lucky & Fred“ oder meine kleine ESC-Show auf die Bühne gegangen bin, hab ich immer ihren Songs „Fire’s Highway“ gehört, um angemessen pumped für einen Abend vor Live-Publikum zu sein.
Nach sieben Jahren Pause haben sie im Juli für Oktober ihr viertes Album „Fate & Alcohol“ angekündigt, das gleichzeitig ihr letztes sein soll. Wenn man sich bei einer Band keine Sorgen machen muss, dass sie mit einem Knall gehen werden, dann bei Japandroids. Sorry, baby, we call it like we see it in Chicago!
Suzan Köcher’s Suprafon – Living In A Bad Place
Bringen wir‘s kurz hinter uns: Ja, das ist die Band, während deren Auftritt der Attentäter auf dem Solinger Stadtfest seine furchtbare Tat beging. Das war natürlich ein grausamer Zufall und die denkbar beschissenste Art, um Gegenstand nationaler Berichterstattung zu werden, von daher freut es mich sehr, dass die Vier schon eine Woche später die Kraft hatten, wieder auf einer Bühne zu stehen und zu bestehen.
„Living In A Bad Place“ ist ein groovender Americana-Stampfer, der an die späten Cardigans oder Brandi Carlisle erinnert, aber gleichzeitig auch eindeutig Suzan Köcher’s Suprafon ist (wie schon in Sendung Nr. 35 zu hören). Im Oktober erscheint das Album „In These Dying Times“ und das mag jetzt zynisch klingen, aber: Wenn diese ganze Scheiße dazu führt, dass jetzt ein paar mehr Menschen eine gute Band kennen und hören, ist das allemal besser, als wenn deswegen Grenzen geschlossen und Menschenrechte geschliffen werden. (Das war jetzt politisch. Blame the Manic Street Preachers!)
The Killers – Bright Lights
Wenn ich alle Fakten zusammentrage, sind The Killers vermutlich meine Lieblingsband unter all jenen, die noch aktiv sind. Ich denk da nur auch nicht immer dran.
Und dann kam Anfang August eine neue Single raus und ich hab sie mir extra aufgehoben, um sie abends, bei Sonnenuntergang auf unserem Campingplatz, zum ersten Mal zu hören. Es ist natürlich kein „Mr. Brightside“ oder „When You Were Young“, es ist nichtmal ein „Caution“ (obwohl es erstaunlich danach klingt). Es ist nur ein Lebenszeichen einer Band, die es auch nach 20 Jahren noch schafft, mir mit jedem neuen Album eine kleine Freude zu bereiten — und das ist doch auch viel wert!
Bess Atwell – Where I Left Us
Ich merke, dass ich immer weniger Alben höre — gerade, weil ich so ungern Alben anmache, wenn ich weiß, dass ich sie nicht komplett hören kann. Wenn ich 20 bis 30 Minuten brauche, bis das Abendessen fertig ist, reicht das nicht — gerade, wenn ich erstmal zehn Minuten brauche, um überhaupt Musik auszusuchen, während das Nudelwasser schon kocht. Deshalb habe ich Bess Atwells drittes Album „Light Sleeper“ auch noch nicht gehört (auch nicht die zwei davor), obwohl es von Aaron Dessner von The National produziert wurde, der seit Taylor Swifts „Folklore“ ja der Mann ist, der melancholisch-schwelgende Popsongs junger Frauen den letzten Grobschliff gibt.
„Where I Left Us“ ist da aber auch gar nicht drauf, sondern Teil neuen Materials, das die Engländerin aktuell veröffentlicht. Wenn all ihre Songs so eine herbstliche Kuscheldecken-Fluffigkeit haben, muss ich aber wirklich mal in ihre Alben reinhören!
The Deadnotes – Reservoir
Ich vertraue meinen Buddies vom Grand Hotel van Cleef ja erstmal blind — ein Vertrauen, das sie sich vor zwei Jahrzehnten mit kettcar, Tomte, Marr und Death Cab For Cutie eher leichtfüßig erarbeitet haben (war natürlich trotzdem eine Menge Energie und Geld, die in solche Releases gegangen ist), das durch gemeinsame Kilians-Zeiten noch enger wurde und das sie in den letzten Jahren mit Veröffentlichungen von Pale, Mariyaka, Fjørt und Arxx weiter gestützt haben.
Wenn meine Buddies also eine Band signen, die schon zwei Alben in Eigenregie veröffentlicht hat, dann höre ich mir das natürlich aufmerksam an: „Reservoir“ ist ein Hauch The Killers, Nightmare Of You und Hellogoodbye, also Rockmusik mit Synthesizern — und das Grand Hotel van Cleef hat mal wieder recht gehabt.
Alex The Astronaut – Cold Pizza
„I Think You’re Great“ von Alex The Astronaut war einer der ersten Songs, die ich gehört habe, nachdem im März 2020 der erste Covid-Lockdown ausgerufen worden war — und es sollte mein Song eines sehr, sehr speziellen Jahres werden.
Ich weiß nicht viel über Alex The Astronaut und habe auch nicht viele ihrer anderen Songs gehört. Aber wenn man einen Song nach dem besten Essen der Welt benennt, kann das alles schon mal nicht so falsch sein — und tatsächlich ist „Cold Pizza“ ein charmanter kleiner Indierock-Schunkler.
Clipping – Run It
Daveed Diggs kennt Ihr alle als Marquis de Lafayette und Thomas Jefferson aus „Hamilton“ (Ihr kennt „Hamilton“ nicht? Oh. Ändert das! Sofort!) Er ist aber auch Mitglied der experimentellen Hip-Hop-Band Clipping, über die ich nicht viel mehr weiß, als dass Daveed Diggs dort Mitglied ist und sie eine zeitlang mal für das Haldern Pop Festival 2023 angekündigt waren, bis sie wieder aus dem Line-Up verschwanden.
Jetzt habe ich zum ersten Mal einen Song von Clipping gehört und ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich mich inzwischen wieder vollständig davon erholt habe, aber „Run It“ ist schon ein beeindruckender Track, der ein bisschen klingt, als wäre man mit dem Geräusch im Kopf aufgewacht, das ein 56k-Modem beim Einwählen macht.
Joy Oladokun – I’ Miss The Birds
Wenn ich noch so was küren würde wie ein Album des Jahres, wäre es letztes Jahr „Proof Of Life“ von Joy Oladokun gewesen, wie ich in unserer 2023-Sendung schon erzählt habe. Seitdem hat sie in regelmäßigen Abständen neue Songs veröffentlicht, die allesamt wunderbar sind.
In „I’d Miss The Birds“ singt sie davon, dass sie Nashville, die Hauptstadt der amerikanischen Musikindustrie, verlassen und aufs Land ziehen will. Zwar würde sie die Vögel vermissen, für die die Stadt auch berühmt ist, aber selbst die Vögel wüssten ja, wann es Zeit ist zu gehen.
„I’d Miss The Birds“ wird auf „Observations From A Crowded Room“ enthalten sein, Joy Oladokuns fünftem Album, das sie selbst produziert hat und das am 18. Oktober erscheinen soll.
New Radicals – Lost Stars
„You Get What You Give“ von New Radicals ist ein Song, der mein Leben in ein „Davor“ und „Danach“ teilt. Zum ersten Mal seit meiner eher kindlichen Die-Prinzen-Phase war ich Fan einer Band — die sich wenige Wochen, nachdem ich ihr Album gekauft hatte, auflöste. Ihr Sänger Gregg Alexander hat seitdem zahlreiche Hits für andere Acts geschrieben (die ich, inkl. Demos, alle auf meiner Festplatte habe), aber die Band tauchte erst zur Amtseinführung von Joe Biden ganz überraschend wieder in der Öffentlichkeit auf.
Jetzt gibt es zum ersten Mal seit 25 Jahren neue Songs — wobei „neu“ dabei ein bisschen umgedeutet werden muss, denn es handelt sich um die eigenen New-Radicals-Versionen von „Murder On The Dancefloor“ (bekannt geworden durch Sophie Ellis-Bextor) und „Lost Stars“ (aus dem Film „Begin Again“). Gregg Alexander hat in einem offenen Brief an Kamala Harris’ Ehemann Doug Emhoff, der offenbar ein ebenso großer Fan der Band ist wie ich, erklärt, dass es sich nicht um ein „Comeback“ handle, sondern um einen Versuch, die Demokraten im Wahlkampf zu unterstützen. Das verleiht diesen vielleicht etwas obskuren Songs eine Aura von gesellschaftlicher Bedeutung und Hoffnung und macht mich noch glücklicher, sie hören zu dürfen. Ich habe sogar zum ersten Mal seit neun Jahren einen Song im iTunes Store gekauft!
Briskeby – The First Time
Weiter geht’s mit „Opa erzählt vom Frieden“! Briskeby waren die erste Vorband, die ich jemals bei einem Konzert gesehen habe: Im Herbst 2000 im Vorprogramm von a-ha in der Arena Oberhausen und ich war sofort schwer verknallt in ihre Sängerin Lise Karlsnes. Der Zufall will es, dass ich ein paar Monate später meine allererste Musikrezensionjemals für plattentests.de über „Jeans For Onassis“, das Debütalbum der Band, geschrieben habe — das Album hatte also immer einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen und ich habe meinen Text nur deshalb verlinkt, denn es ist grauenhaftes Gewäsch von einem Teenager, der noch weit davon entfernt war, seine Stimme gefunden zu haben, nicht besser gemacht von einer Redaktion, die auf knackige Überschriften und Oneliner aus war, und können wir bitte überhaupt ganz grundsätzlich mal aufhören, Kunst irgendwie auf einer Skala („5/10“) quantifizieren zu wollen?!
Briskeby, jedenfalls, haben danach weiter Musik gemacht, die komplett an mir vorbeiging: Ihr letztes Album ist aus dem Jahr 2005, was fast 20 Jahre her ist, die letzte Single von 2015. Und jetzt sind sie wieder da, mit einem Song, der „Like The First Time“ heißt und auch so klingt: Es ist exakt der gleiche groovende, leicht angerockte skandinavische Elektropop zwischen Cardigans und Annie — und was ist so falsch daran?! Ich bin jetzt in einem Alter, wo ich zwar immer noch Wert darauf lege, Chappell Roan, Charli XCX und Sabrina Carpenter grob zu kennen (und: Mein Gott, ist „Espresso“ ein Meisterwerk!), aber ich überlasse ihre Musik gerne den jungen Leuten, denn die haben ja sonst – Hashtag Klimakrise, Hashtag Rentenkasse, Hashtag Austeritätspolitik – sonst gar nichts.
Bon Iver – Speyside
Und plötzlich war da noch ein neuer Song von Bon Iver: Nur Justin Vernon und seine Gitarre, wie damals in der legendären Waldhütte, als er „For Emma, Forever Ago“ aufnahm (was auch schon wieder ewig her ist). Die ganzen Elektrospielereien der letzten Alben: verschwunden; das Duett mit Taylor Swift: woanders (aber tief in unseren Herzen); die einzige weitere Zutat nur die Bratsche von Rob Moose, die dem ganzen den Anstrich von weiter, amerikanischer Landschaft verleiht.
Am 18. Oktober wird „Sable“, eine EP mit „Speyside“ und zwei weiteren Songs erscheinen. Dann wissen wir, ob Bon Iver full circle gegangen sind. Solange reicht aber auch die Schönheit dieses Songs.
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