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Musik

Haut es mit Edding an die Wände

Irgendwann im Herbst 2002 sagte ein Kumpel zu mir: “Ey, ich war grad auf der Visions-Party. kettcar haben gespielt, die könnten Dir auch gefallen!” Also machte ich das, was man damals so machte, ging in die Tauschbörsen und schaute, was es dort so gab.

Ich weiß nicht mehr ganz genau, welches Lied ich dann als erstes gehört habe, aber es müsste “Im Taxi weinen” oder “Genauer betrachtet” gewesen sein. Letzteres ist bis heute meine Lieblingslied von kettcar, ersteres berührte mich damals auf Anhieb, ohne dass ich gleich verstanden hätte, worum es eigentlich ging. Überhaupt hatten die Songs über frisch gescheiterte Beziehungen, Partynächte mit den besten Freunden und das Scheitern von Lebensentwürfen vergleichsweise wenig mit meiner Lebenswirklichkeit als Zivildienstleistender in einer niederrheinischen Kleinstadt zu tun — aber ich liebte sie von Anfang an.

Nach ein paar Wochen kaufte ich mir in der CD-Abteilung der Drogerie Müller in Essen dann endlich “Du und wieviel von Deinen Freunden”, das mich seitdem geprägt hat wie kaum ein anderes Album. Über Jahre waren die Texte, die ich in mein privates Blog hämmerte, und die Musik-Rezensionen, die ich im Internet veröffentlichte, voll von direkten Zitaten aus und Verweisen auf kettcar-Songs.

Na dann herzlichen Glückwunsch.
Das Geld kommt aus der Wand.
Entschuldigung, sind Sie? Wir müssen Ihnen mitteilen.
Und wer bei zehn noch steht hat recht.
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
Komm schon, Großhirn, wünsch mir Glück.
Die Summe unseres Alltags in zwei gepackten Koffern.
Dieses Bild verdient Applaus.
Der Tag an dem wir uns “We’re gonna live forever” auf die Oberschenkel tätowierten.
Solang die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende.
Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt, den Rest kriegt mein Friseur.
Ist man jetzt, wo man nicht mehr high ist, froh dass es vorbei ist?
Ich danke der Academy.
Aufstehen, atmen, anziehen und hingehen, zurückkommen, essen und einsehen zum Schluss, dass man weitermachen muss.

Von …But Alive und Rantanplan, den Vorgängerbands von kettcar, hatte ich damals natürlich schon gehört, hatte sie aber nicht genug auf dem Schirm gehabt, um von Anfang an mitzukriegen, wie Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff erst kettcar und dann, weil keine Plattenfirma der Republik das Album rausbringen wollte, gemeinsam mit Thees Uhlmann das Grand Hotel van Cleef gründeten. Aber ab Dezember 2002 war ich dabei.

Ich erinnere mich an mein erstes kettcar-Konzert im Zakk in Düsseldorf im Januar 2003, an den Tourabschluss im Index in Voerde (of all places!) und an die vielen, vielen Konzerte in kleinen Clubs, größeren Hallen und auf Festivals, die danach kamen. An die langen Monate, in denen ich gefühlt nur ein Album im Discman hatte.

Ich erinnere mich an meine erste Reise nach Hamburg und daran, wie ich am Hauptbahnhof “Du und wieviel von Deinen Freunden” einlegte und es auf der S-Bahn-Fahrt nach St. Pauli beinahe schaffte, dass “Landungsbrücken raus” an genau der richtigen Stelle lief. Dass ich damals nach Hamburg ziehen wollte, wegen “Absolute Giganten” und dieser Band.

Ich erinnere mich daran, wie ich wegen einer Verkettung von Zufällen als einer der Ersten die Promo zum zweiten Album “Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen” zugeschickt bekam, weil ich eine Presseinfo dazu schreiben sollte. Der Text wurde glücklicherweise nie veröffentlicht, weil Thees Uhlmann auch einen geschrieben hatte, der natürlich besser und näher dran war. Und ich erinnere mich daran, wie ich dann am Veröffentlichungstag bei ElPi in Bochum stand und die Special Edition des Albums nach hause schleppte.

Ich erinnere mich an die Beiträge in den “Tagesthemen”, bei “Polylux” und an die fast ganzseitige Geschichte in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”, an die vielen Konzerte, die ich zum zweiten Album besucht habe, und an das Plakat zum Album, das meine gute Freundin Martina Drignat gestaltet hatte, und das jahrelang an meiner Zimmertür im Studentenwohnheim hing (abwechselnd innen und außen).

Ich erinnere mich an “Sylt”, das dritte Album, zu dem ich erst keinen rechten Zugang fand, und das, als ich dann in die Erwachsenenwelt von Ökonomie, Abschieden und Älterwerden hineinstolperte, schon da war und auf mich wartete. Ich erinnere mich an das Konzert in Dortmund im Oktober 2009, bei dem Marcus Wiebusch Texte und Akkorde vergaß und die Band vor den Augen der Zuschauer auseinander zu fallen drohte. Sie standen auf und machten weiter.

Ich erinnere mich ans Bochum Total 2011, als kettcar ihren neuen Song “Nach Süden” spielten, über einen Mann der nach anderthalb Jahren die Krebsstation im Krankenhaus lebend verlässt. Es war auf den Tag genau der fünfte Jahrestag der Beerdigung eines sehr lieben Verwandten, der das nicht geschafft hatte, und ich stand da mit Gänsehaut und feuchten Augen und wollte die Band wie so oft umarmen.

Im Frühjahr erschien dann “Zwischen den Runden”, das vierte Album der Band. Es war, wie schon “Sylt”, anders, nicht so leicht zugänglich und weit von den Hymnen der ersten beiden Alben entfernt. Aber es beginnt mit “Rettung”, dem schönsten Liebeslied, das je geschrieben wurde:

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Ende August feierte das Grand Hotel seinen zehnten Geburtstag auf der Trabrennbahn in Hamburg. kettcar spielten als letztes und ihr Auftritt war von Anfang an wie ein Klassentreffen — nur im positiven Sinne. Um mich herum standen lauter Menschen, die mit kettcar erwachsen geworden waren, und es tat gut zu sehen, dass die Band immer noch da war. Bei “Landungsbrücken raus”, an der wichtigen Stelle “2002 the year Schwachsinn broke”, ging plötzlich Pyrotechnik los und es regnete Gold. Eigentlich ein bisschen too much für diese bescheidene Band, die es nie drauf angelegt hat, im Radio gespielt zu werden, aber in diesem Moment verdammt angemessen.

kettcar waren schon kurz vor der Neuesten Deutschen Welle da gewesen, und sie sind jetzt immer noch da, wo man kaum noch das Radio einschalten kann, ohne von einem dieser neuen Schlagerheinis angenuschelt zu werden, auf die das Adjektiv zutrifft, dass kettcar damals vielleicht sogar erfunden haben: “befindlichkeitsfixiert”. Von meinen Helden von damals sind sie die letzten Verbliebenen: Tomte sind einfach nicht mehr da und Thees Uhlmann besingt tote Fische, muff potter. haben sich selbst den Stecker gezogen und Jupiter Jones, denen ich ihren späten Durchbruch ja eigentlich wirklich von Herzen gönne, spielen jetzt gemeinsam mit Anastacia und fucking Mick Hucknall (“The Voice Of Simply Red”) bei der “AIDA Night of the Proms”.

Am Freitag erschien “Du und wieviel von Deinen Freunden” in der “10 Jahre Deluxe Edition”, die man vielleicht nicht ganz zwingend braucht, wenn man eh schon alles von kettcar hat, aber die mit diesem wunderschönen Trailer daherkommt:

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Am Sonntag habe ich kettcar beim Visions Westend in Dortmund wieder live gesehen, zum insgesamt 15. Mal, wenn ich richtig gezählt habe. Es war einer ihren besten Auftritte. Die Menschen, an die ich beim Hören denke, sind im Laufe der Jahre andere geworden, aber die Songs sind immer noch so gigantisch groß wie damals, als ich sie zum ersten Mal gehört habe.

I’d like to thank the academy (academy, academy).

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Musik

Ihr wollt ein Liebeslied, ihr kriegt ein liebes Lied

Vergangenen Donnerstag stand ich kurz davor, mir mehrere Gliedmaßen abzunagen: Ich saß in einer Kölner Mehrzweckhalle und als wäre das nicht schon schlimm genug, fand in dieser Halle zu diesem Zeitpunkt auch noch der Bundesvision Song Contest statt. Stefan Raabs innerdeutscher Grand Prix, der sich nicht so recht zwischen staatstragendem Gestus und ironischer Distanz entscheiden kann, konnte es in Sachen Show und Unterhaltung nicht mit dem europäischen Vorbild aufnehmen. Das war zu erwarten gewesen. Womit eher nicht zu rechnen war: Dass der ESC dem BuViSoCo auch musikalisch überlegen sein würde.

Seit einiger Zeit fühle ich mich, als stünde ich an irgendeinem Bahnhof am Gleis und der popmusikalische Zug sei einfach ohne mich weitergefahren, immer weiter in die Provinz hinein. BuViSoCo-Sieger Tim Bendzko, Philipp Poisel, der Rapper Casper, der Tomte-lose Thees Uhlmann — ihre Platten werden von vielen Kritikern gelobt und von irrsinnig vielen Menschen gut gefunden, denen ich sonst durchaus Musikgeschmack unterstellen würde. Und ich stehe fassungslos daneben und fühle mich, als wären plötzlich Alle Fans des VfL Wolfsburg.

Deutschsprachige Musik, so scheint es, zerfällt dieser Tage in zwei Extreme: Auf der einen Seite der Diskurspop von Tocotronic, Jochen Distelmeyer oder Ja, Panik, der von Zeitschriften wie “Spex” und “Intro” abgefeiert, aber so richtig dann doch von niemandem verstanden wird, auf der anderen die gefühligen Singer/Songwriter, deren Songs die Musikredaktionen deutscher Radiosender vor zehn Jahren noch den Kollegen von WDR 4 rübergeschoben hätten. Indie ist nicht nur Mainstream geworden, sondern in Teilen auch zum Schlager geronnen.

Als vor sieben, acht Jahren die “neueste deutsche Welle” ausgerufen wurde, weil Bands wie Wir Sind Helden, Juli oder Silbermond plötzlich in Sachen Absatzzahlen und Airplay erfolgreich waren, war schon zu befürchten, als was für eine Farce sich die Geschichte wiederholen würde. So wie Anfang der Achtziger auf Kraftwerk, Ideal und die Fehlfarben irgendwann Markus, Hubert Kah und Fräulein Menke gefolgt waren, würde auch diesmal das ganze System in sich zusammenstürzen, bis nur noch ein paar One Hit Wonder für den Nachfolger der “ZDF-Hitparade” übrig blieben und dann würde über Jahre kein Label mehr deutschsprachige Musiker unter Vertrag nehmen und kein Radiosender sie spielen.

Doch es kam schlimmer als befürchtet: Der Erfolg von Bands wie Silbermond, Revolverheld oder Culcha Candela erwies sich als einigermaßen nachhaltig und die ganzen verzweifelten Nachzügler-Signings, die den Plattenfirmen in den Achtzigern irgendwann um die Ohren geflogen waren, erwiesen sich jetzt, in den Zeiten ihrer schlimmsten Krise, zumeist als güldene Glücksgriffe. Die verdammte Blase wollte einfach nicht mehr platzen!

Als Andrea Berg bei der diesjährigen Echo-Verleihung ein wenig patzig mehr als nur eine Schlager-Kategorie beim deutschen Musikpreis einforderte, brachte das die ohnehin schlechte Stimmung in der Halle nicht gerade nach vorne. Dabei waren unter der Überschrift “Album des Jahres (national oder international)” folgende Werke nominiert gewesen: “Große Freiheit” von Unheilig, “Schwerelos” von Andrea Berg, das “Best Of” von Helene Fischer, “My Cassette Player” von Lena und “A Curious Thing” von Amy Macdonald. Es muss schon ein erstaunlicher gesellschaftlicher Wandel stattgefunden haben, wenn die junge, weibliche Antwort auf Chris de Burgh und das Album der deutschen ESC-Teilnehmerin (“Schlager-Grand-Prix”, wie manche Menschen heute noch sagen) die unschlagerhaftesten Vertreter bei den meistverkauften Alben des Jahres darstellen.

Moderatorin Ina Müller hatte bei der Verleihung des Volksmusik-Echos an die Amigos lautstark dazu aufgerufen, die Wände zwischen den Schubladen einzureißen, dabei wollten die anwesenden coolen und klatschfaulen Rockstars und Plattenfirmenmenschen sich nur nicht eingestehen, dass das längst geschehen war. Quer durch alle Kategorien nominiert waren ein zotteliger Geiger, der sich kommerziell erfolgreich an der Interpretation von Rocksongs versucht hatte; ein alternder Chansonnier; ein jugendlicher Chansonnier; eine Opernsänger-Boygroup, die Popsongs nachschmettert; der Erfinder des Gothic-Schlagers und nicht zuletzt Ina Müller selbst, deren Songs von Frank Ramond geschrieben werden, der seit Jahren mit seinen augenzwinkernden Wortspielereien für Annett Louisan, Barbara Schöneberger und Roger Cicero den Massengeschmack trifft wie kaum ein Zweiter.

Was uns zu Casper bringt, jenem “Konsens-Rapper”, dessen Album “XOXO” überraschend, angesichts des medialen “Geheimtipp”-Overkills im Vorfeld aber durchaus konsequenterweise auf Platz 1 der Charts eingestiegen war. Dies ist die Stelle, an der ich fairerweise erklären sollte, dass ich bis auf wenige Ausnahmen mit deutschsprachigem Hiphop so rein gar nichts anfangen kann. Das war in den 1990ern noch ganz lustig, als alle wie die amerikanischen Vorbilder auf dicke Hose machten, missfällt mir jetzt aber zunehmend. Dabei will ich nicht mal ausschließen, dass man auch auf Deutsch hintergründige, witzige und gute Texte rappen kann — allein mangelt es den meisten Vertretern dieses Genres schon an den dafür notwendigen Fertigkeiten, sprich: Skills. Es reicht mir nicht, wenn sich einer holprig durch die Sätze quält. Womöglich fehlt mir das notwendige Enzym oder Gen, aber in meinen Ohren fällt “Das war’s. Auf das, was war / Zwischen all den Ficks auf dem Tisch aus dem Glas / Und hätt’ ich dich nie gekannt / Wär’ der Ben bloß der Casper der rappt / Aber du wärst nur die Frau von der Bar” (Casper) sprachlich und inhaltlich sogar noch hinter “Verpiss dich / Ich weiß genau, Du vermisst mich” (Tic Tac Toe) zurück. ((“Aus”! “Dem“! “Glas”! Alter, was ist mit Dir nicht in Ordnung?!)) Wenn das “Studentenrap” sein soll (und Sie müssen sich das auch noch in Caspers Schiffschaukelbremserstimme vorstellen), kann ich auf eine Begegnung mit “Sonderschülerrap” bestens verzichten.

Doch die Vertonung von Tagebucheinträgen wird geschätzt. Es ist eine “neue”, womöglich “schonungslose Offenheit”. Klopstock 2.0. Da ist es auch nicht verwunderlich, dass Tomte-Sänger Thees Uhlmann (der mit Casper bei gleich zwei Tracks kooperiert) auf seiner ersten Solo-Single tote Fische besingt.

Doch, tatsächlich: “Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf” verkündet er und preist auf seinem Album wie in zahlreichen Interviews das Dorfleben. Bei Tomte hatte er noch davon gesungen, “sein Versagen nicht länger Überzeugung zu nennen”, auf seinem selbstbetitelten Solodebüt zelebriert er jetzt genau das. Von Journalisten lässt er sich dabei mit Bruce Springsteen vergleichen — und wenn die es nicht tun, macht er es eben selbst. Zwar konnte nicht einmal der Boss über eine Supermarktkassiererin singen, ohne dass man vor Fremdscham in einen Turm aus Konservendosen springen wollte, aber das hält Uhlmann nicht davon ab, dieses Feld mit “Das Mädchen von Kasse 2” noch einmal zu beackern. Ich erkenne den Versuch an, den gesellschaftlich Übersehenen ein Denkmal bauen zu wollen, aber, Entschuldigung!, das konnten Pur besser — und die mussten dafür zur Strafe im Studionebel der “Hitparade” stehen.

Überhaupt müssen wir Abbitte leisten bei Pur, der Münchener Freiheit, Reinhard Mey, Wolf Maahn, Heinz-Rudolf Kunze, Klaus Lage, Bap, Purple Schulz und vor allem bei Udo Jürgens. ((Nicht jedoch und unter keinen Umständen bei Marius Müller-Westernhagen.)) Von mir aus soll Tim Bendzko nur noch kurz die Welt retten wollen und Andreas Bourani (dessen “Nur in meinem Kopf” ich für ein paar Wochen sogar ziemlich toll fand) wie ein Eisberg glänzen und scheinen wollen, aber dann können wir nicht mehr mit dem Finger auf die Leute zeigen, die ein paar Jahrzehnte zuvor das Gleiche gemacht haben.

Die Uhlmann’schen Heimatmelodien und die ganzen waschlappigen Liebesbeteuerungen der jungen Liedermacher sind die popkulturelle Rückkehr zum Biedermeier. Sie liefern das “kleine bisschen Sicherheit” in “dieser schweren Zeit”, das Silbermond schon vor zweieinhalb Jahren eingefordert hatten. Dieser Eskapismus ins Innerste zeigte sich dann auch am Treffendsten im Namen jener Band, die sich beim Bundesvision Song Contest einen Moment wünschte, der “echt” und “perfekt” ist: Glasperlenspiel. Hermann Hesse ist ja tatsächlich das, was uns am volkswirtschaftlichen Abgrund noch gefehlt hat: Wanderungen durch Indien, ein bisschen Metaphysik und dann hinein in die Selbstauslöschung. Die Bücher von Margot Käßmann verkaufen sich schon verdächtig gut.

Gewiss, das alles sind Geschmacksfragen. Und die kann man sich ja oft genug selbst nicht beantworten. Ich verstehe zum Beispiel nicht, warum ich das Debütalbum von Gregor Meyle (Zweiter bei Stefan Raabs vorletzter Casting-Show) immer noch ganz charmant finde, beim ähnlich romantisch gelagerten Philipp Poisel aber immer kurz vor der Selbstentleibung stehe. ((Poisel hat allerdings auch eine Stimme, auf die ich mir körperlicher Abneigung reagiere — wobei mir der nasale Gesang eines Billy Corgan oder das Röhren eines Kelly Jones immer gut gefallen hat.))

Vielleicht hängt meine Abneigung auch mit der Sprache zusammen, wobei Thees Uhlmann gleich das beste Gegenargument gegen diese These ist, denn bei Tomte waren seine Texte ja über weite Teile noch unpeinlich bis großartig. Andererseits: Eine Aussage wie “Du hast die Art verändert, wie Du mich küsst” würde man ohne zu Zögern dem Werk der Andrea Berg zuordnen. Auf Englisch taugt es beim Rapper Example zu einem der besten Songs des Jahres. Und irgendwie war es gar nicht so schlimm, als Prince oder Chris Martin auf Englisch sangen, der Verflossenen niemals Kummer bereitet haben zu wollen. Wenn jetzt einer singt, “Ich wollte nie, dass Du weinst”, wünscht man sich doch dringend Rammstein herbei, die bitte das genaue Gegenteil deklamieren sollen, nur damit mal ein bisschen Leben in der Bude ist.

“Keiner, wirklich keiner, braucht deutsche Songwriter” singt Friedemann Weise in seinem sehr unterhaltsamen Lied, das nur einen kleinen Haken hat: Das einzige, was noch schlimmer ist als schonungslose Offenheit in Liedtexten, ist ungehemmte Ironie. Deswegen sind die Toten Hosen bei all ihrer Schlimmheit immer noch den Ärzten vorzuziehen, die jedweden Hinweis auf eine Haltung vermissen lassen.

Die zentrale Frage jedoch bleibt: Warum sind heute Musiker mit Texten erfolgreich, die junge Menschen noch vor wenigen Jahren rundheraus als kitschig abgelehnt hätten? Sind die Hörer sensibler geworden oder nur toleranter? Und was hat das alles mit der WM 2006 zu tun?

Offenlegung: Ich habe an der diesjährigen Echo-Verleihung mitgearbeitet und bin mit einigen der hier gedissten Künstler persönlich bekannt.

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Musik Sport

Und wieder mal besiegt

Nach der desaströsen letzten Saison und dem Abstieg aus der 1. Bundesliga muss sich einiges ändern beim VfL Bochum. Deshalb kam es zur Gründung der Initiative “Wir sind VfL”, die es sich zum Ziel gesetzt hat, “die bestehenden Vereinsstrukturen und die sportliche Zukunft des VfL Bochum nicht nur kritisch zu hinterfragen, sondern konstruktiv und offensiv mitzugestalten”.

Zur Unterstützung und Untermalung dieser Aktion hat mein Kumpel Tommy Finke ein Lied über den VfL aufgenommen:

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“Wir sind VfL (Jetzt erst recht!)” kann man sich auf Tommys Website kostenlos herunterladen.

Nach “Das hier ist Fußball” von Thees Uhlmann über den FC St. Pauli fehlt mir jetzt eigentlich nur noch ein Borussia-Mönchengladbach-Song von Simon den Hartog in meiner Sammlung.

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Musik Leben

Von Windeln verweht

Die frühere NASA-Astronautin Lisa Nowak muss 50 Sozialstunden ableisten und an einem achtstündigen anger-management Seminar teilnehmen, das entschied jetzt ein Gericht in Florida.

Nowak hatte vor fast drei Jahren eine ganz besondere Form der Berühmtheit erlangt, als sie 900 Meilen am Stück mit ihrem Auto fuhr (wichtiges Detail: sie soll während der Fahrt Windeln getragen haben, um nicht anhalten zu müssen), um der neuen Freundin ihres früheren Geliebten Pfefferspray ins Gesicht zu sprühen.

Die Geschichte ist popkulturell auf ewig festgehalten in einem Song, den Ben Folds am darauf folgenden Abend in der Kölner Live Music Hall improvisierte (in meinem Beisein, wohlgemerkt!), und der später in leicht veränderter Form unter dem Titel “Cologne” auf seinem dritten Soloalbum “Way To Normal” veröffentlicht wurde:

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Den Titel dieses Eintrags habe ich schamlos bei Thees Uhlmann geklaut.

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Musik Digital

Internetversteher unter sich

Ich muss zugeben, nie der große Blumfeld-Fan gewesen zu sein. Deswegen war es mir auch einigermaßen egal, dass deren früherer Frontmann Jochen Distelmeyer vor kurzem bei einigen Konzerten neue Songs vorstellte, die auf seinem Solo-Debüt “Heavy” (VÖ: 25. September) enthalten sein werden.

Einige dieser Songs wurden – wie heutzutage allgemein üblich – mit Handy- oder Digitalkameras aufgenommen und kurz danach bei YouTube hochgeladen. Dort blieben sie nicht allzu lange stehen: Sie wurden mit Hinweis auf Urheberrechtsverletzungen gelöscht, wie der Popkulturjunkie gestern in einem Eintrag dokumentierte.

Seine Überschrift ließ keinen Zweifel daran, wer hier der Schuldige sein müsste:

Sony hat das Internet immer noch nicht begriffen

In den Kommentaren ergoss sich schnell der übliche “Wir hier unten, die da oben”-Sermon von

ich finde das äußerst begrüßenswert wenn sich sony selbst ins bein schießt, je früher medienkonzerne aller art krepieren desto besser.

bis hin zu

Memo an mich selbst: Kauf von Sony Produkten meiden!

Als Christian Ihle höflich anfragte, ob es nicht viel einfacher sein könnte und weder Distelmeyer noch die Plattenfirma das Risiko eingehen wollten, dass die Leute die neuen Songs in schlechter Qualität hörten (weil das “den Buzz zerstören würde”), wurde diese Möglichkeit mit dem Hinweis abgebügelt, so schlecht sei die Qualität nun auch wieder nicht gewesen.

Ich hab heute einfach mal Jochen Distelmeyers Manager Oliver Frank nachgefragt, wie es denn zu der Löschung gekommen sei. Der sagte mir, er habe während der Tour beobachtet, dass immer mehr Mitschnitte aus den Konzerten hochgeladen wurden, und – “weil wir nicht so früh in den Wettbewerb ‘Wer stellt das wackeligste Video ins Netz?’ einsteigen wollten” – Distelmeyers Plattenfirma Sony Music gebeten, etwas dagegen zu unternehmen.

Oliver Frank meinte weiter, dass es nicht nur immer die “bösen Konzerne” seien, die Trends wie das Hochladen ganzer Konzerte skeptisch sehen, sondern häufig auch die Künstler selbst. Man käme sich vor den hochgereckten Kameras im Publikum ja manchmal vor wie vor einer Busladung Touristen.

Ich weiß, dass es vielen Künstlern gerade bei neuem Material ähnlich geht, und ich kann das verstehen: Man verbringt doch nicht Monate im Studio, damit die Hörer dann eine übersteuerte, verquatschte und womöglich noch nicht mal fehlerfreie Liveversion als ersten Eindruck bekommen.

[Zwischenruf: “Dann braucht man doch gar nicht mehr live zu spielen!”]

Äh, doch. Es ist ja was anderes, ob dreihundert Menschen so eine Version einmal hören, oder sich ein paar Tausend diese Version immer und immer wieder anschauen können.

Man kann das als Musiker natürlich auch anders sehen und wie Thees Uhlmann sagen: “Film das und stell das online!”, aber das ist ja dann eine bewusste Entscheidung des Künstlers:

Tomte – "der letzte große Wal" aufm Fest van Cleef 2008

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(Ben Folds nutzt die YouTube-Mitschnitte seiner Konzerte ja bekanntlich, um aus wüsten Improvisationen Albumtracks zu zaubern.)

Ich finde es legitim, wenn ein Musiker wenigstens im Vorfeld einer Albumveröffentlichung versucht, die Kontrolle über seine Songs zu behalten. (Und Jochen Distelmeyer hat ja durchaus schon einen Song, der nicht die Single wird, zum Durchhören auf seine Website gestellt.) Nach der Veröffentlichung gehören die Songs ja sowieso den Menschen, wie Fran Healy so schön sagt — auch wenn manche das mit dem “gehören” vielleicht ein bisschen zu wörtlich nehmen.

Das Management von Jochen Distelmeyer hat übrigens angedeutet, dass die Löschung die letzte gewesen sein wird.

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Musik

The Great Pretenders

Thees Uhlmann und Simon den Hartog.

In unserer beliebten TV-Serie “Thees Uhlmann und Simon den Hartog singen …” hatten wir schon einen Tomte-Song und ein Killers-Cover.

Fehlt noch was? Klar: Ein Kilians-Song!

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“Used To Pretend”, live beim Fest van Cleef in Essen am vergangenen Sonntag.

Bitte betrachten Sie dieses Video auch unter der Fragestellung, was Sänger so mit ihren Händen anstellen, wenn sie gerade keine Gitarre festhalten.

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Digital

Zensurlaub

Betriebsferien vom 18. bis zum 21. Juni

Die Kommentarfunktion wird in guter alter sueddeutsche.de-Manier von Donnerstagabend bis Montag früh deaktiviert sein.

Gehen Sie so lange doch mal an die frische Luft, treffen Sie sich mit echten Menschen oder lesen Sie einfach mal ein Buch!

Alternativ können Sie sich natürlich auch für die nächsten dreieinhalb Tage angucken, wie Thees Uhlmann und Simon den Hartog “Human” von den Killers spielen:

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Musik

Er war ein guter Simon

Gestern Abend war ich beim Konzert von Tomte in Mülheim an der Ruhr. Erwarten Sie keine allzu differenzierte Kritik — es war toll!

Und weil ja gerade Kilians-Festspiele sind, passt es natürlich supergut ins Konzept, dass da ein junger Mann auf die Bühne schlurfte, um die zweite Strophe von “Ich sang die ganze Zeit von Dir” zu schmettern:

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“Wer war das?” – “Das ist mein unehelicher Sohn, den ich in Mülheim hab. Mit einer wunderschönen Frau!”

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Musik

Get The Patina Started

Im Mai 2006, keine vier Monate, nachdem ich ihm die Kilians-Demo in die Hand gedrückt hatte, trafen Thees Uhlmann und ich in der Bochumer Zeche erneut aufeinander. Thees war Juror beim Nachwuchsbandwettbewerb einer großen Brauerei, ich war Zuschauer und diesmal völlig unschuldig. Es spielten drei oder vier oder fünf Bands und ich kann mich noch an zwei erinnern: die eine spielte Ska und hatte ihren ganzen Fanclub mitgebracht, die andere spielte Akustikrock und hatte den Vater eines Bandmitglieds als Percussionisten dabei.

Letztere Band hieß Black Rust und kam aus Ahlen. ((Ich werde mich hüten, irgendwas über kleine Städte zu schreiben, aus denen Bands kommen.)) Sie gewann die Publikumsabstimmung, ich erschwatzte mir am Merch-Stand eine Demo-CD für den Radioeinsatz ((Mir fällt in diesem Moment ein, dass ich die CD nie zur Abhörsitzung bei CT das radio mitgenommen habe. Ich bin gerne bereit, die zehn Euro nachträglich zu bezahlen, weil dieses Verhalten unentschuldbar ist — aber auch unerheblich für den weiteren Verlauf der Geschichte.)) und die Band spielte ein paar Wochen später – history does repeat – als Support für Tomte. Das Area-4-Festival, für das man bei dem Nachwuchswettbewerb einen Auftritt gewinnen konnte, fand nie statt.

Danach spielten Black Rust noch beim Haldern Pop 2007 (wo ich sie verpasste) und fortan hörte ich nichts mehr von ihnen. Um so überraschter war ich, als ich im letzten Dezember plötzlich hörte, dass die Band bald ihr offizielles Debütalbum veröffentlichen würde — produziert von niemand geringerem als dem Sophia-Mastermind Robin Proper-Sheppard.

Okay, von den Einflüssen des Düsterpop-Mannes hört man auf “Medicine & Metaphors”, das am heutigen Freitag erschien, auf Anhieb nicht ganz so viel, aber sowas spricht ja eher für die Band und ihre eigenen Qualitäten. Black Rust spielen Folkrock im weitesten Sinne, der mal nach Counting Crows, mal nach Goo Goo Dolls und mal an die Wallflowers erinnert. Musik amerikanischer Prägung also, die man sich wunderbar als Untermalung irgendwelcher romantischer Komödien und höherwertiger TV-Serien vorstellen kann.

“Empty Park. Empty Street.” erinnert stark, aber nicht zu sehr, an Ryan Adams und seine alte Band Whiskeytown; “Silent Lament” hat eher was von Damien Rice, weil es einerseits sehr reduziert mit einem Klavier und der angenehmen Stimme von Jonas Künne daherkommt, andererseits Dank eines Streichinstruments ((Da merkt man meine sehr begrenzte Kompetenz im Bezug auf Musikinstrumente, die nicht in meinem Keller stehen.)) eine enorme Opulenz entwickelt.

Ob es gleich 13 Songs und fast 57 Minuten Spielzeit voller Akustikgitarren, Kontrabässe und Mandolinen sein mussten, ist allerdings eine berechtigte Frage. Schlecht oder störend ist dabei kein einziges Lied, aber es zieht sich halt etwas, bis das Album schließlich mit dem Übersong “Marlene (6:54 Minuten, inkl. Wieder-Fade-In) seinen krönenden Abschluss findet.

Man ist versucht zu schreiben, dass Black Rust “erfrischend un-deutsch” klängen, aber dafür müsste man erstmal sagen, welche englischsprachige Band aus Deutschland eigentlich “deutsch” klingt. Jetzt von Reamonn mit ihrem irischen Sänger mal ab.

Black Rust - Medicine & Metaphors (Albumcover)
Black Rust – Medicine & Metaphors

VÖ: 30. Januar 2009
Label: Strange Ways
Vertrieb: Indigo

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Musik

Track by track: Tomte – Heureka

Ich habe diesen Text wochenlang vor mir hergeschoben, aus einem einzigen Grund: Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich einen Disclosure setzen soll oder nicht.

Wenn ich schriebe, dass ich schon seit längerem riesiger Tomte-Fan bin, mit Tomte-Sänger Thees Uhlmann schon einige Male verschiedene Alkoholika zu mir genommen habe, und ihm eine Demo der Kilians zugesteckt habe, woraufhin er die Band ganz groß rausgebracht hat, könnte mir das leicht als eitle Protzerei ausgelegt werden.

Wenn ich es nicht schriebe, käme aber garantiert jemand an, der mir noch engere Beziehungen zu Band, Sänger und Label unterstellen und mich als Beispiel für die Verlogenheit und den Inzest im Musikjournalismus hinstellen würde.

Suchen Sie sich also aus, ob Sie die nun folgende Track-by-track-Analyse des neuen Tomte-Albums “Heureka” mit oder ohne Disclosure im Hinterkopf lesen wollen.

Wenn Ihnen die Textzeilen

Und wir heben unser Glas in Demut
Ich erinner’ mich an alles und jeden
Such Dir jemanden, der Dir nicht wehtut
Du nennst das Pathos, und ich nenn’ es Leben

allerdings schon Zuviel des Guten sind, sollten Sie aber sowieso nicht weiterlesen.

Und jetzt fange ich endlich an:

Heureka
Einen Titeltrack auf einem Tomte-Album gab es zuletzt auf “Eine sonnige Nacht”, aber diese Information hat allenfalls statistischen Wert, denn “Heureka” beginnt mit einem Klavier. Thees Uhlmann singt Zeilen, die ausschließlich aus Vokalen bestehen, und hört damit in den nächsten 51 Minuten nicht mehr auf. “Du bist nicht gestorben: Heureka!”, jubiliert er im Refrain und schließt mit “Man vermisst, was einen jeden Tag umgibt”. Die küchenpsychologische Deutung: trotz aller Widrigkeiten und Umbesetzungen sind Tomte immer noch da und jetzt wollen sie weitermachen.

Wie ein Planet
Iggy Pops “Passenger” klopft sehr deutlich an, ehe Herr Uhlmann erstmal leiden darf. Im Refrain schwingt es im Vier-Viertel-Takt Sixties-mäßig vor sich hin. “Das ist die Zeit, das Leben sei schön”, heißt es im Refrain und aus dieser Jetzt-erst-Recht- und Das-passt-schon-alles-Umarmung kommt der Hörer auch nicht mehr raus.

Der letzte große Wal
Die Single. Nach einer Eingewöhnungsphase ein unglaublich großer Song. Der letzte Überlebende in einer Welt, in der sich alles geändert hat: Thees Uhlmann? Vielen Musikern würde ich so viel Selbstvertrauen und Ich-Bezogenheit übel nehmen, bei Uhlmann passt das einfach: man weiß, dass er ungeschützt hinter jedem “Ich” steht, dass er meint, was er singt. Andererseits ist spätestens jetzt die Gelegenheit, das erste Mal Dennis Becker zu loben, den vermutlich besten Gitarristen des Landes.

Wie sieht’s aus in Hamburg?
Auf “Buchstaben über der Stadt” ging es noch um “New York”, jetzt ist’s eine Nummer kleiner: Der zurückgelassene Freund in Hamburg bekommt das Denkmal gebaut, das er verdient hat. Der Refrain schrammt mit Akustikgitarre, Klavier und Satzgesang haarscharf an der Cheesyness vorbei, dann kommt ein zweistimmiges Gitarrensolo. Das wird ja über Uhlmann und seine Texte gern vergessen: wie gut die alle als Musiker sind.

Voran voran
Orgel. Bedeutungsschwere. Coldplay-Gefühl. Und dann plötzlich Elektrobeats. Spätestens jetzt wird klar, dass Tobias Kuhn (Ex-Miles, Monta) als neuer Produzent genau den frischen Wind gebracht hat, den eine Band auf dem fünften Album braucht. Der Refrain ist so sehr Stadionhymne, dass man die geschwenkten Feuerzeuge förmlich riechen kann. “Ich ziehe das durch”, singt Uhlmann und wer hätte das Recht, das in Frage zu stellen.

Küss mich wach Gloria
Musikalisch ist es England zwischen den Siebzigern und Achtzigern, trotzdem braucht das Lied gut zweieinhalb Minuten, um aus dem Quark zu kommen. Das oben aufgeführte Pathos-Zitat stammt hierher und ich kann mir gut vorstellen, dass man dieses Lied unglaublich schlimm und prätentiös finden kann. Nur: ich mag es. Uhlmann braucht halt seine persönlichen “Live Forevers”.

Es ist so dass Du fehlst
Akustikgitarren, Dreivierteltakt, Einsamkeit. Irgendwie klingt auch das nach Coldplay, aber nach deren Debüt. Melancholie und Zuflucht, “Du bist das Beil, ich bin der Wald”. Schön, aber ein bisschen was fehlt dann doch.

Und ich wander
“Du schlägst Dich durch Dein Leben wie ein Kolibri fliegt” ist natürlich auch wieder so ein Zitat, bei dem es sehr darauf ankommt, von wem es stammt. Die Musik klingt genauso wie die besungene Wanderung (“durch die warme Nacht”) und wenn man dieses Lied unterwegs auf dem MP3-Player hört, fühlt man sich so verstanden und beschützt.

Du bringst die Stories (Ich bring den Wein)
Schon musikalisch ist es Lied unglaublich _uplifting_. Dass Uhlmann offenbar einmal mehr eine Männerfreundschaft besingt, wirft die Frage auf, ob Frauen Tomte eigentlich genauso schätzen. “Wenn Du nichts mehr hast, hast Du immer noch mich, denn ich plane zu bleiben, mein Freund!” — Was müssen das für glückliche Menschen sein, die solche Lieder geschrieben bekommen?

Das Orchester spielt einen Walzer
Als ich “Heureka” zum ersten Mal hörte, ging ich zu Fuß durch die niederrheinische Landschaft. Bei diesem Lied saß ich unten am Fluss und starrte auf das Wasser. Insofern ist das Lied für mich vielleicht mit etwas zu viel Dramatik und Bedeutung aufgeladen, und ehrlich gesagt ist es das schwächste Lied auf dem Album. Trotzdem kommt hier die zentrale Zeile des Albums vor: “Mein Gott, ist das Leben schön”. Wenigstens für einen Moment sollte die Frage erlaubt sein, ob glückliche Künstler nicht unerträglich sind.

Nichts ist so schön auf der Welt wie betrunken traurige Musik zu hören!
Ja, die Songtitel auf diesem Album sind mitunter etwas überambitioniert. Und mit den Tomte-Liedern über Musik könnte man ein eigenes Album füllen. Und überhaupt: sechs Minuten! Wir befinden uns halt mitten in dem Teil der Platte, den ich objektiv als eher mäßig gelungen bezeichnen würde. Wie das Lied allerdings in der Mitte plötzlich loslegt und sich um sich selbst windet, das ist schon sehr Seattle in den frühen Neunzigern. Man weiß, wie es gemeint ist.

Dein Herz sei wild
Irgendwann zwischendurch hatten Tomte auch mal die Back-to-the-roots-Parole ausgegeben. Sie manifestiert sich in diesem Viereinhalb-Minuten-Stück, das auch auf den ersten beiden Alben hätte sein können. Irgendwie auch mehr ein “Pfffffff!”- als ein “Wow!”-Lied.

Voran voran (Laut)
Nochmal “Voran voran”, diesmal The Clash statt Coldplay. Das macht es natürlich anders, aber auch gut. Als Rausschmeißer ist dieser Bonustrack deutlich besser geeignet als “Dein Herz sei wild”, denn er macht die vorherigen Hänger wieder wett.

Fazit
So großartig das Album zu Beginn ist, so sehr baut es doch nach hinten hinaus ab. Zehn Songs statt 13 hätten es auch getan, denn dann stünde es “Hinter all diesen Fenstern” und “Buchstaben über der Stadt” in nichts nach.

Man muss “Heureka” aber wohl als Selbstfindungsprozess und Standortbestimmung hören. Immerhin hat man es hier mit einer Band zu tun, die im Vergleich zum Vorgängeralbum quasi zur Hälfte umgestellt wurde (Timo Bodenstein und Olli Koch raus; Max Martin Schröder am Schlagzeug, statt an den Keyboards; Simon Frontzek an den Keyboards), und die sich gleichzeitig weiterentwickeln und auf ihre Wurzeln besinnen will. Gemessen daran ist “Heureka” erstaunlich rund und stimmig geworden.

Die Hymnen sind noch ein bisschen größer geworden, die Rocker wieder ein bisschen wütender. Tomte sind immer noch da und sie planen zu bleiben. Und Thees Uhlmann ist der letzte große Wal.

Tomte - Heureka (Albumcover)
Tomte – Heureka

VÖ: 10.10.2008
Label: Grand Hotel van Cleef
Vertrieb: Indigo

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Rundfunk Radio Musik

Merkt ja eh keiner (1)

Es ist ja nicht so, dass ich morgens aufstehe und denke “Was könnte ich heute mal Böses über den WDR schreiben?” Das machen die ja alles selber.

Gestern war Thees Uhlmann zu Gast im “1Live Kassettendeck”, das vom Konzept her eine Super-Radiosendung ist und deshalb um Mitternacht laufen muss: Ein Promi (meist Musiker) stellt eine Stunde lang Songs vor, die ihm sein Leben lang oder gerade jetzt im Moment wichtig sind. Gestern also der Sänger der “umstrittenen Band Tomte” (O-Ton welt.de, wo man auch nicht nach gutem Musikjournalismus suchen sollte).

Thees erzählte also und spielte Songs (Rod Stewart, Kool Savas, Escapado) und sagte nach jedem Lied, wer er ist und was wir da hören (ist ja Radio). Und dann kündigte er wortreich “Rain On The Pretty Ones” von Ed Harcourt an, zitierte noch aus dem Text (“I’m the Christian, that cannot forgive”, “I’m the hunter, who’s killed by his dog”) und sagte “Hier ist Ed Harcourt mit ‘Rain On The Pretty Ones'”.

Und was lief? Ed Harcourt mit “Late Night Partner”. Auch schön, sogar vom gleichen Album, aber ein ganz anderer Song. Auch, wenn er von Thees mit “Das war Ed Harcourt mit ‘Rain On The Pretty Ones'” abmoderiert wurde.

Nun ist es ja nicht so, dass da gestern Nacht ein übernächtiger Thees Uhlmann im 1Live-Studio gesessen und unbemerkt den falschen Track gefahren hätte: Weil man einen Promi kaum eine Stunde im Studio halten kann (dichter Promo-Zeitplan!), lässt man ihn einfach alle Moderationstexte hintereinander aufsagen, wenn er eh grad mal für ein Interview da ist. Dann gibt er einen Zettel mit der Playlist ab und irgendjemand muss die Songs zwischen die Moderationen schneiden. Und dieser Jemand hat offenbar einen Fehler gemacht.

Das ist kein großes Drama, kein Skandal und kein Eklat. Es ist nur ein Beispiel, warum es mir so schwer fällt, Medienschaffende in diesem Land ernst zu nehmen: Weil sie ihre Arbeit selbst nicht ernst nehmen.

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Musik

Der erste Sonnenstrahl

Wenn Thees Uhlmann gerade mal nicht gemeinsam mit irgendwelchen Nachwuchsjournalisten irgendwelche Nachwuchsbands entdeckt oder mit Feridun Zaimoglu und einem Fernsehteam eine Nacht in Swansea verbringt (falls Sie das verpasst haben: es war großartig, unbedingt die Wiederholungen anschauen!), ist er immer noch Sänger der Band Tomte.

Diese wird im Oktober ihr fünftes Album “Heureka” veröffentlichen, welches sich durch die Single “Der letzte große Wal” ankündigt.

Und die klingt so sieht so aus:

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Okay, die Idee ist ein bisschen bei Snow Patrol geklaut, aber trotzdem sehr charmant.

Es ist übrigens das erste Video mit dem neuen Keyboarder Simon Frontzek, der diesmal lustigerweise Bass spielt, weil ja auch Olli Koch die Band leider aus gesundheitlichen Gründen verlassen musste.

[via Popkulturjunkie]