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Musik Leben

18 Jahre, 18 Songs

Für Gün­ter und Jür­gen, die ich ohne die­ses Blog nie ken­nen­ge­lernt hät­te.
Und für Dör­te, die immer alles gele­sen hat.

Es war die nahe­lie­gends­te Idee der Welt: Zum 18. Geburts­tag des Blogs wäh­le ich einen Song aus jedem Jahr aus — fer­tig ist die Play­list!

Aber nach wel­chen Kri­te­ri­en? Ein­fach das Lied neh­men, das jeweils mei­ne Lis­te „Song des Jah­res“ ange­führt hat? Das wäre ja ein biss­chen lang­wei­lig — und sol­che Lis­ten gab es auch gar nicht in jedem Jahr.

Die Kaffeetasse aus dem ersten Coffee-And-TV-Logo

Also: 18 ande­re Songs. Wel­che, die ihr jewei­li­ges Jahr, aber auch die­ses Blog gut reprä­sen­tie­ren; die für mich eine per­sön­li­che Bedeu­tung haben; die ich auch heu­te noch höre. Eine halb­wegs aus­ge­wo­ge­ne Mischung aus Gen­res, Geschlech­tern und Spra­chen, also eben dann doch auch: Kon­text.

Und so wur­de aus einem klei­nen Gim­mick zum Jubi­lä­um eine aus­ufern­de Recher­che-Akti­on im eige­nen Leben ’n‘ Werk und einer der längs­ten Tex­te, der hier in den letz­ten 18 Jah­ren erschie­nen ist:

2007: Mika – Grace Kel­ly
Als die­ses Blog an den Start geht, sind Gitar­ren­mu­sik im All­ge­mei­nen und Indie­rock im Spe­zi­el­len noch ein Ding. Bei der damals noch statt­fin­den­den „Leser­wahl“ (ein Kon­strukt, das wir uns rela­tiv offen­sicht­lich von „Plat­ten­tests online“ abge­schaut haben), wird „A Weekend In The City“ von Bloc Par­ty (Wann habt Ihr zuletzt an die­se Band gedacht?) zum „Album des Jah­res“ gewählt und „Ruby“ von Kai­ser Chiefs (Oder an die­se Band?!) zum „Song des Jah­res“.

Auf mei­ner Jah­res­bes­ten­lis­te ganz vor­ne ist „Tonight I Have To Lea­ve It“ von Shout Out Louds, das ich auch ewig nicht mehr gehört habe. Und ganz ver­steckt, auf Platz 22: „Grace Kel­ly“ von Mika, ein etwas exal­tier­ter over-the-top-Pop­song mit Vau­de­ville- und Musi­cal-Anlei­hen von einem jun­gen Mann, den das Adjek­tiv „andro­gyn“ beglei­tet. (Es waren, wie gesagt, ande­re Zei­ten.) Ein Song, den mir „Plan B“, die etwas anspruchs­vol­le­re Musik­sen­dung von 1Live (ich unter­schied damals noch puber­tär zwi­schen „guter“ Indie- und „schlech­ter“ Main­stream-Musik; ande­re Zei­ten inde­ed), in die WG-Küche gebracht hat.

15 Jah­re spä­ter sit­ze ich beim Euro­vi­si­on Song Con­test in Turin in der deut­schen Kom­men­ta­to­ren­ka­bi­ne, zum neun­ten Mal als Assis­tent von Peter Urban, der wegen der aus­klin­gen­den COVID-19-Pan­de­mie von Ham­burg aus kom­men­tiert. Gelan­det war ich bei die­ser Ver­an­stal­tung über­haupt nur, weil Ste­fan Nig­ge­mei­er 2007 mei­ne Kom­men­ta­re in sei­nem Blog gele­sen und mich gefragt hat­te, ob ich mit ihm einen „Grand-Prix-Füh­rer“ schrei­ben wür­de. Der Rest ist Geschich­te, bzw. BILD­blog, Oslog, Dus­log, Baku­b­log, besag­ter Job als Kom­men­ta­to­ren-Assis­tent und mein Buch. Und die­ser Mika mit sei­nem Song über Grace Kel­ly (bzw. dar­über, wie man sich anpasst, um den Men­schen zu gefal­len) mode­riert da jetzt die­se Ver­an­stal­tung gemein­sam mit Lau­ra Pausi­ni und Ales­san­dro Cat­tel­an, er bringt inter­na­tio­na­len Gla­mour in eine (vor allem hin­ter den Kulis­sen) eher chao­ti­sche TV-Sen­dung und er singt ein Med­ley sei­ner Hits.

Es ist ein selt­sa­mer, rüh­ren­der full-cir­cle-Moment, der die größ­te Musik­show der Welt mit mei­ner alten WG-Küche und allem dazwi­schen kurz­schließt, und in einem Anfall von Geis­tes­ge­gen­wart und emo­tio­na­ler Über­for­de­rung schrei­be ich auf jener Social-Media-Platt­form, die damals noch Twit­ter heißt: „Es ist schön, an das Jahr 2007 erin­nert zu wer­den. Es ist noch schö­ner, dass in mei­nem Leben heu­te unge­fähr alles bes­ser ist als damals.“ Oder, mit Mikas Wor­ten: „Ca-ching!
[Songs 2007 von damals]

2008: The Hold Ste­ady – Con­s­truc­ti­ve Sum­mer
Die Leser*innen, die ich damals noch „Leser“ nen­ne, wäh­len „Sex On Fire“ von Kings Of Leon zum Song und „Heu­re­ka“ von Tom­te zum Album des Jah­res. Ich samm­le die wich­tigs­ten Nazi-Ver­glei­che (eine Kate­go­rie, der damals noch ein gewis­ser Unter­hal­tungs­fak­tor anzu­haf­ten scheint) und Barack-Oba­ma-Refe­ren­zen und arbei­te den Rest der Zeit fürs BILD­blog.

Mei­ne wich­tigs­te Quel­le für neue Musik ist „All Songs Con­side­red“, ein Pod­cast von NPR, der auch das Vor­bild für mei­ne eige­ne, kurz­le­bi­ge Musik­sen­dung bei Spo­ti­fy 2023/​24 wird. Hier sto­ße ich erst­mals auf The Hold Ste­ady, eine Band aus Brook­lyn (ursprüng­lich: Minneapolis/​St. Paul), die Geschich­ten von Ver­lie­rern und Under­dogs in hym­ni­schen Rock­songs erzählt wie sonst nur Bruce Springsteen. Ihr Album „Stay Posi­ti­ve“ bringt mich durch ein Jahr, von dem ich heu­te so gut wie nichts mehr weiß, des­halb las­se ich mir das Sym­bol vom Album­co­ver 2011 auf mei­ne Wade täto­wie­ren.

Auch ihre Musik bleibt: 2009 kau­fe ich mir alle Alben und höre sie rauf und run­ter (wie man es in einer Welt ohne Strea­ming eben so mach­te), 2010 rufe ich den „Con­s­truc­ti­ve Sum­mer“ aus: „We’­re gon­na build some­thing this sum­mer.“ Hier ent­ste­hen dann end­lich Erin­ne­run­gen, die für immer blei­ben wer­den, unter­malt von „Boys And Girls In Ame­ri­ca“, „Stay Posi­ti­ve“ und dem damals neu­en Nach­fol­ge-Album „Hea­ven Is When­ever“.
[Songs 2008 von damals]

2009: Kili­ans – Home­town
Nach über fünf Jah­ren im Stu­den­ten­wohn­heim muss ich mir mal lang­sam eine eige­ne Woh­nung suchen und ich über­le­ge: In Bochum blei­ben oder nach Ham­burg zie­hen? Es ist ein Jahr der gro­ßen Gefüh­le zwi­schen Welt erobern wol­len und zuhau­se ein­sper­ren, beglei­tet von der ganz gro­ßen, uner­füll­ten Lie­be.

Mei­ne Freun­de von den Kili­ans (Bru­der, Demo-CD, Thees Uhl­mann, Tom­te-Tour — you know the sto­ry!) ver­öf­fent­li­chen im April ihr zwei­tes Album „They Are Cal­ling Your Name“ und spie­len aus die­sem Anlass ein Kon­zert auf dem Hans-Böck­ler-Platz in Dins­la­ken, jener Stadt, in der wir alle – die Kili­ans, ich und die ganz gro­ße, uner­füll­te Lie­be – auf­ge­wach­sen waren. Ihr Song „Home­town“ ist das Ange­bot einer Hym­ne.

Die Band löst sich 2013 auf, da wird der Hans-Böck­ler-Platz gera­de mit einem Ein­kaufs­zen­trum über­baut. Wenn man heu­te „Dins­la­ken“ sagt, reagie­ren nicht mehr vie­le Men­schen mit „Aaaah, die Kili­ans!“ (aber – und das wird die Bür­ger­meis­te­rin freu­en – auch nicht mehr mit „Aaaah, der Wend­ler!“ oder „Aaaah, die Sala­fis­ten!“). Die Stadt hat sogar die Emscher­mün­dung ver­lo­ren. Aber Erin­ne­run­gen und Musik wer­den ja immer blei­ben.

(Ich ent­schei­de mich 2009 übri­gens für Bochum. My home­town.)

2010: Lena – Satel­li­te
„Irgend­wann musst Du Dir das mal vor Ort anschau­en“, hat­te Ste­fan Nig­ge­mei­er 2008 über den Euro­vi­si­on Song Con­test (damals und immer schon: „Euro­vi­si­on Song Con­test“) gesagt, aber weil Mos­kau schon damals kein Ort ist, an dem man ger­ne sein möch­te, ver­schie­ben wir unser Pro­jekt auf das Fol­ge­jahr und nach Oslo. Womit wir nicht rech­nen: dass in Deutsch­land ein regel­rech­ter ESC-Hype um eine 18-jäh­ri­ge Abitu­ri­en­tin aus Han­no­ver aus­bricht und die die­se merk­wür­di­ge Quatsch-Ver­an­stal­tung tat­säch­lich gewinnt. (Also: In der ers­ten Fol­ge des Oslog wet­te ich natür­lich genau das, aller­dings ohne auch nur einen ande­ren Wett­be­werbs­bei­trag zu ken­nen.)

Als altes Thea­ter-Kind zieht mich die jähr­li­che Leis­tungs­schau der Büh­nen­tech­nik-Indus­trie sofort in ihren Bann und auch musi­ka­lisch ist das alles gar nicht mehr so schlimm, wenn man es nur oft genug gehört hat. Aber trotz der ein­schnei­den­den, im Nach­hin­ein lebens­weg­wei­sen­den Erfah­rung in Oslo traue ich mich nicht, „Satel­li­te“ auf mei­ne Jah­res­bes­ten­lis­te zu packen. Da sol­len auch wei­ter nur Indie-kre­di­be­le Sachen zu fin­den zu fin­den sein (und so igno­rie­re ich offen­bar auch das tol­le Take-That-mit-Rob­bie-Album „Pro­gress“ kom­plett). Das passt zu einem Jahr, in dem ich nicht gera­de dadurch auf­fal­le, irgend­wel­che Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, son­dern mich lie­ber vom Großstadt‑, vor allem aber Nacht­le­ben rund um mei­ne neue Woh­nung in der Innen­stadt mit­rei­ßen las­se und als neu­er BILD­blog-Chef in Talk­shows gehe und zu Jour­na­lis­ten­kon­gres­sen ins Aus­land flie­ge. („It’s phy­sics /​ There’s no escape.“)

Hier also spä­te Genug­tu­ung für einen Song und ein Ereig­nis, ohne die ich heu­te nicht da wäre, wo ich bin, und ohne die der ESC in Deutsch­land immer noch als „Schla­ger-Grand-Prix“ fir­mie­ren wür­de, bei dem man ohne­hin nichts rei­ßen kann.
[Songs 2010 von damals]

2011: Thees Uhl­mann – 17 Wor­te
Mein Kum­pel Thees Uhl­mann ist im Jahr 2011 wie so oft wei­ter als ich: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Ich bin vier bis fünf Aben­de die Woche im Frei­beu­ter im Bochu­mer Bermuda3eck und schrei­be neben­her das BILD­blog voll. Des­we­gen igno­rie­re ich Thees‘ selbst­be­ti­tel­tes Solo-Debüt damals auch rüpe­lig bei den „Alben des Jah­res“ (und lobe lie­ber das nächs­te ega­le Cold­play-Album), obwohl ich es wirk­lich oft höre.

Aber die­se Lis­te hier ist auch eine Chan­ce auf Wie­der­gut­ma­chung, denn sechs Jah­re spä­ter ste­he ich beim GHvC-Geburts­tag in Ham­burg im Nie­sel­re­gen: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Also völ­lig ande­re Prio­ri­tä­ten und Prin­zi­pi­en: „Mei­ne Wahr­heit in 17 Wor­ten: /​ Ich hab ein Kind zu erzie­hen /​ Dir einen Brief zu schrei­ben /​ Und ein Fuß­ball-Team zu sup­port­en.“ (Bei Erschei­nen des Albums hat­te ich Thees eine SMS geschrie­ben, dass das nur 16 Wor­te wären, weil man „Fuß­ball­team“ zusam­men­schrei­be. Sei­ne Ant­wort kam natür­lich prompt: „Fuß­ball Team!“)

2021 sehe ich Thees Uhl­mann und Band live im Burg­thea­ter in Dins­la­ken (weil: natür­lich). Es ist mein ers­ter Kon­zert­be­such seit andert­halb Jah­ren, mein Sohn ist an mei­ner Sei­te, mei­ne Eltern irgend­wo in mei­nem Rücken, der VfL Bochum ist auf­ge­stie­gen. Wei­te Tei­le der Öffent­lich­keit sind wäh­rend der immer noch anhal­ten­den Pan­de­mie dem Wahn­sinn anheim­ge­fal­len, aber als Thees „17 Wor­te“ spielt, macht für mich alles Sinn: Wir sin­gen, um uns zu erin­nern.
[Songs 2011 von damals]

2012: Car­ly Rae Jep­sen – Call Me May­be
Die­ser beklopp­te Euro­vi­si­on Song Con­test hat mich nach Aser­bai­dschan ver­schla­gen. Ich sit­ze in Baku im Hotel­zim­mer, gucke rus­si­sches Musik­fern­se­hen und sehe die­ses Video. Als der Song zu Ende ist, zap­pe ich wei­ter und sehe das glei­che Video auf dem nächs­ten Kanal direkt noch mal von vorn. „Komi­sche Rus­sen“, den­ke ich, will den Song bei Face­book pos­ten und stel­le fest, dass ich mit „Call Me May­be“ einen inter­na­tio­na­len Hit ver­passt habe.

Wahr­schein­lich ist es die­ser Moment, in dem ich die­ses eli­tär-puber­tä­re Musik-nur-gut-fin­den-wenn-sie-sonst-kei­ner-hört-Din­gen auf­ge­be und end­lich frei bin, Din­ge gut zu fin­den, nur weil ich sie gut fin­de. Um Din­ge auch öffent­lich gut zu fin­den (jeden­falls meis­tens), star­ten Tom The­len und ich im Blog unse­ren Kino-Pod­cast „Cine­ma And Beer“.

„Befo­re you came into my life /​ I missed you so bad“ ist immer noch eine der bes­ten Zei­len, die je über roman­ti­sche Lie­be geschrie­ben wur­de — und das waren ja nun wirk­lich nicht weni­ge. Car­ly Rae Jep­sen in der Köl­ner Essig­fa­brik ist im Febru­ar 2020 mein letz­tes Kon­zert vor dem Lock­down (ist es nicht Magie, wie hier alles inein­an­der­greift?!) und die fröh­li­che Stim­mung die­ses durch­aus ESC-taug­li­chen Publi­kums trägt mich durch die ers­ten, dunk­len Mona­te der Iso­la­ti­on.
[Songs 2012 von damals]

2013: Daft Punk feat. Phar­rell Wil­liams & Nile Rogers – Get Lucky
Ich sit­ze in einem Auto, das mich vom Hotel zur Mal­mö Are­na bringt, neben mir: ESC-Kom­men­ta­to­ren­le­gen­de Peter Urban. Als wäre das nicht schon absurd genug, wippt die­ser 65-jäh­ri­ge Mann zur Musik aus dem Auto­ra­dio mit: „Get Lucky“ von Daft Punk, Phar­rell Wil­liams und Nile Rogers. Natür­lich kennt er das, denn es ist ja ein inter­na­tio­na­ler Super­hit, dem man nur schwer ent­kom­men kann, und Peter wür­de auch jede Men­ge deut­lich obsku­re­re Songs mit­sin­gen, die in den letz­ten ca. 50 Jah­ren erschie­nen sind, aber irgend­wie über­rascht es mich in die­sem Moment doch, denn Daft Punk, das sind doch die von Viva 2 (wo sie jetzt zuge­ge­be­ner­ma­ßen auch nicht zwin­gend zur Avant­gar­de gezählt hat­ten).

Die Domi­no­stei­ne, von denen die­ses Blog der ers­te war, haben mich hier­her gebracht, ins Epi­zen­trum des Enter­tain­ments. Nur einen Monat spä­ter sol­len sie mich zum Late-Night-Mei­nungs­ma­ga­zin „Tages­schaum“ mit Fried­rich Küp­pers­busch füh­ren und von dort zu unse­rem gemein­sa­men Pod­cast „Lucky & Fred“. Das Leben meint es gut mit mir, beruf­lich wie pri­vat.
[Songs 2013 von damals]

2014: Andrew McMa­hon In The Wil­der­ness – High Dive
Ich hät­te immer gesagt, dass das Jahr 2014 hier im Blog gar nicht statt­ge­fun­den hat, aber es gibt doch eini­ge Ein­trä­ge aus die­ser Zeit — die meis­ten als Teil der kurz­le­bi­gen Serie „Song des Tages“. Ich erin­ne­re mich an nichts, weil ich zu sehr mit ande­ren Sachen beschäf­tigt bin: Umzug, neue Jobs, Hoch­zeit pla­nen und absa­gen, Vater wer­den, irgend­wie ver­su­chen, mei­ne Bezie­hung zu ret­ten. Alles Din­ge, auf die einen Pop­kul­tur nur unzu­rei­chend vor­be­rei­tet; alles Din­ge, die für Pop­kul­tur wenig Zeit las­sen.

Das ers­te neue Album, das ich mit mei­nem Sohn höre, ist das Solo­de­büt von Andrew McMa­hon, der mich mit sei­nen Bands Some­thing Cor­po­ra­te und Jack’s Man­ne­quin jetzt auch schon mehr als zehn Jah­re beglei­tet. Er ist auch gera­de Papa gewor­den, so kann ich die Ver­ar­bei­tung mei­ner Lebens­wirk­lich­keit wie­der mal auf ihn abwäl­zen und ein­fach sei­ne Songs hören. Obwohl wir doch noch jung sind, ist da viel Nost­al­gie in sei­nen Tex­ten wie „High Dive“, aber Face­book ersetzt Knei­pen­aben­de mit Freund*innen ja auch nur bedingt.

2015: Ben Folds feat. yMu­sic – Pho­ne In A Pool
2015 ist dann tat­säch­lich das Jahr, das nicht war, denn ich schrei­be sen­sa­tio­nel­le sie­ben Blog­ein­trä­ge, von denen die meis­ten ursprüng­lich Face­book-Posts waren. Offen­bar schaf­fe ich es immer­hin ein paar Mal ins Kino. (Ach, „The Force Awa­kens“ ist von 2015?!) Ich kann mich an nichts erin­nern und es geht mir wirk­lich nicht gut.

Ein biss­chen Trost kommt von mei­nem ewi­gen Hel­den Ben Folds, der gera­de die vier­te Schei­dung (von inzwi­schen fünf) hin­ter sich hat und mit dem Kam­mer­mu­sik-Ensem­ble yMu­sic ein Album ein­spielt, auf dem auch sein ers­tes Kla­vier­kon­zert zu hören ist. (Wir gehen alle unter­schied­lich mit Lebens­kri­sen um.) In „Pho­ne In A Pool“ berich­tet er: „Found the love of my life again /​ Y’all knows what I means /​ And I’ll be back on the sofa in a pudd­le in a cou­ple of weeks“. Bei all dem Elend ist es schön, dass jemand, der mich mein hal­bes Leben lang beglei­tet, immer noch Songs schrei­ben kann, die so gut zu mei­nem eige­nen Leben pas­sen. Natür­lich gibt es am Ende des Jah­res kei­ne Lis­ten — ich hab ja eh viel zu wenig Musik gehört und wann hät­te ich die denn noch schrei­ben sol­len?

2016: Weezer – Cali­for­nia Kids
Neu­an­fang in einer eige­nen Woh­nung und das Vor­ha­ben, das Blog jetzt aber wirk­lich wie­der zu befeu­ern. Da passt es ganz gut, dass Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re, des­sent­we­gen ich als Teen­ager mit dem Schrei­ben ange­fan­gen hat­te, ein neu­es Buch ver­öf­fent­licht, unge­fähr zeit­gleich mit dem neu­en Album der von uns hoch ver­ehr­ten Pet Shop Boys und dem von Weezer. Alle drei Acts eint, dass ihr Schaf­fen nicht zu jedem Zeit­punkt ihrer Kar­rie­re den Ansprü­chen des eige­nen Publi­kums genüg­te, aber jetzt sind sie wie­der voll da.

Also eigent­lich eine gute Gele­gen­heit, dar­über zu schrei­ben und über ande­re Din­ge, die mir Freu­de berei­ten, aber das Inter­net ist damals im wesent­li­chen Face­book und dort sind wir alle damit beschäf­tigt, mit irgend­wel­chen AfD-Anhän­gern zu dis­ku­tie­ren, die irgend­wo etwas Dum­mes kom­men­tiert haben. Um die­sem gan­zen Irr­sinn zu ent­flie­hen, schrei­be ich nicht etwa wie­der mehr ins Blog, son­dern star­te mei­nen eige­nen News­let­ter. Da macht das Schrei­ben immer­hin auch Spaß.

Weezer, jeden­falls, ken­ne ich seit mehr als 20 Jah­ren, als das Video zu „Bud­dy Hol­ly“ bei „Hit-Clip“ lief und auf der Win­dows-95-CD-Rom ent­hal­ten war. Jetzt ver­öf­fent­li­chen sie schon das vier­te Album namens „Weezer“ (nach dem blau­en, dem grü­nen und dem roten Album jetzt ganz Beat­les-mäßig das wei­ße), das mei­nen Sohn und mich auf vie­len Aus­flü­gen zum Kem­n­ader See beglei­tet und ihr bes­tes seit Jahr­zehn­ten ist. Der ope­ning cut „Cali­for­nia Kids“ han­delt von den glück­li­chen jun­gen Men­schen aus dem Gol­den Sta­te, die einem das Leben ret­ten. Ich nen­ne Kali­for­ni­en ger­ne „my home away from home“, was viel­leicht etwas prä­ten­ti­ös ist, aber ich hab da halt Fami­lie und es ist auch der ein­zi­ge Ort außer­halb des Ruhr­ge­biets, an dem ich je so viel Zeit am Stück ver­bracht habe. Der Staat bleibt auch nach der Wahl von Donald Trump zum US-Prä­si­den­ten das (natür­lich eher theo­re­ti­sche) Ide­al, das ich bewun­de­re, genau­so wie ich Men­schen auch lie­ber aus der Fer­ne toll fin­de — Cali­for­nia Kids halt.

2017: kett­car – Ankunfts­hal­le
Als die­ses Blog an den Start geht, haben kett­car bereits zwei Alben ver­öf­fent­licht: ihr Debüt „Du und wie­viel von Dei­nen Freun­den“, ein instant clas­sic, und – beglei­tet von Fern­seh­auf­trit­ten und ganz­sei­ti­gen Zei­tungs­ar­ti­keln – den Nach­fol­ger „Von Spat­zen und Tau­ben, Dächern und Hän­den“. Trotz­dem schrei­be ich in all den Jah­ren rela­tiv weni­ge Tex­te über die­se Band, die mir so wich­tig ist. Viel­leicht weil ich den­ke, dass das eh klar ist.

2017 liegt das letz­te (eher okaye) kett­car-Album fünf Jah­re zurück, Mar­cus Wie­busch hat in der Zwi­schen­zeit ein (ziem­lich gutes) Solo­al­bum ver­öf­fent­licht, aber plötz­lich ist die Band wie­der ein Macht­block mit­ten in Euro­pa: Ihre stets kla­re poli­ti­sche Hal­tung, die Jah­re vor­her noch ein biss­chen folk­lo­ris­tisch anmu­te­te, ist inzwi­schen not­wen­dig, aber neben Songs wie „Som­mer ’89“, „Wagen­burg“ und „Mann­schafts­auf­stel­lung“ gibt es auch jene, die sich anfüh­len wie Pola­roids (oder Ins­ta-Posts) aus dem All­tag. „Die Stra­ßen unse­res Vier­tels“ ersetzt eine gan­ze Fern­seh­se­rie über das Fami­li­en­le­ben in Hips­ter-Vier­teln, ohne sich für eine Sekun­de Harald-Schmidt-mäßig über Hafer­milch lus­tig zu machen; „Trost­brü­cke Süd“ ist ein Kame­ra­schwenk durch einen Lini­en­bus vol­ler Men­schen, die auf­ste­hen, atmen, sich anzie­hen und hin­ge­hen, und „Ankunfts­hal­le“ der Blog-Ein­trag, News­let­ter oder Song, den ich immer hat­te schrei­ben wol­len: ein Lob­lied auf die hei­len­de Kraft von Flug­ha­fen-Ankunfts­hal­len, wo Men­schen sich nach lan­ger Zeit der Tren­nung wie­der in die Arme fal­len.

Als kett­car und Thees Uhl­mann im August im Ham­bur­ger Nie­sel­re­gen 15 Jah­re Grand Hotel van Cleef fei­ern, ist weni­ge Tage zuvor mei­ne Oma gestor­ben, die hier von Anfang an mit­ge­le­sen hat­te. Ende Dezem­ber liegt mein Opa im Ster­ben und ich fah­re mit mei­nem Sohn zum Düs­sel­dor­fer Flug­ha­fen, Men­schen in der Ankunfts­hal­le gucken.
[Songs des Jah­res 2017 damals]

2018: Rae Mor­ris – Do It
Hat­te ich oben – also vor ca. 18.000 Zei­chen – nicht noch geschrie­ben, dass in die­ser Lis­te expli­zit nicht die jewei­li­gen Songs des Jah­res auf­tau­chen sol­len? Well: We make up the rules as we go along!

Rae Mor­ris hat sich ihre Son­der­rol­le hier im Blog ver­dient: Weil ich mich 2012 instant­ly in ihren Song „Don’t Go“ aus dem (eigent­li­chen) Seri­en­fi­na­le von „Skins“ (der ein­zi­gen Fern­seh­se­rie neben „Die Brü­cke“, von der ich alle Fol­gen gese­hen habe) ver­liebt habe; weil sie der ers­te (und bis heu­te ein­zi­ge) Act in der Geschich­te die­ses Blogs ist, der in einem Jahr (2018) mei­nen per­sön­li­chen „Song des Jah­res“ und mein „Album des Jah­res“ ver­öf­fent­licht hat (das haben Tom­te 2006 zwar auch geschafft, aber halt sechs Wochen, bevor die­ses Blog an den Start ging, also zählt das nur an unge­ra­den Wochen­ta­gen ohne Neu­mond); weil sie der ers­te (und bis heu­te ein­zi­ge) Act ist, der zwei Mal mei­nen per­sön­li­chen Song des Jah­res (2012 und 2018) geschrie­ben hat.

Irgend­wie alles tro­cke­ner Sta­tis­tik-Kram ange­sichts eines Songs, der davon han­delt, auf die Zwei­fel zu pfei­fen und sich kopf­über in die Lie­be zu stür­zen. Rae Mor­ris singt das über ihren musi­ka­li­schen Part­ner und heu­ti­gen Ehe­mann Fryars und sie macht das so toll, dass ich mit ihr an die gro­ße Lie­be glau­ben will, die sich anfühlt wie Feu­er­werk aus­sieht. Doch mei­ne Ver­su­che, „Do It“ in „Joko Win­ter­scheidts Druckerzeug­nis“ zum Som­mer­hit des Jah­res zu pushen, schei­tern und Men­schen wie ich blei­ben bes­ser allein.

Aber, so den­ke ich heu­te, eigent­lich ist die­ses Blog hier ja auch nichts ande­res als die Umset­zung des Gedan­kens „We could just do it“: Gestar­tet als „die Online-Zei­tung, die wir ger­ne lesen wür­den“ (puh!), konn­te ich mich hier an der Tas­ta­tur und vor der Kame­ra aus­to­ben, aus­pro­bie­ren und dar­an wach­sen, um dann für Zei­tun­gen und Fern­seh­sen­dun­gen zu arbei­ten, die ich frü­her nur rezi­piert hat­te. Wenn man aus 18 Jah­ren Cof­fee And TV unbe­dingt irgend­et­was ler­nen will, dann, dass Selbst­er­mäch­ti­gung manch­mal (es gehört ja auch bei mir sicher­lich eini­ges an Glück dazu) wirk­lich funk­tio­nie­ren kann.
[Songs des Jah­res 2018 damals]

2019: LOKI – The Girl With No Eyes
Für die, die hier ernst­haft Buch füh­ren (also: für mich), mag es etwas über­ra­schend sein, dass ein Song, der auf Platz 59 einer Jah­res­bes­ten­lis­te stand, ein Jahr reprä­sen­tie­ren soll. Nun: Ers­tens kön­nen wir uns glaub ich dar­auf eini­gen, dass es eh schon ein ganz klei­nes biss­chen wahn­sin­nig ist, einen „Platz 59“ auf einer per­sön­li­chen Bes­ten­lis­te zu haben; zwei­tens habe ich erst bei der Durch­sicht mei­ner diver­sen Lis­ten, Ein­trä­ge und Play­lists fest­ge­stellt, dass ich tat­säch­lich schon mal Musik von LOKI gehört haben muss, bevor ich sie letz­tes Jahr beim Fes­ti­val Sounds Like Sugar in Her­ne gese­hen habe und so begeis­tert war, dass ich sie beim Bochum Total direkt wie­der sehen muss­te.

Damit steht „The Girl With No Eyes“, des­sen Bon-Iver-Haf­tig­keit mich schon 2019 über­zeugt haben muss, näm­lich für etwas ande­res: Für das wil­de Über­an­ge­bot an Wer­ken (oder: „Con­tent“, wie die Arsch­lö­cher sagen, die in ihrem Leben nicht einen ein­zel­nen genui­nen Gedan­ken hat­ten), aus dem wir theo­re­tisch wäh­len kön­nen, das aber auch das Risi­ko birgt, alles belie­big und egal zu machen. Dass es etwas ande­res ist, tage­lang in phy­si­schen Läden nach einer CD zu fahn­den und sie dann end­lich zu fin­den, als ein­fach alles immer sofort (terms and con­di­ti­ons app­ly) zur Ver­fü­gung zu haben, hab ich schon 2016 auf­ge­schrie­ben. Es ist seit­dem nicht weni­ger gewor­den. Wenn ich mich nicht mehr an irgend­wel­che Acts erin­nern kann (natür­lich auch, weil ihre Namen nur noch über Bild­schir­me flim­mern und nicht aus­ge­druckt vor mir lie­gen, was mei­nem Gehirn immer­hin ein biss­chen hel­fen wür­de), ist es alles ein biss­chen viel.

Ich selbst tra­ge fröh­lich zum Über­an­ge­bot bei: Mit Fried­rich Küp­pers­busch ste­he ich jetzt regel­mä­ßig auf Büh­nen in Dort­mund und Ber­lin, um „Lucky & Fred“ vor Publi­kum auf­zu­zeich­nen. Da kommt das Thea­ter-Kind von frü­her wie­der zum Vor­schein, Applaus ist immer noch die stärks­te Wäh­rung. Weil Likes dage­gen abstin­ken und dort eh nichts mehr los ist, lösche ich am Sil­ves­ter­abend mei­nen Face­book-Account. Im Nach­hin­ein möch­te ich sagen: Ich habe schon düm­me­re Din­ge zu einem schlech­te­ren Zeit­punkt gemacht.
[Songs des Jah­res 2019 damals]

2020: Tay­lor Swift – Epi­pha­ny
Alles beginnt so schön mit wei­te­ren Live-Auf­trit­ten und Kon­zert­be­su­chen bei kett­car, Ider und Car­ly Rae Jep­sen. Und dann endet alles: Kon­zer­te, Kin­der­gar­ten, Bun­des­li­ga, sogar der Euro­vi­si­on Song Con­test wird erst­mals abge­sagt. „Wegen Coro­na“ wird ein soge­nann­tes geflü­gel­tes Wort, was auch irgend­wie zu den ver­damm­ten Flug­hun­den auf dem Nass­markt von Wuhan passt, die uns die gan­ze Schei­ße (mut­maß­lich) ein­ge­brockt haben.

Popkultur-Freund*innen ver­glei­chen die Stra­ßen mit jenen aus dem Zom­bie­film „28 Days Later“ und wir ler­nen die Wohn­zim­mer von Kolleg*innen und Rock­stars ken­nen, die von dort aus Mini-Kon­zer­te in die Welt strea­men (die Rock­stars, nicht die Kolleg*innen). Die Leu­te erschei­nen all das mit erstaun­li­chem Gleich­mut zu ertra­gen, aber die­ses Bild bekommt – um eine wei­te­re Phra­se zu ver­mei­den – schnell Ris­se: Als sich im April eine Frau, die vor einem Café war­ten muss, um Kuchen zum Mit­neh­men zu kau­fen, über die „Gesund­heits­dik­ta­tur“ beschwert, bin ich viel zu über­rascht und scho­ckiert, ihr vor­zu­schla­gen, dass wir ger­ne gemein­sam einen Bekann­ten von mir, der Arzt in Padua ist, anru­fen könn­ten und sie ja mal mit dem spre­chen kön­ne, wenn er nicht gera­de dabei ist, um Leben zu kämp­fen.

Es ist ein Vor­ge­schmack auf das, was kommt: Weil man sich jetzt nir­gend­wo mehr in die Augen gucken kann, ver­ges­sen nahe­zu alle, dass sie online mit ande­ren Men­schen dis­ku­tie­ren. Man­che von uns nut­zen die vie­le freie Zeit, um sich über Ras­sis­mus fort­zu­bil­den, ande­re, um sich zu radi­ka­li­sie­ren. Ich schrei­be viel in mei­nen News­let­ter und wenig ins Blog, star­te aber zusam­men mit Sue Reind­ke immer­hin einen neu­en Pod­cast namens „Bist Du noch wach?“

In all das hin­ein ver­öf­fent­licht Tay­lor Swift, die nach einer abge­sag­ten Welt-Tour­nee auch zu viel Frei­zeit hat, ein Album, das sie in den ers­ten Mona­ten des Lock­downs mit Aaron Dess­ner von The Natio­nal auf­ge­nom­men hat, remo­te. „Folk­lo­re“ wird zum Sound­track des ers­ten Coro­na-Som­mers und über­zeugt selbst jene, die ihrer Musik bis­her kri­tisch gegen­über­ge­stan­den hat­ten. Mit „Ever­mo­re“ erscheint ein paar Mona­te spä­ter noch so ein gro­ßer Wurf. Nach dem groß­ar­ti­gen „1989“ von 2014 hab ich end­lich die nächs­te era, in der ich mich ein­rich­ten kann. Es ist der Sound­track zu sehr aus­gie­bi­gen Spa­zier­gän­gen durch die ver­schie­de­nen Nach­bar­schaf­ten hier in Bochum. Und mit­ten­drin ein Song über Sol­da­ten und Men­schen im Gesund­heits­we­sen, über das Ster­ben in Ein­sam­keit und über das Wei­ter­ma­chen der Über­le­ben­den: „Epi­pha­ny“. „Someone’s daugh­ter, someone’s mother /​ Holds your hand through pla­s­tic now“ sind Zei­len, die mir auf ewig die Trä­nen in die Augen trei­ben und einen Klos in den Hals drü­cken wer­den. Die gute Nach­richt: Mei­ne Omi, die mit 94 noch allein in ihrem viel zu gro­ßen Haus wohnt, über­lebt all das ohne Anste­ckung. Das ist nicht ihr Song.
[Songs des Jah­res 2020 damals]

2021: Meet Me @ The Altar – Never Gon­na Chan­ge
2021 ist die etwas öde Fort­set­zung des Seu­chen­jah­res, aber als Far­ce: Hash­tag Oster­ru­he. Die Amts­zeit von Donald Trump endet, die von Ange­la Mer­kel auch. In Rot­ter­dam, wo der ESC unter Pan­de­mie-Bedin­gun­gen statt­fin­det, lau­tet der schon 2019 erson­ne­ne Slo­gan pas­sen­der­wei­se „Open Up“. Den Som­mer ver­brin­ge ich damit, mein Buch über den Song Con­test zu schrei­ben, an Omis Geburts­tag und an Weih­nach­ten sind wir wie­der alle ver­eint.

In Aachen tref­fe ich einen mei­ner aller­größ­ten Hel­den: Micha­el Sti­pe von R.E.M. Er ist so bezau­bernd, wie ich erhofft hat­te, und gibt mir das Gefühl, als sei ich der aller­ers­te Mensch, der „You’­ve chan­ged my life“ zu ihm sagt. Der VfL Bochum steigt nach elf Jah­ren wie­der in die Bun­des­li­ga auf. Natu­re is heal­ing.

Mei­ne aktu­el­le Lieb­lings­band heißt Meet Me @ The Altar, que­er Women of Color aus den USA, die Pop-Punk zwi­schen Avril Lavi­gne, Para­mo­re und Blink-182 machen. Zum ers­ten Mal hören tue ich von ihnen bei – natür­lich – „All Songs Con­side­red“ auf – natür­lich – einem mei­ner lan­gen Spa­zier­gän­ge, in Erin­ne­rung blei­ben mir ihre EP „Model Citi­zen“ und der Song „Never Gon­na Chan­ge“ aber vor allem als Sound­track zu den ers­ten Besu­chen im Fit­ness­stu­dio, die jetzt wie­der mög­lich sind.
[Songs des Jah­res 2021 von damals]

2022: Maro – Sau­da­de, Sau­da­de
Am Ende wird es das Jahr gewe­sen sein, das ich so lang gefürch­tet hat­te: das, in dem mei­ne Omi stirbt. Es wer­den lan­ge vier Mona­te des Abschieds, die ihren Kin­dern alles abver­lan­gen, aber es eine Zeit des bewuss­ten, lie­be­vol­len Abschieds und der Lie­be in ihrer reins­ten Form.

All das ahne ich noch nicht, als ich beim ESC in Turin sit­ze und völ­lig gebannt (das eng­li­sche Wort mes­me­ri­zed ken­nen wir im Deut­schen lei­der nicht, obwohl es doch auf einen deut­schen Arzt zurück­geht) dem Auf­tritt der por­tu­gie­si­schen Künst­le­rin fol­ge, die das spe­zi­fisch por­tu­gie­si­sche Gefühl sau­da­de besingt, das mit „ver­mis­sen“ nur unzu­rei­chend über­setzt wer­den kann und das sie nach dem Tod ihres gelieb­ten Groß­va­ters emp­fin­det. „Sau­da­de, Sau­da­de“ erreicht am Ende einen tol­len 9. Platz, Deutsch­land hat auch teil­ge­nom­men. Aller­spä­tes­tens hier in Turin ist der ESC nicht mehr die leicht tra­shi­ge Quatsch-Ver­an­stal­tung, als die er noch galt, als Ste­fan und ich 2007 erst­ma­lig dar­über gebloggt haben. Er ist ein ech­tes Musik­fes­ti­val, bei dem man Gen­res und Acts vor­ge­stellt bekommt, auf die man sonst viel­leicht nie gesto­ßen wäre. Wer hier noch alles doof fin­det, mag wahr­schein­lich ein­fach kei­ne Musik.

Mein Buch über die­se Ver­an­stal­tung erscheint qua­si zeit­gleich mit Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne, was mir eine ordent­lich Por­ti­on der Freu­de raubt. Als ich den Release trotz­dem mit Freund*innen in mei­ner Stamm­knei­pe feie­re, ste­cke ich mich (end­lich) mit COVID-19 an und bin immer noch reich­lich außer Atem, als ich das Buch in einer klei­nen gro­ßen Live­show in der Zeche Carl in Essen vor­stel­le. Irgend­wie schaf­fe ich es sogar, in die­sem Jahr noch einen Pod­cast zu pro­du­zie­ren: die Talk­sen­dung „Woher ken­nen wir uns?“
[Songs des Jah­res 2022 damals]

2023: Foo Figh­ters – Res­cued
Omi und Tay­lor Haw­kins sind im sel­ben Jahr gestor­ben, was inso­fern beson­ders tra­gisch ist, als der Schlag­zeu­ger der Foo Figh­ters 46 Jah­re jün­ger gewe­sen war. Dave Grohl hat­te zum drit­ten Mal einen sei­ner bes­ten Freun­de ver­lo­ren, Mona­te spä­ter sei­ne Mut­ter. Ob das der Beginn einer etwas ver­spä­te­ten mid­life-cri­sis war, in deren Ver­lauf jene Toch­ter ent­stand, die „außer­halb mei­ner Ehe“ gebo­ren wur­de, wie er auf Insta­gram schrieb, ver­mag ich nicht zu beur­tei­len — es war zumin­dest der Aus­lö­ser, „But Here We Are“ auf­zu­neh­men, das bes­te Foo-Figh­ters-Album seit fast 25 Jah­ren, auf dem er wie­der ein­mal Trau­er in Wut ver­wan­delt und umge­kehrt.

„Res­cued“ ist einer der ers­ten Songs, den ich in mei­ner klei­nen Musik­sen­dung spie­le, die ich in einem Anfall beson­de­rer Geis­tes­ge­gen­wart auch „Cof­fee And TV“ genannt habe. Sie ist das, wor­auf ich Jahr­zehn­te lang gewar­tet hat­te: die Mög­lich­keit, Songs in einem Pod­cast zu spie­len, ohne in einem kost­spie­li­gen Büro­kra­tie­ge­wit­ter namens „GEMA“ unter­zu­ge­hen. Das Ergeb­nis kann man zwar nur beim fins­te­ren Tech-Kon­zern Spo­ti­fy hören, aber ent­schei­den­der ist für mich eh, sowas über­haupt machen zu kön­nen. Aber wie so oft mit den schö­nen Din­gen im Inter­net: Nur ein Jahr spä­ter zieht Spo­ti­fy den Ste­cker und schafft die Mög­lich­keit, sol­che Musik­sen­dun­gen zu bau­en, direkt wie­der ab.

„But Here We Are“ wird auch 2024 wie­der für mich da sein: Als mei­ne gelieb­te Tan­te Dör­te stirbt, eine groß­ar­ti­ge Grund­schul­leh­re­rin, höre ich den Song, den Dave Grohl für sei­ne ver­stor­be­ne Mut­ter Vir­gi­nia geschrie­ben hat, die eben­falls Leh­re­rin gewe­sen war: „The Tea­cher“.

2024: Ezra Coll­ec­ti­ve feat. Yaz­min Lacey – God Gave Me Feet For Dancing
Das ist mir in all den Jah­ren auch noch nicht pas­siert, dass ich – trotz aller Play­lis­ten, Noti­zen-Apps und Zet­tel – beim Zusam­men­stel­len der „Alben“ oder „Acts des Jah­res“ ein Album bzw. einen Act kom­plett ver­ges­se. Ob’s am Alter liegt oder dem schon erwähn­ten Über­an­ge­bot?

Immer­hin habe ich hier die Gele­gen­heit, den Feh­ler schnell halb­wegs wett­zu­ma­chen: „God Gave Me Feet For Dancing“ von Ezra Coll­ec­ti­ve und Yaz­min Lacey. Ezra Coll­ec­ti­ve sind eine Jazz-Fusi­on-Band aus Lon­don, die Ele­men­te aus Afro­beat, Calyp­so, Reg­gae, Hip-Hop, Soul und Jazz ver­bin­den und deren Songs bei BBC Radio 6 Music, mei­ner aktu­el­len Haupt­quel­le für neue Musik, rauf und run­ter läuft. Es ist die­se Musik, die ich mit dem leicht­fü­ßi­gen Som­mer 2024 ver­bin­de, als wir alle den­ken, dass Kama­la Har­ris US-Prä­si­den­tin wer­den wird, und die Olym­pi­schen Spie­le in Paris ein Gefühl von Hoff­nung, Zuver­sicht und Gemein­schaft ver­mit­teln, das wir so lan­ge ver­misst hat­ten. Sich ein paar Mona­te spä­ter über die eige­ne ver­meint­li­che Nai­vi­tät lus­tig zu machen, wäre aber auch zynisch.
[Songs des Jah­res 2024 von „damals“]

Epi­log
„Am Ende wird alles okay sein — und wenn es nicht okay ist, ist es nicht das Ende“, hat der bra­si­lia­ni­sche Autor Fer­nan­do Sabi­no geschrie­ben und Weezer nann­ten ihr 2015er Album „Ever­y­thing Will Be Alright In The End“. „Schwimm für die Songs, die noch geschrie­ben wer­den“, hat Mar­cus Wie­busch von kett­car auf sei­nem Solo­al­bum gesun­gen — und dabei Andrew McMa­hon refe­ren­ziert. Alles hängt immer mit allem zusam­men.

Social Media ist, spä­tes­tens seit sich die Tech-Olig­ar­chen um Donald Trump scha­ren, ein dumps­ter fire, das unse­re See­len und Gehir­ne ver­zehrt. Doch das hier sind nur die ers­ten 18 Jah­re und die ers­ten 18 Songs. Cof­fee And TV ist mein Zuhau­se und ich pla­ne zu blei­ben, mein Freund.

Denn wie sang einst Gra­ham Coxon in jenem Blur-Song, des­sen Titel wir uns damals ein­fach gemopst haben?

Take me away from this big bad world
And agree to mar­ry me
So we can start over again

(Auf das mit dem Hei­ra­ten wür­de ich nach den oben erwähn­ten Erfah­run­gen aller­dings ger­ne ver­zich­ten.)

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Musik

Goodbye Trouble

Ges­tern war ich auf einer Trau­er­fei­er. Und auf einem Klas­sen­tref­fen. Und auf dem ers­ten (indoor) Kon­zert seit drei Jah­ren. Pale hat­ten zum One-Night-Only-Kon­zert ins Köl­ner Glo­ria gebe­ten und die Indie-Crowd, die vor 20 Jah­ren auf Visi­ons-Par­tys Smirn­off Ice getrun­ken hat­te, war geschlos­sen ange­tre­ten — mit Müt­zen über dem lich­ter wer­den­den Haar, ohne Trai­nings­ja­cken mit Städ­te­na­men drauf und mit nur einem Bier in der Hand, denn man muss ja noch fah­ren und die Kin­der wer­den so früh wach.

Die ers­te Wel­le der Eksta­se schwappt schon hoch, als das Licht für die Vor­band aus­geht. Pale hat­ten vage „Gäs­te“ und „Freun­de“ ange­kün­digt und so geht es als kol­lek­ti­ve Selbst­be­stä­ti­gung durch, als wir sehen, dass es wirk­lich Thees Uhl­mann ist, der da auf die Büh­ne schlurft. Doch – behold! – er ist nicht allei­ne, mit ihm kommt Mar­cus Wie­busch raus. Das macht Sinn, sind doch das letz­te Pale-Album 2006 und das jetzt aber wirk­lich aller­letz­te Pale-Album 2022 beim Grand Hotel van Cleef erschie­nen, dem Label, das die bei­den 2002 gegrün­det hat­ten und des­sent­we­gen wir uns alle ken­nen und gute Musik hören. „Gebt dem Nach­wuchs eine Chan­ce“, scherzt Thees, dann spie­len die bei­den sechs Songs aus dem gro­ßen kett­car/­Tom­te/­Thees-Uhl­mann-Werk. Wir hät­ten auch 20 genom­men, aber sie sind ja nur als Warm-Up hier und brin­gen das Glo­ria erfolg­reich auf Betriebs­tem­pe­ra­tur. Lei­der auch buch­stäb­lich.

Vor dem Pale-Konzert (Foto: Lukas Heinser)

Dann leuch­tet der Pale-Schrift­zug über der Büh­ne auf und die Band (oder das, was von ihr übrig ist) betritt unter einem der dicks­ten Auf­tritts­ap­plau­se, die ich je erlebt habe, das Schein­wer­fer­licht. Nach dem ers­ten Song sagt Sänger/​Gitarrist Hol­ger Kochs, er habe sich in den letz­ten Tagen eine lan­ge Ansa­ge aus­ge­dacht und wie­der ver­wor­fen, denn wir wüss­ten ja eh alle, war­um wir da sind: „Für Chris­ti­an!“

Chris­ti­an Dang-anh war der Gitar­rist von Pale, „der ein­zi­ge rich­ti­ge Musi­ker inner­halb der Band“, wie die ande­ren selbst sagen. 2019, zehn Jah­re nach der Auf­lö­sung der Band, wur­de bei ihm ein Gehirn­tu­mor dia­gnos­ti­ziert, was die Mit­glie­der auf die Idee brach­te, wie­der gemein­sam Musik zu machen. Schlag­zeu­ger und Hol­gers Bru­der Ste­phan Kochs hat­te mit einer eige­nen schwe­ren Erkran­kung zu kämp­fen, dann kam die Pan­de­mie und im Früh­jahr 2021 ist Chris­ti­an lei­der gestor­ben.

Aus die­sen Ses­si­ons und Erfah­run­gen ist „The Night, The Dawn And What Remains“ ent­stan­den, das wirk­lich aller­letz­te Album, des­sen Songs heu­te Abend alle zur Auf­füh­rung kom­men — neben den gan­zen Hits, natür­lich, wobei mir irgend­wann auf­fällt, dass es fal­se memo­ry mei­ner­seits war, zu glau­ben, ich hät­te die Musik der Band „schon damals“ „immer viel“ gehört.

Zwi­schen den Songs sagt Hol­ger so vie­le klu­ge Sachen über das Leben und die Gegen­wart, die man genie­ßen und fei­ern sol­le, dass ich mir den­ke, dass ich mir die alle mer­ken wer­de. Jetzt könn­te ich natür­lich nichts mehr davon zitie­ren, aber das ist total egal, weil ich ja WEISS, dass er Recht hat.

Sie spie­len „Man Of 20 Lives“ für Ste­phan, der heu­te nur im Publi­kum ist. Zu „Big­ger Than Life“ wer­den im Hin­ter­grund alte Vide­os und Bil­der von Chris­ti­an pro­ji­ziert und ich den­ke mal wie­der, wie so oft, über Musik: „This is my church /​ This is whe­re I heal my hurts“. (Maxi Jazz von Faithl­ess ist übri­gens im Dezem­ber auch gestor­ben.) Hol­ger singt – „auch wenn’s pathe­tisch klingt“ – „Wake Up!“ für sei­ne Kin­der und ich ste­he da inmit­ten einer wild zusam­men­ge­wür­fel­ten Grup­pe alter Freun­de und Bekann­ter, jetzt sind wir alle Väter, und ich muss mich gar nicht umgu­cken, weil ich weiß, dass wir gera­de alle Trä­nen in den Augen haben. Das Publi­kum weiß auch, wann Hol­ger Unter­stüt­zung gebrau­chen kann, und umarmt ihn mit lan­gem, fre­ne­ti­schen Applaus. Das Glo­ria ist heu­te ein ein­zi­ger gro­ßer Lie­bes­kreis. (Roc­co Clein ist jetzt auch schon 19 Jah­re tot.)

Beim Pale-Konzert (Foto: Lukas Heinser)

„Still You Feel“, eine Hym­ne auf die Musik, die einem Zuhau­se ist, nach­dem man die furcht­ba­re Hei­mat­stadt ver­las­sen hat, ist auf dem Album ein Duett mit Simon den Har­tog von den Kili­ans. (Auf dem Pop­kul­tur-Altar auf dem Album­co­ver steht ein Mix­tape namens „Home­town Mix“, des­sen B‑Seite mit „Dins­la­ken 2002“ beschrif­tet ist — Simons und mei­ner alten Hei­mat­stadt und mei­nem Abi-Jahr. Ich bin mir auch nach Mona­ten noch nicht sicher, was das mit mir macht.) Und natür­lich kommt Simon, den Hol­ger als sei­ne Lieb­lings­stim­me in Deutsch­land bezeich­net, auch auf die Büh­ne im Glo­ria. Und er bleibt noch für einen zwei­ten Song: „Fight The Start“ von den Kili­ans. Ich habe die­sen Song min­des­tens 30 Mal live gehört, im Publi­kum, beim Sound­check, neben der Büh­ne — zuletzt vor neun Jah­ren, ein paar Leben her, und ich bin sehr froh, dass mir die gan­ze emo­tio­na­le Bedeu­tung die­ses Moments nicht schon ges­tern Abend auf­ge­fal­len ist, son­dern erst jetzt. Durch­at­men.

„Some­day You Will Know“ („The last song of a band that alre­a­dy play­ed its final show“) wird auf dem Album von einem Saxo­fon-Solo von Ste­ve Nor­man von Span­dau Bal­let gekrönt — und es ist jetzt wirk­lich kei­ne gro­ße Über­ra­schung mehr, dass auch er heu­te Abend hier ist und mit­spielt. (Tat­säch­lich wäre es auch nur kon­se­quent gewe­sen, wenn zum abschlie­ßen­den The-Jam-Cover „Town Cal­led Mali­ce“ Paul Wel­ler zur Band hin­zu­ge­sto­ßen wäre. Oder Noel Gal­lag­her. Oder John Len­non, becau­se why the fuck not?) Etwas über­ra­schen­der ist schon, dass auch er für einen zwei­ten Song bleibt und wir so in den Genuss kom­men, „Gold“ von Span­dau Bal­let auch ein­mal live zu hören. You’­ve got the power to know you’­re indes­truc­ti­ble!

Er habe unter­schätzt, wie viel 27 Songs sind, meint Hol­ger lachend vor den letz­ten Zuga­ben, als er das Publi­kum bit­tet, ger­ne etwas lau­ter mit­zu­sin­gen. Drei Stun­den ste­hen sind auch schon ziem­lich anstren­gend, den­ke ich. Und drei Stun­den Rück­weg vom Club zum eige­nen Bett haben sich frü­her auch nicht so schlimm ange­fühlt. Aber wer hät­te gedacht, damals, als man anfing, Musik als etwas wahr­zu­neh­men, was mehr ist als das, was im Radio zwi­schen den Poli­tik-Bei­trä­gen läuft, dass sie einem mal so viel bedeu­ten und einen durch schwe­re Zei­ten (und groß­ar­ti­ge!) beglei­ten wür­de, dass sie mal zu Freund­schaf­ten füh­ren wür­de und zu Aben­den wie die­sem?

This is how it feels when not­hing can ever make you stop /​ This is how it feels when nothing’s wrong.

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Musik

Songs des Jahres 2021

Und ein sozi­al­kri­ti­sches Schlag­zeug­so­lo spä­ter ist es soweit: Making dis­co a thre­at again!

Ich habe wie­der ein biss­chen län­ger gebraucht, aber ich möch­te auf kei­nen Fall sein wie Spo­ti­fy und Musik­zeit­schrif­ten, die schon zwi­schen Okto­ber und Niko­laus auf ein Jahr zurück­schau­en. Sowas braucht ja auch Zeit und muss sich erst mal set­zen – und dann muss man sich sel­ber erst mal set­zen, Songs in eine Rei­hen­fol­ge brin­gen, die einem in die­ser einen Mil­li­se­kun­de die rich­ti­ge erscheint, obwohl es natür­lich völ­lig absurd ist, Musik in irgend­ei­ne Rang­lis­te zu brin­gen.

Jeden­falls: Hier sind wir! Und hier sind sie: Mei­ne Top-25-Songs eines immer noch etwas müh­sa­men Jah­res!

25. Chi­ca­go Sin­fo­ni­et­ta – Dances In The Cane­bra­kes (Arr. W.G. Still for Orches­tra) : No. 3, Silk Hat And Wal­king Cane
Ich habe beschlos­sen, dass ich die Regeln für mei­ne Lis­te selbst bestim­men kann, also gehen auch Klas­sik-Songs! „Dances In The Cane­bra­kes“ ist eigent­lich ein Kla­vier­werk der Schwar­zen US-Kom­po­nis­tin Flo­rence Pri­ce (1887–1953), das hier für Orches­ter arran­giert wur­de und auf dem Album „Pro­ject W: Works by Diver­se Women Com­po­sers“ erschien – und zwar schon 2019. Da mir die­ser Umstand aber genau gera­de eben erst auf­ge­fal­len ist und mich das Stück bis dahin so sehr durch mein Jahr 2021 beglei­tet hat­te, dass ich es zwi­schen­zeit­lich als the­me in dem Film, der mein Leben ist, wahr­ge­nom­men habe, ist mir das alles egal! Es ist ein groß­ar­ti­ges Werk mit einem beein­dru­cken­den Hin­ter­grund, also stei­gen wir ein­fach hier­mit ein!

24. Aaron Lee Tas­jan – Up All Night
Auch wenn ich es nicht für mög­lich gehal­ten hät­te, gab es 2021 doch wie­der ein paar Aben­de, an denen ich ange­mes­sen alko­ho­li­siert den Heim­weg aus der Innen­stadt ange­tre­ten habe. Es war stets der per­fek­te Umstand, um die­sen Que­er-Folk-Power-Pop-Song in einer Laut­stär­ke zu hören, die einem Apple Health dann hin­ter­her wie­der vor­wurfs­voll um die Ohren haut.

23. Adam Levi­ne – Good Mood
Ich sage ja immer, dass es kei­ne pein­li­chen Lieb­lings­lie­der geben kann, aber der Sän­ger von Maroon 5, der den Titel­song zum „Paw Patrol“-Kinofilm singt – das ist schon eine schwe­re Hypo­thek, die man sich selbst gegen­über erst mal recht­fer­ti­gen muss!
Tat­säch­lich hat­te ich zuerst den Refrain als Wer­be­pau­sen-Ein­lei­tungs­mu­sik bei Fuß­ball-Über­tra­gun­gen gehört und sofort geliebt, weil ich sei­ne maxi­ma­le New-Radi­cals-Haf­tig­keit moch­te. In Wahr­heit hat der Songs nichts mit den New Radi­cals zu tun (anders als die Songs, die Adam Levi­ne in dem sehr char­man­ten Film „Begin Again“ und dem dazu­ge­hö­ri­gen Sound­track singt), aber das war dann auch schon egal. Kei­nen Song habe ich 2021 auf dem Fahr­rad im Fit­ness­stu­dio öfter gehört als „Good Mood“ und wenn Ihr bei die­sem Groo­ve nicht mit hoch­spe­zia­li­sier­ten Hun­de­wel­pen durch die Woh­nung tan­zen wollt, kann ich Euch auch nicht hel­fen!

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Musik

Acts des Jahres 2021

Hey, wie war denn Euer Jahr 2021 so? Genau. Mit Kon­zer­ten und Fes­ti­vals war das ja alles noch so eine Sache, aber Musik war natür­lich trotz­dem da – und gera­de zu Beginn des Jah­res, als alles noch so rich­tig schei­ße war (könnt Ihr Euch noch erin­nern, dass wir im April eine Aus­gangs­sper­re hat­ten?!), hat sie getrös­tet und ver­bun­den.

Nach­dem ich zu Beginn des letz­ten Jah­res groß­spu­rig ver­kün­det hat­te, nie wie­der eine „Alben des Jahres“-Liste zu ver­öf­fent­li­chen, weil man­che Acts gar kei­ne Alben mehr ver­öf­fent­li­chen und ande­re gleich zwei, brauch­te ich irgend­ei­ne ande­re Kate­go­rie, in der ich zu Beginn des nächs­ten Jah­res (ach, komm: is noch Anfang 2022!) Namen sor­tie­ren und mir erläu­tern­de Tex­te aus den Fin­gern sau­gen kön­nen wür­de.

Herz­lich Will­kom­men also bei mei­ner ers­ten „Acts des Jahres“-Liste, die es mir ermög­licht, ein biss­chen über den Tel­ler­rand hin­aus­zu­schau­en:

10. Månes­kin
Dass Ita­li­en irgend­wann noch mal den ESC gewin­nen wür­de, hat­te in den letz­ten zehn Jah­ren deut­lich in der Luft gele­gen. Dass sie es mit einer Rock­band tun wür­den, die klingt und aus­sieht, als wären ihre Mit­glie­der die letz­ten 45 Jah­ren ein­ge­fro­ren gewe­sen, nicht unbe­dingt – aber es hat dann auch nicht wei­ter über­rascht. Womit nun wirk­lich nicht zu rech­nen gewe­sen war: Dass die­se ESC-Sieger*innen zwei Wochen nach dem Song Con­test noch nicht ver­ges­sen waren; dass „I Wan­na Be Your Slave“, die zwei­te Sin­gle aus ihrer EP „Tat­ro d’i­ra – Vol. 1“ (RCA/​Sony; Apple Music, Spo­ti­fy), in der sie rela­tiv offen unge­fähr alle sexu­el­len Spiel­ar­ten durch­de­kli­nie­ren, ein noch grö­ße­rer Hit wer­den wür­de, der im Radio läuft und von deut­schen Grund­schul­kin­dern begeis­tert mit­ge­sun­gen wird; dass die­se Band mit einer vier Jah­re alten Cover­ver­si­on die welt­wei­ten Spo­ti­fy-Charts anfüh­ren wür­de; dass sie bei Jim­my Fallon und „Satur­day Night Live“ auf­tre­ten und für die rele­van­tes­ten Musik­fes­ti­vals bei­der­seits des Atlan­tiks gebucht wer­den wür­den.
Kurz­um: So etwas hat­te es in der 65-jäh­ri­gen Geschich­te des ESC (über die Ende Febru­ar ein sehr lesens­wer­tes Buch erscheint) noch nicht gege­ben. Die Band hat den ESC ins 21. Jahr­hun­dert kata­pul­tiert (wor­auf wir bei der neu­en Bun­des­re­gie­rung noch war­ten) und ist neben­bei die ers­te mir bekann­te Rock­band seit vie­len, vie­len Jah­ren, die der­art durch­star­tet.
So. Und jetzt stel­len Sie sich bit­te vor, Sie hät­ten zwei Wochen lang jeden Mor­gen zehn Meter von die­sen soon to be-Mega­stars ent­fernt gefrüh­stückt und wären nicht ein­mal auf die Idee gekom­men, nach einem gemein­sa­men Sel­fie zu fra­gen!

9. Weezer
Was Tay­lor Swift kann, kön­nen Weezer schon lan­ge: Zwei Alben in einem Jahr zu ver­öf­fent­li­chen pas­siert der Band jeden­falls nicht zum ers­ten Mal. Im Sep­tem­ber 2019 hat­ten sie ihr 14. Album „Van Weezer“ (Crush Music/​Atlantic; Apple Music, Spo­ti­fy) ange­kün­digt, das im Mai 2020 erschei­nen soll­te. Wie so vie­les ande­re wur­de auch der Release die­ses Albums ver­scho­ben – das Tri­but an die gro­ßen Hair-Metal-Bands (das durch den zwi­schen­zeit­li­chen Tod von Eddie van Halen eine zusätz­li­che Ebe­ne erreicht hat­te) erschien im Mai 2021 und war okay, aber nicht atem­be­rau­bend.
Inter­es­san­ter war „OK Human“ (Crush Music/​WEA; Apple Music, Spo­ti­fy), das zwei­te Album, das Weezer zwi­schen der Fer­tig­stel­lung und dem ver­spä­te­ten Release von „Van Weezer“ auf­ge­nom­men hat­ten (was es so gese­hen zu ihrem 15. Album macht, chro­no­lo­gisch aber natür­lich „Van Weezer“ nach hin­ten drängt und somit offi­zi­ell Nr. 14 ist – aber die Beat­les hat­ten „Abbey Road“ ja auch nach „Let It Be“ auf­ge­nom­men und vor die­sem ver­öf­fent­licht).
Es wur­de ohne elek­tri­sche Gitar­ren, aber mit einem 32-köp­fi­gen Orches­ter ein­ge­spielt, was ihm den Sound eines Unplug­ged-Albums (oder von Ben Folds‘ „So The­re“) ver­leiht, nur dass es zwölf brand­neue Songs sind und kei­ne neu ein­ge­spiel­ten Hits. Es klingt also wär­mer, ent­hält aber ansons­ten klas­si­sche unwi­der­steh­li­che Weezer-Melo­dien und cle­ve­re Tex­te über das Leben in Zei­ten von Gen­tri­fi­zie­rung, Smart­phones und unzäh­li­gen Zoom-Calls. Wenn „New Yorker“-Cartoons Musik wären, wären sie die­ses Album!

8. Dan­ger Dan
Ich hat­te natür­lich noch nie bewusst irgend­was von der Anti­lo­pen Gang gehört, als sich mein hal­ber Freun­des­kreis über­schlug, ich müs­se jetzt unbe­dingt die­se ZDF-Sen­dung schau­en, in der ein Mann namens Dan­ger Dan, der Mit­glied besag­ter Hip-Hop-Band sei, gemein­sam mit Thees Uhl­mann durch die Gegend zie­he und am Kla­vier sei­ne neu­en Solo-Songs spie­le. Ooooo­kay! Nicht alle Songs haben mich abge­holt, aber „Lauf davon“ ist natür­lich ein Meis­ter­werk der Melan­cho­lie; gleich­zei­tig Punk und Roman­tik, als hät­te sich Rio Rei­ser mit Igor Levit zusam­men­ge­tan. „Das ist alles von der Kunst­frei­heit gedeckt“ war mir erst einen Tacken zu Jan-Böh­mer­mann-Twit­ter-iro­nisch, aber die drit­te und vier­te Stro­phe haben mich mit offe­nem Mund vor dem Fern­se­her sit­zen las­sen: Wie er da mit Ken Jeb­sen, Jür­gen Elsäs­ser, Alex­an­der Gau­land, AfD, ras­sis­ti­schen Poli­zis­ten abrech­net, so etwas hat­te ich im Pop sel­ten gehört.
Und dann kam „Eine gute Nach­richt“ raus: Ein unend­lich poe­ti­sches, kom­plett unpein­li­ches Lie­bes­lied; eines der bes­ten, das je geschrie­ben wur­de – und das auf Deutsch!
Zum Album, das auch „Das ist alles von der Kunst­frei­heit gedeckt“ (Anti­lo­pen Geld­wä­sche; Apple Music, Spo­ti­fy) heißt, habe ich ein gespal­te­nes Ver­hält­nis – man­che Lie­der sind mir zu „lus­tig“, auf gan­ze Län­ge ist es mir ein biss­chen zu mono­ton, aber das ist eigent­lich egal: Schreibt mal drei Songs, die so unter­schied­lich rein­hau­en, und dann reden wir wei­ter!

7. Big Red Machi­ne
Beim ers­ten Album war Big Red Machi­ne noch die Mini-Super­group von Jus­tin Ver­non (Bon Iver) und Aaron Dess­ner (The Natio­nal) gewe­sen, in der Zwi­schen­zeit hat­ten die bei­den mit Tay­lor Swift für deren Meis­ter­wer­ke „Folk­lo­re“ und „Ever­mo­re“ zusam­men­ge­ar­bei­tet und so kam die Prä­si­den­tin des Pop fürs zwei­te Album „How Long Do You Think It’s Gon­na Last?“ (Jagjaguwar/​37d03d; Apple Music, Spo­ti­fy) zum Gegen­be­such vor­bei und traf dort unter ande­rem auf Anaïs Mit­chell, die Fleet Foxes (was ist eigent­lich aus denen gewor­den?!), Sharon van Etten, Ben Howard und ande­re, die gemein­sam mit Ver­non und erstaun­lich viel Dess­ner, der zuvor noch nicht groß als Sän­ger in Erschei­nung getre­ten war, melan­cho­lisch-hym­ni­sche Lie­der anstimm­ten. (Dass es sich die Band erlau­ben kann, den gemein­sa­men Song mit Micha­el Sti­pe gar nicht erst aufs Album zu packen, sagt schon viel aus!)
Nun läuft ein Album bei so vie­len Stim­men schnell Gefahr, eher nach Mix­tape zu klin­gen, aber was heißt hier „Gefahr“?! Wenn es ein so stim­mungs­vol­les, in sich geschlos­se­nes Mix­tape ist, wer wür­de sich da beschwe­ren?!

6. The Wall­flowers
Ich hat­te nicht damit gerech­net, dass die Wall­flowers neun Jah­re nach ihrem letz­ten Album (das neben einer The-Clash-Hul­di­gungs-Sin­gle nicht so rich­tig viel zu bie­ten hat­te) und nach dem Aus­stieg der letz­ten Band­mit­glie­der, die nicht Jakob Dylan hie­ßen, über­haupt noch mal ein Album auf­neh­men wür­den. Doch nach ein paar Vor­ab-Sin­gles war „Exit Wounds“ (New West Records/​LLC; Apple Music, Spo­ti­fy) da und schloss eigent­lich naht­los an ihr 25 Jah­re altes Erfolgs­al­bum „Brin­ging Down The Hor­se“ an: Ame­ri­ca­na-Musik über die ganz gro­ßen The­men, bei vier Songs gran­di­os unter­stützt durch Shel­by Lyn­ne.
Es ist Musik für Män­ner in Chucks und Karo­hem­den, die lang­sam, aber sicher auf die 40 zuge­hen (oder schon lan­ge dar­über hin­aus sind), aber in Zei­ten wie die­sen ist es toll, Musik zu haben, die wie ein gro­ßer Bru­der oder ein jun­ger Onkel zu einem kommt und sagt: „Hier ist ein Bier für Dich, mein Pick-Up-Truck steht vor der Tür – jetzt fah­ren wir in den Son­nen­un­ter­gang, schna­cken ein biss­chen und alles wird gut!“

5. Wild Pink
Es war wenig über­ra­schend „All Songs Con­side­red“, wo ich erst­mals auf die Musik von Wild Pink traf. „A Bil­li­on Litt­le Lights“ (Roy­al Moun­tain Records; Apple Music, Spo­ti­fy), das drit­te Album der New Yor­ker Band, erwies sich als die per­fek­te Früh­lings­mu­sik: ein biss­chen pas­tel­lig-opti­mis­tisch, ein biss­chen schläf­rig-melan­cho­lisch; zwi­schen Joshua Radin, Rogue Wave und Stars; orga­nisch, mit gele­gent­li­chen Coun­try-Gitar­ren und cle­ve­ren Tex­ten.
Vor zwölf, drei­zehn Jah­ren wäre sol­che Musik bei „Scrubs“ oder in iPod-Wer­be­spots gelau­fen, heu­te hört man sie allen­falls noch auf dem Hald­ern-Pop-Fes­ti­val – wenn es denn statt­fin­det.

4. Vanes­sa Peters
Lus­tig, wie man 2021 Musik ent­deckt: Insta­gram hat­te mir im Früh­jahr das Video zu einem Song namens „Cra­zy­ma­ker“ als Wer­bung aus­ge­spielt und ich hab den Song sofort auf mei­ne Play­list gepackt. Im Herbst hab ich dann mal nach­ge­schaut, was die Sän­ge­rin dahin­ter noch so macht.
Hin­ter dem Namen „Vanes­sa Peters“ ver­mu­te­te ich – deutsch aus­ge­spro­chen – erst mal eine Frau, die in irgend­ei­ner frü­hen DSDS-Staf­fel mal den drit­ten Platz belegt hat­te und/​oder mal Vor­letz­te beim ESC wur­de (man kann ihn aber bequem ame­ri­ka­nisch aus­spre­chen, denn sie stammt aus Texas), und das Roy-Lich­ten­stein-für-Arme-Cover ihres Albums „Modern Age“ (Idol Records; Apple Music, Spo­ti­fy) hat mich zunächst auch etwas abge­schreckt.
Ober­fläch­li­cher Scheiß, denn die Musik ist toll: Als hät­ten Aimee Mann, Suzan­ne Vega und Kath­le­en Edwards eine Super­group gegrün­det. Sehr ame­ri­ka­nisch, obwohl die back­ing band kom­plett aus Ita­lie­nern besteht.

3. Emi­ly Scott Robin­son
Ich hat­te noch nie von Emi­ly Scott Robin­son gehört, als ihr drit­tes Album „Ame­ri­can Siren“ (Oh Boy Records; Apple Music, Spo­ti­fy) – natür­lich – bei „All Songs Con­side­red“ vor­ge­stellt wur­de. Das bit­ter­sü­ße Tren­nungs­lied „Let ’Em Burn“, das dort lief, reprä­sen­tiert das Album als Pia­no­bal­la­de musi­ka­lisch einer­seits nicht so rich­tig, ande­rer­seits passt es aber auch per­fekt in die­ses Album mit sei­nen oft redu­zier­ten Coun­try- und Folk­songs mit klu­gen und gesell­schafts­kri­ti­schen Tex­ten.
Es ist das Album, das Kacey Mus­gra­ves 2021 lei­der nicht gemacht hat, es erin­nert an Lori McKen­na und Hem und es ist ein­fach wun­der­schön!

2. Meet Me @ The Altar
Hat jemand „que­er POC all-girl pop-punk band“ gesagt? Count me in!
Natür­lich war es auch wie­der „All Songs Con­side­red“, wo ich zum ers­ten Mal von Meet Me @ The Altar gehört habe. Musi­ka­lisch kann man sie als Teil des 2000er-Revi­vals, irgend­wo zwi­schen blink-182 und Para­mo­re, Taking Back Sun­day und Avril Lavi­gne, anse­hen (und sie sind eine der weni­gen jun­gen Bands, die beim gro­ßen Zu-schön-um-wahr-zu-sein-Emo/­Pop-Punk-Fes­ti­val „When We Were Young“ in Las Vegas spie­len wer­den), aber die Tex­te sind irgend­wie reflek­tier­ter als die unse­rer dama­li­gen Mit­gr­öl-Hym­nen.
Das ist die Ener­gie, die ich im ver­gan­ge­nen Jahr gebraucht habe! Nach ihrer EP „Model Citi­zen“ (Fue­led By Ramen; Apple Music, Spo­ti­fy) hat die Band für 2022 ein Album ange­kün­digt, was bei so jun­gen Leu­ten dann doch über­ra­schend ist. Und schön.

1. Sir Simon & Bur­kini Beach
„Hä? Hast Du jetzt zwei Acts auf Platz 1 gepackt, Lukas?!“
Jau. We make up the rules as we go along.
Aber der Rei­he nach: Sir Simon ist natür­lich Simon Front­zek, der unter die­sem Namen schon 2008 und 2011 zwei ganz tol­le Indiepop-Alben ver­öf­fent­licht hat­te, seit­dem aber nichts eige­nes mehr. Er spielt seit 2019 in der Band von Thees Uhl­mann – und zwar zusam­men mit Rudi Mai­er ali­as Bur­kini Beach. Als sie 2020 über­ra­schend viel Zeit hat­ten, haben die bei­den ein­fach zusam­men zwei Alben geschrie­ben und auf­ge­nom­men: eben eins für Simon („Repeat Until Fun­ny“, Com­fort Noi­se; Apple Music, Spo­ti­fy) und eins für Rudi („Best Wes­tern“, Com­fort Noi­se; Apple Music, Spo­ti­fy). Die sind im August am glei­chen Tag erschie­nen und der letz­te Song auf bei­den Alben ist jeweils – und ich bin mir sehr sicher, dass es die­se genia­le, eigent­lich total nahe­lie­gen­de Idee in der Musik­ge­schich­te bis­her noch nie gege­ben hat – „Not Coming Home“, ein Duett zwi­schen den bei­den.
Man kann die­se Alben also kaum getrennt von­ein­an­der beur­tei­len – und das muss man auch gar nicht, denn sie sind bei­de wun­der­schön gewor­den und haben mich ab August durchs Jahr getra­gen. „Repeat Until Fun­ny“ klingt, um mal mei­nen bes­ten Freund zu zitie­ren, ein biss­chen wie ein bis­her unver­öf­fent­lich­tes Wea­k­erthans-Album, „Best Wes­tern“ wie eins von Death Cab For Cutie (und wir mei­nen nicht, dass es wie ein Abklatsch klingt, son­dern dass da zwei Men­schen, die Musik wirk­lich lie­ben und ver­in­ner­licht haben, im Äther der Musik ihre eige­nen Spra­chen und Stimm­la­gen gefun­den haben und die­se jetzt mit uns tei­len). Auch die Tex­te sind wirk­lich sehr klug und lus­tig, was ja bei deut­schen Acts, die auf Eng­lisch sin­gen, jetzt auch nicht unbe­dingt immer der Fall ist. Also: Ja, es sind wirk­lich zwei gute Alben und weil man sie nicht tren­nen kann, ste­hen sie bei­de hier vor­ne! („Vor­ne“ im sonst eher unge­bräuch­li­chen Sin­ne von „ganz am Ende des Tex­tes“, aber eben auf Platz 1. Hier muss die­ser Blog-Ein­trag enden.)

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Musik Leben

Was den Himmel erhellt

Ich erin­ne­re mich, wie ich am ers­ten Arbeits­tag des Jah­res 2006 die Post in der Musik­re­dak­ti­on von CT das radio öff­ne­te und dar­in die Pro­mo für die neue Tom­te-CD („Water­mark­ed #89“) lag. Wie ich die CD am Abend zum ers­ten Mal hör­te und wuss­te, dass ich viel Zeit mit die­sem Album ver­brin­gen wür­de.

Ich erin­ne­re mich, wie ich Thees Uhl­mann zum Inter­view im Düs­sel­dor­fer Zakk traf. Wie ich ihm unbe­hol­fen das Demo einer befreun­de­ten Band in die Hand drück­te, das ich eigent­lich für Simon Rass vom Grand Hotel van Cleef mit­ge­bracht hat­te, der aber gar nicht vor Ort war, und wie Thees zum ers­ten Mal die Kili­ans hör­te.

Ich erin­ner mich, wie ich um vier Uhr mor­gens in Dins­la­ken auf­stand und zum Düs­sel­dor­fer Flug­ha­fen fuhr, um nach Nürn­berg zu flie­gen (mein aller­ers­ter Flug ohne Eltern!). Wie ich mit dem Zug nach Erlan­gen wei­ter­fuhr, um die Kili­ans zu tref­fen, die jetzt, acht Wochen nach dem Inter­view, bei Tom­te im Vor­pro­gramm spiel­ten. Ich stell­te mich als Back­li­ner und Roa­die vor, bekam mei­nen eige­nen Back­stage-Pass und ver­gaß direkt am ers­ten Abend den Tep­pich, der auf der Büh­ne unter Micka Schür­manns Schlag­zeug lie­gen soll­te, in einer Ecke des E‑Werks.

Ich erin­ne­re mich dar­an, Tom­te vier Tage hin­ter­ein­an­der live zu sehen, die neu­en Songs zu hören, die ich schon in- und aus­wen­dig kann­te, und zu spü­ren, wie die­se Band auf der Wel­le der Emo­tio­nen surf­te, die ihnen ent­ge­gen­ge­bracht wur­de. An die Zei­le „Und du sag­test: Da ist zu viel Krebs in dei­ner Fami­lie“, die mir jeden Abend die Trä­nen in die Augen trieb, weil mein gelieb­ter Groß­on­kel gera­de im Kran­ken­haus lag und vier Mona­te spä­ter an die­ser Arsch­loch-Krank­heit starb. An Sound­checks, Back­stage­räu­me und den Deckel einer Roh­lings­pin­del, aus dem Thees Wodka‑O trank, bevor ich ihn auf die Stirn küss­te.

Ich erin­ne­re mich an zahl­rei­che Fes­ti­vals im Som­mer, auf denen ich Tom­te immer wie­der live sah, und wie wir beim Essen Ori­gi­nal so nass wur­den, dass das Was­ser beim Gehen aus unse­ren Schu­hen schwapp­te.

Ich erin­ne­re mich, wie ich für CT eine eige­ne Ver­si­on von „New York“ zusam­men­schnitt, weil die Album­ver­si­on zu lang war, aber auf der Sin­gle­ver­si­on das tol­le Intro fehl­te. (Ich glau­be, das ist ille­gal, und die Band und ihr Pro­du­zent Swen Mey­er könn­ten mich wahr­schein­lich heu­te noch ver­kla­gen.)

Ich erin­ne­re mich, wie ich im Sep­tem­ber für drei Mona­te zu mei­ner ame­ri­ka­ni­schen Fami­lie nach San Fran­cis­co flog und dach­te, dass es ja ein merk­wür­di­ger Zufall ist, dass Thees mit „Wal­ter & Gail“ ein Lied über sei­ne ame­ri­ka­ni­sche Fami­lie geschrie­ben hat­te.

Ich erin­ne­re mich, wie ich mit mei­nem Onkel nach New York flog, das damals wirk­lich noch die „Stadt mit Loch“ war. Dass ich am Chel­sea Hotel vor­bei­ging und wir am Sonn­tag­nach­mit­tag durch den Cen­tral Park spa­zier­ten und bei Son­nen­un­ter­gang das Reser­voir erreich­ten und wie ich dach­te, dass manch­mal ein­fach alles einen Sinn ergibt.

Ich erin­ne­re mich, wie ich im Dezem­ber wie­der in mei­nem WG-Zim­mer im Bochu­mer Stu­den­ten­wohn­heim saß, die Plat­te und „New York“ in all mei­nen Jah­res­bes­ten­lis­ten auf Platz 1 setz­te und dach­te, dass es wahr­schein­lich nie wie­der ein Album geben wür­de, das so eng mit mei­nem Leben ver­bun­den ist — und dass das auch okay sein wür­de.

Heu­te vor 15 Jah­ren erschien „Buch­sta­ben über der Stadt“ von Tom­te. L.Y.B.E.

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Songs des Jahres 2019

Machen wir’s schnell: Hier sind also 25 Songs, die ich ges­tern Abend um 21:57:26 in exakt die­ser Rei­hen­fol­ge für die bes­ten des zurück­lie­gen­den Jah­res hielt!

25. Loyle Car­ner – Loo­se Ends
Ich kom­me ja gene­rell deut­lich bes­ser mit bri­ti­schem Hip Hop klar als mit ame­ri­ka­ni­schem (oder deut­schem, haha­ha), aber Loyle Car­ner ist wirk­lich beson­ders gut, weil sein Sound so unglaub­lich tight und orga­nisch groo­vend ist, wäh­rend er trau­ri­ge Geschich­ten erzählt.

24. J.S. Ondara – Ame­ri­can Dream
Über das Album hab ich schon bei mei­nen Alben des Jah­res geschrie­ben, hier also der Ope­ner. Was ist der ame­ri­ka­ni­sche Traum in Zei­ten, in denen man mit den USA vor allem einen wahn­sin­ni­gen Rea­li­ty-TV-Star ver­bin­det, der irgend­wie zum Prä­si­den­ten wur­de? Hier klingt es fast nach einem Fie­ber­traum:

23. Mag­gie Rogers – Light On
Die gro­ße Fra­ge bei Mag­gie Rogers Debüt­al­bum war natür­lich: Wür­de sie es schaf­fen, nach „Alas­ka“ wei­te­re gro­ße Songs zu schrei­ben? „Light On“ beant­wor­tet die­se Fra­ge ziem­lich ein­deu­tig mit „Ja!“ (Bin ich der Ein­zi­ge, der im Refrain einen Hauch von „Shut Up And Dance“ hört?!)

22. Bet­ter Obli­vi­on Com­mu­ni­ty Cen­ter – Dylan Tho­mas
Wenn Phoe­be Bridgers und Conor Oberst eine Indie-Folk-Super­group grün­den, ist das allei­ne natür­lich schon mal super. Wenn dabei auch noch sol­che Songs rum­kom­men: Umso bes­ser!

21. Bear’s Den – Only Son Of The Fal­ling Snow
Ich bin ja immer ver­gleichs­wei­se spät mit mei­nen Bes­ten­lis­ten: Vie­le Leu­te und Redak­tio­nen ver­öf­fent­li­chen ihre bereits Anfang Dezem­ber. Sie haben dann womög­lich die Drei-Song-Ep ver­passt, die Bear’s Den am Niko­laus­tag ver­öf­fent­licht haben – und damit die­sen wun­der­vol­len Folk­song!

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Alben des Jahres 2019

Alben spie­len bekannt­lich kei­ne Rol­le mehr – das Medi­um der Zukunft heißt Stream (oder eben halt Kas­set­te)! Ich gebe zu, dass ich letz­tes Jahr zwar wahn­sin­nig vie­le Alben gehört habe, um sie für das inzwi­schen lei­der ein­ge­stell­te „JWD“-Magazin zu bespre­chen (Guten Tag, suchen Sie zufäl­lig noch einen Musik­ko­lum­nis­ten?!), aber in die aller­meis­ten nicht mehr rein­ge­hört habe, nach­dem mei­ne Rezen­si­on fer­tig war.

Dafür habe ich ca. eine Mil­li­on Songs gehört (zu deren bes­ten wir dann als nächs­tes kom­men), aber auch jede Men­ge EPs, die irgend­wie streng genom­men kei­ne Alben sind, weil sie nur fünf bis sie­ben Songs ent­hal­ten, wobei man mit sie­ben Songs auch schon ein Album sein kann und … Puh.

Viel­leicht ist es also das letz­te Mal, dass ich mich im Janu­ar hin­set­ze, um eine Lis­te zusam­men­zu­stel­len, die in die­ser Form nur weni­ge Mil­li­se­kun­den gül­tig ist und hin­ter dem 2. Platz eigent­lich auch aus­ge­wür­felt sein könn­te. Aber heu­te war es noch mal soweit und hier sind sie nun: Mei­ne zehn liebs­ten Alben des Jah­res 2019!

10. Julia Jack­lin – Crus­hing (Spo­ti­fy, Apple Music)
Was bei Julia Jack­lins Zweit­werk vor allem auf­fällt: Wie viel Raum die gan­zen Indie-Folk-Songs hier haben! Die ruhi­gen, weil sie so spär­lich instru­men­tiert sind, die lau­te­ren, weil sie ihn sich ein­fach neh­men. Gleich­zei­tig sind sie einem als Hörer*in wahn­sin­nig nahe (aber nur so nahe, dass ich es auch noch ertra­gen kann). Ein Album, das sich die Auf­merk­sam­keit holt, die es ver­dient.

9. Ider – Emo­tio­nal Edu­ca­ti­on (Spo­ti­fy, Apple Music)
Am Ende geht es in den aller­meis­ten Lie­dern ja eini­ger­ma­ßen deckungs­gleich um fol­gen­de The­men: die eige­nen Gefüh­le, die Gefüh­le ande­rer, Bezie­hun­gen und war­um sie nicht funk­tio­niert haben, das Leben und was man dar­aus macht. So gese­hen erfin­den auch Ider das Rad nicht neu, aber wie Megan Mar­wick und Lily Somer­ville da in ihren Elek­tro-Indie-Pop-Songs über all die­se The­men sin­gen, das ist schon sehr, sehr gut!

8. Car­ly Rae Jep­sen – Dedi­ca­ted (Spo­ti­fy, Apple Music)
Seit sie 2012 for­der­te, man sol­le sie viel­leicht anru­fen, kommt Car­ly Rae Jep­sen alle paar Jah­re mit einer Hand­voll per­fek­ter Pop­songs um die Ecke, die wie für mich gemacht wir­ken. Auch auf ihrem vier­ten Album gibt es wie­der ein­gän­gi­ge Melo­dien und Groo­ves und Tex­te, mit denen sich Teen­ager und Thir­ty­so­me­things iden­ti­fi­zie­ren kön­nen (letz­te­re füh­len sich wegen die­ses 80er-Sounds, der manch­mal bei­na­he ein biss­chen Gefahr läuft, ein Tacken zu viel des Guten zu sein, auch woh­lig an die eige­ne Kind­heit erin­nert). Wie viel Spaß das alles macht, beweist die Queen of Rosé­wa­ve auch bei ihrem Auf­tritt hin­ter Bob Boi­lens Schreib­tisch beim Tiny Desk Con­cert.

7. Craig Finn – I Need A New War (Spo­ti­fy, Apple Music)
Inter­es­san­te Tak­tik: Im April ein Solo­al­bum raus­brin­gen, im August dann eines mit der Haupt­band (das wie­der­um zur Hälf­te aus Songs besteht, die man in den Jah­ren zuvor schon als Sin­gles raus­ge­bracht hat­te), im Okto­ber dann schon wie­der eine neue Solo-Sin­gle. Kei­ne Ahnung, ob wir uns Craig Finn als Work­aho­lic, als Getrie­be­nen oder als glück­li­chen Men­schen vor­stel­len müs­sen – 2019 war er immer­hin gut beschäf­tigt und hat neben dem bes­ten Hold-Ste­ady-Album seit „Stay Posi­ti­ve“ eben auch sein viel­leicht bis­her bes­tes Solo­al­bum ver­öf­fent­licht. Um wirk­lich zu ver­ste­hen, was hier text­lich pas­siert, hilft es, mit Craig Finns Gesamt­werk ver­traut zu sein, das meh­re­re Bands und Jahr­zehn­te umspannt und eher mit Fort­set­zungs­ro­ma­nen als mit Lyrik zu ver­glei­chen ist, aber man kann sich auch ein­fach von der Musik trei­ben las­sen und sei­nem Sprech­ge­sang als eine Art wei­te­res Instru­ment zuhö­ren.

6. Mag­gie Rogers – Heard It In A Past Life (Spo­ti­fy, Apple Music)
Wenn Joni Mit­chell, Neneh Cher­ry, Suzan­ne Vega und Don­na Sum­mer gemein­sam ein Mäd­chen auf­ge­zo­gen hät­ten, wäre das zwar ein grif­fi­ges Bild für leicht hilf­lo­se Musik­jour­na­lis­ten, beschrie­be aber noch nicht annä­hernd, was hier, auf einem der sehn­lichst erwar­te­ten Debüt­al­ben des letz­ten Jah­res, eigent­lich genau los ist. Die Gren­zen zwi­schen „orga­nisch klar“ und „elek­tro­nisch ver­spielt“ ver­schwim­men eben­so wie die zwi­schen Melan­cho­lie und Eupho­rie, Folk und Dis­co, Tag und Nacht.

5. Loyle Car­ner — Not Waving, But Drow­ning (Spo­ti­fy, Apple Music)
Den Album­ti­tel ken­nen Men­schen mit pop cul­tu­re over­ex­po­sure natür­lich schon aus „Rea­dy For Drow­ning“ von den Manic Street Pre­a­chers, aber wer wuss­te schon, dass auch das nur eine Refe­renz auf ein Gedicht der Autorin Stevie Smith war? Eben! Bei Loyle Car­ner gibt’s das Gedicht im Titel­track zu hören, an ande­rer Stel­le spricht sei­ne Mut­ter und wer sich von so etwas nicht abschre­cken lässt, wird ein sen­sa­tio­nel­les Hip-Hop-Album ent­de­cken, wie gemacht für Men­schen, die behaup­ten, mit Hip Hop nichts anfan­gen zu kön­nen: Groo­ves wie auf 50 Jah­re alten Soul-Plat­ten, domi­nan­te Kla­vier- und Blä­ser­klän­ge, klu­ge und nach­denk­li­che Tex­te – wenn die Kids dem­nächst im Eng­lisch-Unter­richt Loyle Car­ner durch­neh­men, kann das nur für alle von Vor­teil sein!

4. Bon Iver – i,i (Spo­ti­fy, Apple Music)
Was mit Jus­tin Ver­non in einer ein­sa­men Wald­hüt­te begann, ist inzwi­schen ein gro­ßes Künstler*innen-Kollektiv mit Mul­ti­me­dia-Shows. Wie­der zugäng­li­cher als beim etwas rät­sel­haf­ten (und natür­lich trotz­dem sehr, sehr guten) letz­ten Album „22, A Mil­li­on“ kom­bi­nie­ren Bon Iver auf „i,i“ (klar, dass es auch dies­mal kein „nor­ma­ler“ Titel sein kann!) die Sounds der bis­he­ri­gen drei Alben zu einem dröh­nen­den, knar­zen­den, groo­ven­den, flir­ren­den, hym­ni­schen, dich­ten, atmen­den, umar­men­den Gesamt­werk, das man viel­leicht immer noch nicht ganz ver­steht, von dem man sich aber auf merk­wür­di­ge Art ver­stan­den fühlt.

3. J.S. Ondara – Tales Of Ame­ri­ca (Spo­ti­fy, Apple Music)
Ich fin­de ja, dass es nur sel­ten nötig ist, die Bio­gra­phie eines Künst­lers zu ken­nen, um sich sei­nem Werk zu nähern. Im Fall von J.S. Ondara soll­te man aber viel­leicht wis­sen, dass der jun­ge Mann in Kenia auf­wuchs, nach einer Dis­kus­si­on dar­über, ob „Kno­cking On Heaven’s Door“ von Guns ’n’ Roses oder jemand ande­rem sei, Bob Dylan für sich ent­deck­te und, nach­dem er des­sen Gesamt­werk in sich auf­ge­so­gen hat­te, beschloss, in des­sen Hei­mat Min­ne­so­ta aus­zu­wan­dern. Was für eine gran­dio­se Geschich­te (bei der es, neben­bei bemerkt, auch nicht ganz so wich­tig ist, ob er schon eine Tan­te in Min­ne­so­ta woh­nen hat­te, bei der er unter­kom­men konn­te – Pop­kul­tur ist kei­ne Poli­tik, sie ist der ein­zi­ge Ort, an dem Fak­ten eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le spie­len dür­fen!), die aller­dings auch nicht viel wert wäre, wenn die Musik doof wäre. Das ist sie auf „Tales Of Ame­ri­ca“ aller­dings ganz und gar nicht: Es ist ein gran­dio­ses Folk-Album, dem man das Jahr 2019 jetzt nicht wirk­lich anhört!

2. Liz­zo – Cuz I Love You (Spo­ti­fy, Apple Music)
Der Ope­ner „Cuz I Love You“ ist noch kei­ne zehn Sekun­den alt, da hat man schon einen guten Ein­druck von dem bekom­men, wozu Liz­zo und ihre Musiker*innen in der Lage sind – es fol­gen aber noch jede Men­ge wei­te­re Gele­gen­hei­ten, sich von die­ser Frau und ihrem Album kom­plett umhau­en zu las­sen. Big-Band-Sound, Hip Hop, Funk, Rock: kann sie alles! „Cra­zy, sexy, cool, baby /​ With or wit­hout make­up /​ Got not­hing to pro­ve /​ But I’ma show you how I do“ singt sie und macht es dann „like a girl“ – was in die­sem Fall natür­lich bedeu­tet: mit har­ter Arbeit, einem biss­chen Wut im Bauch und ganz viel Spaß. Mei­ne Fres­se, was macht die­ses Album Bock!

1. Thees Uhl­mann – Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen (Spo­ti­fy, Apple Music)
Ich hat­te ja ehr­lich gesagt nicht mehr mit viel gerech­net, als Thees Uhl­mann sein drit­tes Solo­al­bum ankün­dig­te: zu groß und alles über­strah­lend waren die Tom­te-Plat­ten „Hin­ter all die­sen Fens­tern“ und „Buch­sta­ben über der Stadt“ für mich gewe­sen, zu wenig hat­te ich mit den Solo-Sachen anzu­fan­gen gewusst. Und dann hör­te ich zum ers­ten Mal „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ und war völ­lig umge­hau­en: Dass die ers­ten vier Songs eines Albums durch­weg geni­al sind, kennt man ja viel­leicht von „Hot Fuss“ von den Kil­lers, fünf von „Cla­ri­ty“ von Jim­my Eat World, aber acht Mega­hits hin­ter­ein­an­der, das hat noch nicht mal „Lon­don Cal­ling“ von The Clash („Jim­my Jazz“, puuuuuh!)! Und auch danach sackt das Level nur mini­mal ab, um aber wie­der auf aller­höchs­tem Niveau zu enden – die bes­te Stel­le des Albums: Die­ses gebrüll­te „Ich fra­ge Dich“ in „Immer wenn ich an Dich den­ke, stirbt etwas in mir“, 80 Sekun­den vor Album-Ende! Was bis dahin alles pas­siert: Hym­nen auf Ste­phen King, Avic­ci, Katy Per­ry und Han­no­ver, Gedan­ken wie „Wie ein Sonn­tag­abend nach einer Land­tags­wahl“ oder „Ich bin der Fah­rer, der die Frau­en nach Hip­Hop Video­drehs nach Hau­se fährt“ und so viel mehr Zei­len, die man mit erho­be­ner Faust laut­stark mit­sin­gen will. Ein Album, das sich anfühlt wie nach Hau­se zu kom­men, wie drei Der­by­sie­ge in einer Woche, wie end­lich mit der Frau, die man seit zehn Jah­ren toll fand, zu knut­schen (ver­mu­te ich mal – ich hab ihre Num­mer an Sil­ves­ter end­lich gelöscht) – aber das habe ich ja im Sep­tem­ber schon auf­zu­schrei­ben ver­sucht. Geni­al!

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Leben

Another Decade Under The Influence: 2019

Die­ser Ein­trag ist Teil 10 von bis­her 10 in der Serie Ano­ther Deca­de Under The Influence

2019. Ich fah­re end­lich mal zum Euro­so­nic und schaue mir ca. 500 neue Acts an. Wir tre­ten tat­säch­lich im ver­damm­ten Ber­lin auf! Schnee­mann bau­en im Gar­ten. Zum ers­ten Mal mit Kind ins Sta­di­on, der VfL Bochum ver­liert, wir kom­men trotz­dem wie­der. Im JWD erscheint mein bis­her wich­tigs­ter Text. When I see your face /​ The future that awaits /​ Ano­ther city rising from the dust /​ Neon lights the way. Ich quat­sche dem Grand Hotel van Cleef den nächs­ten Deal an die Backe. Oster­fe­ri­en mit Koos Koni­jn und Ein­kaufs­zen­trum. ESC in Tel Aviv: Ich schwim­me zum ers­ten Mal im Mit­tel­meer, wir fah­ren E‑Scooter am Strand und dür­fen den letz­ten Live-Auf­tritt von Madon­na mit­er­le­ben. Die ers­ten Video­aben­de. Ich fin­de immer noch zuver­läs­sig die fal­schen Leu­te toll. Just the sight of you is get­ting the best out of me. In Bochum sind die Dinos los, in Dins­la­ken der Tiger. So vie­le Aus­flü­ge und Bah­nen! Ich schrei­be zum ers­ten Mal seit Jah­ren neue Songs. muff pot­ter. sind zurück, Thees Uhl­mann auch! Mit dem Kind auf die Fri­days-for-future-Demo. Burn, Palo Alto, burn! Ich hab zum ers­ten Mal seit 25 Jah­ren ein aktu­el­les Glad­bach-Tri­kot und nur eine Woche spä­ter star­tet die Borus­sia die längs­te Tabel­len­füh­rung seit 42 Jah­ren. Fami­li­en­tref­fen am Nie­der­rhein. End­lich wie­der Nord­see, zum ers­ten Mal seit acht Jah­ren wie­der eine Woche Urlaub am Stück! Should medi­ta­te, should work out more /​ Should read until my brain gets sore /​ Meet someone, go far away /​ Try being soci­al­ly less stran­ge. „Star Wars“ um 10 Uhr mor­gens im Mul­ti­plex. Ein total ent­spann­tes Weih­nachts­fest. Lass uns noch ein­mal zusam­men schrein: /​ Men­schen wie ich blei­ben bes­ser allein.

Ein Jahr mit Neu­ein­spie­lun­gen der größ­ten Hits der 90er, 00er, 10er und von heu­te. Das war schon ganz schön gut! Hal­lo, ich bin Lukas, 36, ich kom­me aus Bochum und mei­ne Hob­bys sind Musik und Fuß­ball! There’s a few things I need /​ But I’ve money for pay­ing /​ And if you’­ve enough room /​ I’ll con­sider stay­ing.

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Musik

Endlich einmal etwas, das länger als vier Jahre hält

In „Almost Famous“ warnt der Musik­jour­na­list Les­ter Bangs sei­nen jun­gen Kol­le­gen Wil­liam Mil­ler davor, sich mit Musi­kern anzu­freun­den. Die woll­ten eh nur, dass man gut über sie schrei­be, und wenn die Distanz weg sei, kön­ne man auch gleich auf­hö­ren.

So gese­hen habe ich mei­ne Musik­jour­na­lis­ten-Kar­rie­re im Früh­jahr 2006 in den Wind geschos­sen, als ich Thees Uhl­mann nicht nur das Demo einer jun­gen Nach­wuchs­band aus mei­ner nie­der­rhei­ni­schen Hei­mat in die Hand gedrückt habe, son­dern acht Wochen spä­ter auch noch als Teil des Tom­te/Ki­li­ans-Tros­ses durch den Süden der Repu­blik getourt bin.

Das ers­te Album, das ich Anfang des Jah­res bei CT das radio aus dem Berg von Bemus­te­rungs­post gefischt hat­te, war die „Buch­sta­ben über der Stadt“ gewe­sen, deren Songs ich dann vier Aben­de hin­ter­ein­an­der live gehört habe, und als ich Anfang Novem­ber im Cen­tral Park am Reser­voir (ja, das aus „New York“) stand, dach­te ich: Von so einem Jahr kann man sich nur erho­len, wenn man beim ESC live vor Ort ist, wenn Deutsch­land gewinnt.

Jah­re­lang tra­fen wir uns immer wie­der in den Back­stage­räu­men nord­rhein-west­fä­li­scher Indie­rock-Ver­an­stal­tungs­or­te, auf Fes­ti­vals und im legen­dä­ren, inzwi­schen natür­lich geschlos­se­nen, Dins­la­ke­ner Jäger­hof, wo Thees mich bei der Kili­ans-Release­par­ty auf die Stirn küss­te. (Die genaue­ren Details sind mir ent­fleucht und ich möch­te dies­be­züg­lich nur Fal­co para­phra­sie­ren.)

Thees Uhlmann und Lukas Heinser, 2009

Wie es sich für eine ordent­li­che Freund­schaft gehört, wur­de unse­re aber auch auf eine har­te Pro­be gestellt: Tom­te lie­fen nach jede Men­ge Line-Up-Wech­seln aus und Thees ver­öf­fent­lich­te 2011 ein selbst­be­ti­tel­tes Solo­al­bum, mit dem ich auch nach gründ­li­chem Hören irgend­wie nicht warm wur­de. Auf „Wal­ter & Gail“ hat­te er 2006 noch gegen das Mit­tel­maß ange­sun­gen, jetzt fei­er­te er „Das Mäd­chen von Kas­se 2“ und das Leben auf dem Dorf, obwohl doch alle Songs, die wir jemals gut gefun­den hat­ten, davon han­del­ten, das Scheiß-Leben auf dem Land end­lich hin­ter sich zu las­sen. Ich fühl­te mich betro­gen.

Thees war damals wei­ter als ich: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Nun wäre es bescheu­ert, zum bes­se­ren Ver­ständ­nis von Pop-Plat­ten die eige­nen Plä­ne vom Fami­li­en­le­ben zu sabo­tie­ren, aber ein paar Jah­re stand ich da in sei­nen Schu­hen und als Thees und sei­ne Band vor zwei Jah­ren in Ham­burg auf dem 15. Geburts­tag sei­nes Labels Grand Hotel van Cleef spiel­ten, stell­te ich fest, dass ich die Songs des ers­ten Solo­al­bums mit gro­ßer Hin­ga­be und Gän­se­haut mit­sang („Mei­ne Wahr­heit in 17 Wor­ten: Ich hab ein Kind zu erzie­hen, Dir einen Brief zu schrei­ben und ein Fuß­ball Team zu sup­port­en“). Dann kam die­se Mil­li­se­kun­de, als inmit­ten die­ses Sets mit Solo-Songs das Schlag­zeug-Intro zu einem Tom­te-Song erklang und noch ehe mein Gehirn exakt erfasst hat­te, wel­cher das eigent­lich war, war ich in der Luft und in mei­ner Erin­ne­rung habe ich für die nächs­ten 4 Minu­ten und 20 Sekun­den den Boden nicht mehr berührt – ich flog, wäh­rend ich mir gemein­sam mit dem Text zu „Schreit den Namen mei­ner Mut­ter“ die See­le aus dem Leib brüll­te, und alles war aus Gold. Fünf Tage zuvor war mei­ne Oma gestor­ben und das hier war genau das, was ich in die­sem Moment brauch­te, die letz­ten drei Jah­re gebraucht hät­te.

Anfang August kam nun end­lich das ers­te musi­ka­li­sche Lebens­zei­chen seit sechs Jah­ren: die Sin­gle „Fünf Jah­re nicht gesun­gen“. Mein Sohn und ich waren gera­de zu Besuch in Ber­lin, er schlief neben mir im Bett, als ich um Mit­ter­nacht Spo­ti­fy öff­ne­te und auf „Play“ drück­te:

Ich wür­de nicht behaup­ten, dass ich kom­plett ver­ste­he, wovon Thees da singt, aber die Stel­len, die ich ver­ste­he, füh­le ich sehr hart. Drei Wochen spä­ter war ich beim Kon­zert in Essen, was auf den Tag zehn Jah­re nach einem der letz­ten Tom­te-Kon­zer­te war, das ich gemein­sam mit den Kili­ans besucht hat­te. Thees und ich sahen uns nach der Show zum ers­ten Mal seit Jah­ren wie­der, ich bestell­te brav Grü­ße von mei­ner Mut­ter („Der Thees hat mir damals beim Kili­ans-Kon­zert den Tipp gege­ben, ein­fach Taschen­tü­cher ins Ohr zu stop­fen, wenn es zu laut ist. Das ist gut!“ – wenn das nicht Rock’n’Roll ist, weiß ich es auch nicht!) und wir sab­bel­ten über The Clash, „Paw Pat­rol“ und Ber­lin, als hät­ten wir uns vor ein paar Wochen zuletzt gese­hen.

Thees Uhlmann und Lukas Heinser, 2019

Eine Woche spä­ter bekam ich vom Grand Hotel das zuge­schickt, was im Jahr 2019 einer gebrann­ten Bemus­te­rungs-CD ent­spricht: Einen per­so­na­li­sier­ten Strea­ming-Link, unter dem ich Thees‘ neu­es Album „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ hören konn­te. Ich klick­te drauf, leg­te den Sound mei­nes Mac­Books auf mei­ne Anla­ge und drück­te etwas unsi­cher auf „Play“. Fünf­zig Minu­ten spä­ter saß ich erschöpft (ich hat­te ein paar Mal head­ban­gend durch die Woh­nung hüp­fen müs­sen) und auf­ge­wühlt (ich hat­te ein paar Mal Trä­nen in den Augen gehabt) auf mei­ner Couch und ver­fluch­te mich dafür, dass ich an dem Abend ver­ab­re­det war und das Album jetzt nicht direkt zehn Mal hin­ter­ein­an­der hören konn­te.

Olli Schulz sagt, „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ sei das Bes­te, was Thees seit „Hin­ter all die­sen Fens­tern“ gemacht hat, was ich nur des­we­gen nicht unter­schrei­ben kann, weil deren Nach­fol­ger „Buch­sta­ben über der Stadt“ bei mir eben so eine unglaub­li­che Son­der­stel­lung ein­nimmt. Genau­so wie kett­car die lan­ge Pau­se vor „Ich vs. Wir“ so gut getan hat, dass sie mal eben ihr viel­leicht bes­tes Album auf­ge­nom­men haben, ist auch Thees nach so lan­gem War­ten auf dem Höhe­punkt sei­nes Schaf­fens: Auf „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ sind er und sei­ne Band musi­ka­lisch so tight wie sel­ten, text­lich ist er noch bes­ser gewor­den.

Thees hat ja schon immer ver­sucht, Denk­mä­ler zu errich­ten, hier beschrif­tet er die Mes­sing­ta­feln teil­wei­se ganz schlicht: „Avicii“ ist tat­säch­lich ein völ­lig uniro­ni­sches Lob­lied auf den ver­stor­be­nen DJ, den er ger­ne geret­tet hät­te; „Katy Gray­son Per­ry“ schon ein Stück kom­ple­xer, weil er sowohl die ame­ri­ka­ni­sche Sän­ge­rin als auch den bri­ti­schen Künst­ler gemein­sam zu sei­nem Label holen will. In „Was wird aus Han­no­ver“ fei­ert er die Stadt, die vor allem für ihre völ­li­ge Egal­heit bekannt ist, und singt über deren bekann­tes­te Band: „Du hast über die Scor­pi­ons gelacht, aber die sind in ‚Stran­ger Things‘ “ – da muss man die Serie nicht mal geguckt haben, um zu ver­ste­hen, wie er das meint.

Die­ses Abkul­ten von Men­schen, berühm­ten wie unbe­kann­ten, erreicht im Titel­track sei­nen Höhe­punkt: Die Stro­phen sind eine ein­zi­ge Anein­an­der­rei­hung von Wid­mun­gen („Für das Mäd­chen im Ramo­nes Shirt“, „Für jeden, der in sei­ner Stra­ße Stol­per­stei­ne poliert“, „Für die Vier­fal­tig­keit der Bobs: Bob Mar­ley, Bob Dylan, Bob Andrews und Bob Ross“), der Refrain ein leuch­ten­der Ben­ga­lo im Mor­gen­grau­en:

Aber die Zukunft ist unge­schrie­ben
Die Zukunft ist so schön vakant
Und ich kom­me dich besu­chen
Egal ob Stamm­heim oder Bun­des­kanz­ler­amt

Da haben wir in vier Zei­len: Ein Joe-Strum­mer-Zitat, ein Fremd­wort, das sonst kaum in Lied­tex­ten auf­taucht, und das Name-Che­cking von zwei zen­tra­len Orten der deut­schen Nach­kriegs­ge­schich­te. Nenn mir einen die­ser jun­gen Deutsch­pop-Clowns, der etwas Ähn­li­ches hin­be­kom­men wür­de!

Natür­lich konn­te man Thees die­ses Pathos sei­ner Tex­te auch schon immer vor­wer­fen. Aber es ist ein ande­res Pathos als das von „Auf uns“ oder „Tage wie die­ser“, denn Thees‘ Lie­der tau­gen nicht zur Unter­ma­lung von Fuß­ball­tur­nier-Super­cuts. Viel­leicht gibt es für Außen­ste­hen­de auf dem Papier auch gar kei­nen Unter­schied, aber für mich ist es auch eine her­me­neu­ti­sche Kate­go­rie, wer da spricht oder singt. Ich weiß noch, wie ich damals erst die Tex­te von Tom­te und dann Thees selbst ken­nen­lern­te und dach­te: Da ist jemand, der packt das in Wor­te, was ich irgend­wo in mir drin gefühlt habe und nie­mals hät­te aus­drü­cken kön­nen. Thees gab mir das Voka­bu­lar für Lie­bes­be­kun­dun­gen, The­ra­pie­sit­zun­gen und Blog-Ein­trä­ge.

Mor­gen erscheint „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“ dann offi­zi­ell. Für mich endet damit die­se Pha­se, in der man sich wie ein Mit­ver­schwö­rer füh­len kann, weil man Songs kennt, die erst weni­ge Men­schen gehört haben. Aber ich bin mir sicher, dass es da drau­ßen Tau­sen­de gibt, die die­se Lie­der genau­so lie­ben wer­den wie ich und denen sie genau­so viel (und gleich­zei­tig etwas völ­lig ande­res) bedeu­ten wer­den.

Im letz­ten Lied der Plat­te singt Thees:

Ich bin der Letz­te mit einem Bier­glas in einer Welt vol­ler Cham­pa­gner
Die Welt ist von sich selbst besof­fen, aber ich bleib beim Bier

Du Astra, ich Fie­ge! Auf „Jun­kies und Sci­en­to­lo­gen“!

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Digital Gesellschaft

Straßenbahn des Todes

Dies ist kein Abschied, denn ich war nie will­kom­men
Will auf und davon und nie wie­der­kom­men
Kein Lebe­wohl, will euch nicht ken­nen
Die Stadt muss bren­nen

(Cas­per – Im Asche­re­gen)

Ich hab in die­sem Jahr schon mehr­fach Social-Media-Pau­sen gemacht, die „digi­tal detox“ zu nen­nen ich mich scheue: Als mein Sohn Kita-Feri­en hat­te, wenn wir mal übers Wochen­en­de oder etwas län­ger weg­ge­fah­ren sind, hab ich Face­book und Twit­ter ein­fach aus­ge­las­sen. Zum einen, weil die iPho­nes-Apps im Ver­gleich zur rich­ti­gen Nut­zung (ich bin ver­mut­lich der ein­zi­ge Mensch Mit­te Drei­ßig, für den ein Com­pu­ter mit Bild­schirm, Tas­ta­tur und Brow­ser die „rich­ti­ge“ Anwen­dung ist und ein Smart­phone maxi­mal eine hilf­rei­che Krü­cke für unter­wegs, aber das ist mir – wie so vie­les – egal) ein­fach noch unprak­ti­scher sind (und das will schon was hei­ßen), zum ande­ren, weil ich gemerkt habe, dass Social Media mir schlecht Lau­ne macht.

Jetzt war ich übers Wochen­en­de am Meer, hab gera­de wie­der den Lap­top auf­ge­klappt, kurz in Face­book rein­ge­guckt und schon wäre die gan­ze wun­der­ba­re Erho­lung (Strah­lend blau­er Him­mel, knal­len­de Son­ne und 24 Grad Mit­te Okto­ber! 17 Grad Was­ser­tem­pe­ra­tur! In der Nord­see!) fast wie­der weg gewe­sen.

Und dann traf mich die Erkennt­nis und ich hat­te end­lich einen Ver­gleich bzw. eine Meta­pher für das gefun­den, was mich an Social Media so sehr nervt, dass ich gera­de­zu von „krank machen“ spre­chen wür­de: Es ist, als säße man in der Stra­ßen­bahn und könn­te die Gedan­ken jedes ein­zel­nen Men­schen mit­hö­ren. Da sitzt ein Mann, der gera­de sei­nen Job ver­lo­ren hat und nicht weiß, wie es wei­ter­ge­hen soll. Dort ist eine Frau, die gera­de auf dem Weg in die Kli­nik ist: Ihre Mut­ter hat Krebs im End­sta­di­um. Hier sitzt ein 16-jäh­ri­ges Mäd­chen, des­sen Freund, ihre ers­te gro­ße Lie­be, gera­de Schluss gemacht hat und schon mit einer ande­ren zusam­men ist. Und da drü­ben ein klei­ner Jun­ge, des­sen Hams­ter ges­tern gestor­ben ist.

Natür­lich sit­zen da auch wel­che, denen es gut geht: Eine Fami­lie auf dem Weg in den Zoo. Ein alter Mann, der gera­de sei­nen neu­ge­bo­re­nen Uren­kel besucht hat und sich gleich eine Dose Lin­sen­sup­pe warm­ma­chen wird, sein Leib­ge­richt. Eine jun­ge Frau auf dem Weg zum ers­ten Date – sie weiß es noch nicht, aber sie wird den Mann spä­ter hei­ra­ten und eine glück­li­che Fami­lie mit ihm grün­den. Doch ihre Gedan­ken sind nicht so laut, weil sie nicht immer nur um das eine schlech­te Ding krei­sen, son­dern sie ent­spannt und glück­lich in sich ruhen. Eher das Schnur­ren einer zufrie­de­nen Kat­ze – und damit unhör­bar im Ver­gleich zu dem Geschrei einer Metall­stan­ge, die sich in einem sehr gro­ßen Getrie­be ver­kan­tet hat.

Aber mehr noch: Nicht nur ich kann all die­se Gedan­ken hören – alle kön­nen ein­an­der hören. Und die, die selbst schon völ­lig durch sind, schrei­en dann die ande­ren an: „Sie sind eh unfä­hig, völ­lig klar, dass Sie ent­las­sen wur­den!“, „Inter­es­siert mich nicht mit Dei­ner Mut­ter, jeder muss mal ster­ben!“, „Dum­me Schlam­pe! Was lässt Du Dich auch mit so einem Typen ein? Schlech­ter Män­ner­ge­schmack und kei­ner­lei Men­schen­kennt­nis!“, „Hams­ter sind eh häss­lich und dumm!“

Das ist kein Ort, an dem ich ger­ne wäre. Da möch­te ich nicht mal feh­len.

Und doch set­ze ich mich dem regel­mä­ßig frei­wil­lig aus – oder glau­be, es tun zu müs­sen. Weil ich beruf­lich wis­sen muss, „was das Netz so sagt“. Bei Face­book sieht die Wahr­heit eher so aus: Jour­na­lis­ten­kol­le­gen berich­ten Jour­na­lis­ten­kol­le­gen, was in der Welt so Schlech­tes los ist. „Nor­ma­le“ Men­schen aus mei­nem Umfeld pos­ten schon kaum noch bei Face­book. Und, klar: Es ist die Auf­ga­be von Jour­na­lis­ten, zu berich­ten – auch und vor allem über Schlech­tes. Aber dann doch viel­leicht in einem Medi­um? Face­book war mal als digi­ta­les Wohn­zim­mer gestar­tet, inzwi­schen weiß nie­mand mehr, was es genau sein soll/​will, nur, dass es so gefähr­lich ist, dass es mut­maß­lich durch exter­ne Mani­pu­la­ti­on die US-Wahl mit ent­schie­den haben könn­te. Die wenigs­ten Din­ge star­ten als leicht schram­me­li­ge Wohn­zim­mer-Couch und lan­den als Atom­bom­be.

Und natür­lich: Es sind extre­me Zei­ten. Der Brexit, die US-Wahl, der Auf­stieg der AfD, jetzt die Wahl in Öster­reich – wenn die Offen­ba­rung von der Redak­ti­on des „Eco­no­mist“ geschrie­ben wor­den wäre, kämen dar­in ver­mut­lich weni­ger Scha­fe und Sie­gel vor und mehr von sol­chen Schlag­zei­len. Die letz­ten Tage waren geprägt von immer neu­en Ent­hül­lun­gen über den ehe­ma­li­gen Film­pro­du­zen­ten und hof­fent­lich ange­hen­den Straf­ge­fan­ge­nen Har­vey Wein­stein, des­sen Umgangs­for­men gegen­über Frau­en allen­falls mit denen des amtie­ren­den US-Prä­si­den­ten zu ver­glei­chen sind. Nach zahl­rei­chen Frau­en, die von Wein­stein beläs­tigt oder gar ver­ge­wal­tigt wur­den, mel­den sich jetzt auch vie­le zu Wort, die in ande­ren Situa­tio­nen Opfer von beschis­se­nem Ver­hal­ten wider­li­cher Män­ner gewor­den sind. Und, Spoi­ler-Alert: Es sind vie­le. Ver­dammt vie­le. Mut­maß­lich ein­fach alle.

Auf­tritt wei­te­re Arsch­lö­cher: „PR-Akti­on!“, „Dich wür­de doch eh nie­mand anpa­cken!“, „Habt Ihr doch vor vier Jah­ren schon gepos­tet, #auf­schrei!“ Und wäh­rend man sich mit der Hoff­nung ret­ten kann, dass sich dies­mal viel­leicht wirk­lich etwas ändern könn­te (eini­ges deu­tet dar­auf hin, dass Har­vey Wein­stein tat­säch­lich von jener Hol­ly­wood-Gesell­schaft aus­ge­schlos­sen wer­den könn­te, die sich all­zu­lang in sei­nem Licht gesonnt hat­te), kom­men die nächs­ten Kom­men­ta­re rein und man zwei­felt dar­an, ob da über­haupt noch irgend­wo irgend­was zu ret­ten ist.

Nimm einen ganz nor­ma­len Typen, so wie er im Buche steht
Gib die­sem Typen Anony­mi­tät
Gib ihm Publi­kum, das nicht weiß, wer er ist
Du kriegst das dümms­te Arsch­loch, das man nicht ver­gisst

(Mar­cus Wie­busch – Haters Gon­na Hate)

Es gibt ver­dien­te Kol­le­gen wie Sebas­ti­an Dal­kow­ski, die sich wirk­lich die Mühe machen, denen, die sich nicht für Fak­ten inter­es­sie­ren, wei­ter­hin Fak­ten ent­ge­gen­zu­set­zen. Die all den klei­nen und gro­ßen Scheiß, den die so apo­stro­phier­ten Besorg­ten Bür­ger und ihre media­len Für­spre­cher so von sich geben, gegen­che­cken – und dafür wie­der nur Hass und Spott ern­ten. Für Men­schen wie ihn haben kett­car „Den Revol­ver ent­si­chern“ geschrie­ben, den klu­gen Schluss­song des gran­dio­sen neu­en Albums „Ich vs. Wir“, in dem sie auch die viel­leicht zen­trals­te Fra­ge unse­rer Zeit stel­len: „What’s so fun­ny about peace, love, and under­stan­ding?“

Aber selbst, wenn Sebas­ti­an ein oder zwei Men­schen über­zeu­gen soll­te (was ich, so viel Opti­mis­mus ist durch­aus noch da, ein­fach mal hof­fe), muss ich jeden Mor­gen bei ihm lesen, wel­che Sau jene Leu­te, die Voka­beln wie „Gut­men­schen“ und „Ban­hofs­klat­scher“ ver­wen­den, um damit Men­schen zu bezeich­nen, die noch nicht ganz so viel Welt­hass, Pes­si­mis­mus und Mis­an­thro­pen­tum in ihren Her­zen tra­gen wie sie selbst, jetzt wie­der durchs Dorf getrie­ben haben. Und ich weiß, dass man es als „igno­rant“ und „unpro­fes­sio­nell“ abtun kann, wenn ich all das nicht mehr hören und lesen will, aber: krank und ver­bit­tert nüt­ze ich der Welt noch weni­ger. Ich hab sechs Jah­re BILD­blog gemacht – wenn ich heu­te wis­sen will, was in Juli­an Rei­chelts Kopf wie­der schief gelau­fen ist, kann ich das bei den Kol­le­gen nach­le­sen, die unse­re Arbeit dan­kens­wer­ter­wei­se immer noch wei­ter­füh­ren. Ich muss das nicht zwi­schen den ver­ein­zel­ten Kin­der­fo­tos ent­fern­ter Bekann­ter in mei­nem Face­book-Feed haben. Das gute Leben fin­det inzwi­schen eh bei Insta­gram statt.

Ich woll­te nie gro­ße Ansa­gen machen wie „Ich hab mich jetzt bei Twit­ter abge­mel­det“ – muss ja jeder selbst wis­sen, kann ja jeder hal­ten, wie er/​sie will, wirkt auch immer ein biss­chen eitel. Nur: Face­book und Twit­ter haben mitt­ler­wei­le eine Macht, die ihren Erfin­dern kaum klar ist. Sie kom­men nicht mehr klar mit dem Irr­sinn, der dort abgeht. Und dazu kommt noch der gan­ze Quatsch, dass rich­ti­ge Medi­en ihre Inhal­te dort abkip­pen, um wenigs­tens ein paar Krü­mel abzu­be­kom­men. Natür­lich inter­es­siert es Face­book und Twit­ter kein biss­chen, wenn ihnen ein unbe­deu­ten­der Blog­ger aus Bochum alle ver­füg­ba­ren Mit­tel­fin­ger zeigt, aber: Hey, immer­hin bin ich Blog­ger! Immer­hin hab ich hier ein Zuhau­se im Inter­net. Und wenn mir einer auf den Tep­pich pisst, kann ich ihn acht­kan­tig raus­wer­fen.

Ich weiß, dass Tei­le der Welt immer schlecht waren, sind und sein wer­den – ich brau­che nicht die täg­li­che Bestä­ti­gung. Wie kön­nen es uns hier so gemüt­lich machen, wie es in die­ser Welt (die übri­gens auch ganz vie­le wun­der­vol­le Tei­le hat) eben geht. Und dann hab ich ja auch noch mei­nen News­let­ter.

Ich hab ein Kind zu erzieh’n,
Dir einen Brief zu schrei­ben
Und ein Fuß­ball Team zu sup­port­en.

(Thees Uhl­mann – 17 Wor­te)

PS: Am Meer war es übri­gens wirk­lich wun­der­schön, das kriegt kein Social Media die­ser Welt kaputt!

Gestern am Strand von Scheveningen

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Leben

In memoriam Renate Erichsen

Ich schrei­be jetzt seit über 25 Jah­ren: Schul­auf­sät­ze, Lied­tex­te, Dreh­bü­cher, Rezen­sio­nen, Arti­kel, Semi­nar­ar­bei­ten, Blog­ein­trä­ge, Vor­trä­ge, Wit­ze, Mode­ra­tio­nen, News­let­ter, Tweets, … 

Letz­te Woche gab es eine Pre­mie­re, auf die ich auch noch ein paar Jah­re hät­te ver­zich­ten kön­nen: Ich habe mei­ne ers­te Trau­er­re­de geschrie­ben und gehal­ten – auf mei­ne Oma, die heu­te vor einem Monat im Alter von 84 Jah­ren gestor­ben ist.

Ich habe lan­ge dar­über nach­ge­dacht, ob ich dar­über etwas schrei­ben soll, weil es ja nicht nur um mein Pri­vat­le­ben geht, son­dern auch um das mei­ner Oma und mei­ner Fami­lie, des­we­gen will ich nicht ins Detail gehen, aber ande­rer­seits war mei­ne Oma medi­al bis zuletzt fit, hat mein Blog (und ande­re) gele­sen, „Lucky & Fred“ gehört (wes­we­gen ich ihren Tod auch in der letz­ten Fol­ge the­ma­ti­siert habe) und mit uns Enkeln per Tele­gram kom­mu­ni­ziert (Whats­App lief nicht auf ihrem iPad). Außer­dem gab es ja sonst kei­ne Nach­ru­fe auf sie und mut­maß­lich wird man auch kei­ne Stra­ßen nach ihr benen­nen oder ihr Sta­tu­en errich­ten.

Rena­te Erich­sen, die für uns nur Omi Nate war, wur­de 1932 in Ber­lin gebo­ren, wäh­rend des Krie­ges floh ihre Fami­lie nach Feh­marn und ließ sich dann spä­ter in Dins­la­ken (of all places) nie­der. Sie war, wohl auch des­halb, poli­tisch und gesell­schaft­lich sehr inter­es­siert und woll­te von ihren Enke­lin­nen und Enkeln immer wis­sen, wie wir über bestimm­te Din­ge den­ken. 

Die Rena­tio­na­li­sie­run­gen, die in der EU – aber nicht nur dort – in den letz­ten Jah­ren zu beob­ach­ten waren, berei­te­ten ihr gro­ße Sor­gen, poli­ti­sche Strö­mun­gen wie AfD und Donald Trump auch. „Das habe ich alles schon mal erlebt“, sag­te sie dann und es gab kei­ne Zwei­fel dar­an, dass sie das nicht noch mal haben muss­te — und auch nie­man­dem sonst wünsch­te.

Bei einem unse­rer Tele­fon­ge­sprä­che nach dem Brexit-Refe­ren­dum im ver­gan­ge­nen Jahr beklag­te sie sich dar­über, dass so weni­ge jun­ge Men­schen zur Wahl gegan­gen waren — aber auch und vor allem, dass so vie­le alte Men­schen über die Zukunft der Jun­gen abge­stimmt und ihnen damit die Zukunft ver­baut hät­ten. Obwohl sie, wie sie oft erwähn­te, eine klei­ne Ren­te hat­te, stimm­te sie bei Wah­len lie­ber so ab, wie sie es für „die jun­gen Leu­te“ (also: uns) für rich­tig hielt.

All das und eini­ge ande­re Din­ge habe ich ver­sucht, in mei­ne Rede ein­zu­bau­en und dabei fest­ge­stellt, dass das auf ein paar Sei­ten Text gar nicht so ein­fach ist. Klar: Auch in mei­nen jour­na­lis­ti­schen Arbei­ten ist nie Platz für alles, aber die füh­len sich nicht an, als müss­ten sie ein The­ma (oder in die­sem Fall: ein Leben) qua­si „abschlie­ßend“ ver­han­deln.

Vor der Trau­er­fei­er war es auch so, dass ich haupt­säch­lich an mei­ne Rede gedacht habe, was sich einer­seits total ego­is­tisch und fehl am Plat­ze anfühl­te, ande­rer­seits aber eine ganz gute emo­tio­na­le Ablen­kung war — und ich woll­te ja auch, dass die Rede eini­ger­ma­ßen gut und vor allem ange­mes­sen wird.

Ich habe des­halb auch noch mal die Rede gegoo­gelt, die Thees Uhl­mann von Tom­te im Febru­ar 2004 (Wahn­sinn, wie lang das schon wie­der her ist!) auf der Beer­di­gung von Roc­co Clein gehal­ten hat — für mei­ne Zwe­cke nur bedingt hilf­reich, aber auch all die Jah­re spä­ter immer noch groß, gewal­tig und trös­tend. Und bei der Suche bin ich auch auf ein Dop­pel­in­ter­view mit Thees und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re gesto­ßen, das letz­tes Jahr im „Musik­ex­press“ erschie­nen ist. Die bei­den lie­gen mir ja eh sehr am Her­zen (im Sin­ne von: ich wür­de ohne die bei­den ver­mut­lich gar nicht schrei­ben — oder zumin­dest nicht so, wie ich es jetzt – auch hier, gera­de in die­sem Moment – tue), aber es ist auch so ein schö­nes Gespräch, in dem es auch um beson­de­re Men­schen geht.

Und so erschien mir der Rück­weg aus Dins­la­ken nach Trau­er­fei­er, Urnen­bei­set­zung, Kaf­fee­trin­ken und sehr engem fami­liä­ren Bei­sam­men­sein dann auch der rich­tig Zeit­punkt, um nach Jah­ren mal wie­der „Hin­ter all die­sen Fens­tern“ zu hören, das Album mit dem Tom­te damals in mein Leben gekracht waren und das ich damals ganz oft im Zug von Dins­la­ken nach Bochum und zurück gehört hat­te.

Es war sicher­lich auch den beson­de­ren Umstän­den geschul­det, dass mich das Album noch ein­mal mit­ten ins Herz traf: „Schreit den Namen mei­ner Mut­ter, die mich hielt“, „Das war ich, der den weg­brach­te, den Du am längs­ten kennst“, „Es könn­te Trost geben, den es gilt zu sehen, zu erken­nen, zu buch­sta­bie­ren“, „Von den Men­schen berührt, die an dem Fried­hof stan­den, am Ende eines Lebens“ — ich hät­te mir sofort das gesam­te Album täto­wie­ren las­sen kön­nen.

Die­ses Gefühl, dass da jemand vor inzwi­schen 15 Jah­ren ein paar Tex­te geschrie­ben hat, die etwas mit sei­nem dama­li­gen Leben zu tun hat­ten, und dass die­se Tex­te dann zu ver­schie­de­nen Zeit­punk­ten im eige­nen Leben in einem genau die wun­den Stel­len tref­fen und gleich­zei­tig weh­tun und beim Hei­len hel­fen: Wahn­sinn! Immer wie­der aufs Neue!

Und dann noch mal die liner notes zum Album lesen und immer wie­der nicken und sich ver­stan­den füh­len. Mei­ne Oma hat Zeit ihres Lebens alle Lite­ra­tur ver­schlun­gen, derer sie hab­haft wer­den konn­te — „ich habe mehr durch Musik gelernt, als durch Biblio­the­ken“, sang wie­der­um Thees Uhl­mann auf der fina­len Tom­te-Plat­te.

Im Übri­gen hat sich her­aus­ge­stellt, dass so ein Tod (zumin­dest, wenn er nach einem lan­gen und erfüll­ten Leben kam und die Ver­stor­be­ne sich ange­mes­sen ver­ab­schie­den konn­te) ein viel­leicht etwas absei­ti­ger, aber zuver­läs­si­ger Gesprächs­mo­tor ist. Ich habe jeden­falls in den letz­ten Wochen vie­le sehr gute Gesprä­che mit engen Freun­den, aber auch ganz ande­ren Men­schen geführt.

Die­ser Text erschien ursprüng­lich in mei­nem News­let­ter „Post vom Ein­hein­ser“, für den man sich hier anmel­den kann.

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Musik

Eine Liebe zur Musik, eine Liebe zu den Tönen

Ich hab’s ver­passt: Am Sonn­tag jähr­te sich zum zehn­ten Mal das Tom­te-Kon­zert im Düs­sel­dor­fer Zakk, weni­ge Tage vor Ver­öf­fent­li­chung der „Buch­sta­ben über der Stadt“. Ich war zum Inter­view mit Thees Uhl­mann ver­ab­re­det und ent­spre­chend früh da, war aber trotz­dem etwas erstaunt, als mich der Künst­ler dann höchst­selbst auf dem Han­dy anrief und zum Gespräch bat.

Als er die Tür zum Back­stage­raum öff­ne­te, trug er einen Blink-182-Kapu­zen­pull­over, hat­te ein Rot­wein­glas in der Hand und grins­te mich an. Es war unser zwei­tes Inter­view, wovon er aber ver­mut­lich nichts wuss­te. Ich hat­te das Album schon seit Anfang des Jah­res und war schwer begeis­tert, muss­te aber erst noch was ande­res los­wer­den:
„Hi, ist Simon nicht da? Ich hät­te hier ein Demo für ihn. Sind Bekann­te von mir, die machen so Strokes-mäßi­gen Indie­rock.“

Und Thees sag­te so was wie: „Zeig mal hier“, guck­te auf die Track­list und sag­te tri­um­phie­rend: „Gott sei Dank, sie sin­gen Eng­lisch!“ Dann leg­te er die CD in sei­nen Lap­top und drück­te auf Play. Zu den ers­ten Tak­ten von „At All“ sang er „Ein Volk steht wie­der auf …“, weil der Beat was von kett­cars „Dei­che“ hat. Er skipp­te sich durch die sechs Songs und sag­te die gol­de­nen Wor­te: „Wenn ich die mor­gen noch geil fin­de, wenn ich wie­der nüch­tern bin, dann sign ich die!“ Dann erst konn­te ich mein Inter­view begin­nen.

Als Ger­ne Poets, der Mana­ger, wäh­rend des Inter­views kurz vor­bei­schau­te, erklär­te ihm Thees im Über­schwung, er habe gera­de ein Demo gehört und wer­de eine neue Band beim Grand Hotel van Cleef unter Ver­trag neh­men. Ger­ne dach­te ver­mut­lich das glei­che wie ich: „Ja, klar. Laber­la­ber!“ Acht Wochen spä­ter stand ich im E‑Werk in Erlan­gen und sah die Kili­ans im Vor­pro­gramm von Tom­te spie­len.

Seit­dem ist viel pas­siert: Die Bands gibt es nicht mehr, eini­ge von uns sind Väter gewor­den, die meis­ten Leu­te habe ich seit Jah­ren nicht gese­hen. Aber die­se vier Tage, die ich mit Tom­te und den Kili­ans auf Tour war, als wir in Stutt­gart im Copy Shop hun­der­te von CD-Book­lets nach­dru­cken las­sen muss­ten und auf allen ver­füg­ba­ren Lap­tops die­se EP gebrannt haben (teil­wei­se am Merch­stand: „Hi, ich hät­te ger­ne die CD von der Vor­grup­pe!“ — „Ja, klei­nen Moment, gleich ist wie­der eine fer­tig!“), als ich die Songs von Tom­te Abend für Abend gehört habe, als sich mein Leben wie „Almost Famous“ anfühl­te und wir für eine kur­ze Zeit über­zeugt davon waren, dass es im Leben nichts wich­ti­ge­res, bedeut­sa­me­res und grö­ße­res geben kön­ne als Rock­mu­sik, das alles wird für immer blei­ben. Auf einem Platz in mei­nem Herz steht Dein Name an der Wand und ich will, dass Du es erfährst.