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Alles ist Material

Der Künst­ler Nasan Tur hat eines der außer­ge­wöhn­lichs­ten Bücher erstellt, das ich über Street Art im wei­tes­ten Sin­ne ken­ne: Für „Stutt­gart says…“ hat er Graf­fi­ti nicht abfo­to­gra­fiert, son­dern abge­schrie­ben. Der Medi­en­wech­sel wirkt Wun­der und ver­leiht den mut­maß­lich eher häss­li­chen Spraye­rei­en plötz­lich den Anschein von abso­lu­ter Poe­sie.

Hier eini­ge Bei­spie­le:

Dein ICH muss dei­nem Selbst wei­chen,
Chris­tus ist immer noch im wer­den!

Geist­krank

I LIKE!

lie­be RAF,
ihr habt euch vie­le neue Freun­de gemacht!

Mama ficker

Lan was geht?

Erstaun­lich, wie bedeu­tungs­schwer sol­che Zita­te wir­ken, wenn man sie völ­lig aus ihrem Kon­text her­aus­löst.

An Turs Buch muss­te ich den­ken, als ich heu­te an einem Haus in mei­ner Noch-Nach­bar­schaft vor­bei­kam. Schon vor Jah­ren hat­te dort jemand, der mut­maß­lich noch rela­tiv jung und sehr unge­übt im Umgang mit Spray­do­sen war, einen … nun ja: Satz an die Wand gesprayt, dem der Lin­gu­ist in mir stets mit gro­ßer Begeis­te­rung begeg­net war:

ANNA IST HURE

Die­ses Zitat wirft die berech­tig­te Fra­ge auf, war­um wir uns in der deut­schen Spra­che über­haupt mit Arti­keln auf­hal­ten, die schon vie­le Mut­ter­sprach­ler vor Her­aus­for­de­run­gen stel­len und das Erler­nen des Deut­schen für Aus­län­der unnö­tig erschwe­ren. Man könn­te doch eini­ger­ma­ßen gut auf den Gebrauch von Arti­keln ver­zich­ten, so wie sich jun­ge Men­schen schon seit län­ge­rem Prä­po­si­tio­nen spa­ren – auch bei „Bin Engel­bert­brun­nen“ oder „Gehst Du Uni-Cen­ter?“ weiß jeder, was gemeint ist.

Seit eini­gen Wochen jeden­falls ist das Haus, an dem der oben genann­te Spruch steht, um eini­ge schlech­te Graf­fi­ti rei­cher. Dar­un­ter eines, das die Geschwin­dig­keit des Sprach­wan­dels und den Fort­schritt der Gleich­be­rech­ti­gung glei­cher­ma­ßen doku­men­tiert:

PAUL IS HURE

Und jetzt sagen Sie bit­te nicht: „So ein Quatsch – Paul is dead, wenn über­haupt!“