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Rundfunk Digital

Dieser Text soll wütend machen

Ich habe angefangen, einen Text zu verfassen. Unglaublich, was dann passierte.

Man weiß ja eigentlich, dass eine Sache popkulturell durch ist, wenn die Parodien darauf anfangen, einem massiv auf den Sack zu gehen. ((Das ist in der Regel der Moment, in dem Radiosender anfangen, die betreffende Sache in ihr “Comedy”-Repertoire aufzunehmen.)) Die Nummer mit dem “Heftigstyle” ist also eigentlich durch.

Der “Heftigstyle” ist benannt nach dem “stilistischen” Vorbild heftig.co, einer Internetseite, die es sich zum Ziel gesetzt hat, bunte Meldungen von anderen, internationalen Trash-Portalen zusammenzuklauben, diese grob ins Deutsche zu übersetzen und mit plumpen Anreißertexten in Sozialen Netzwerken zu streuen. Ungefähr alles, was man über diese Website wissen muss, die vom guten Anstand über die Prinzipien des Kapitalismus bis hin zum geringsten sprachlichen Empfinden einfach alles beleidigt, hat der Herm schon vor drei Monaten aufgeschrieben. In meinen eigenen Social-Network-Feeds tauchen Meldungen von “Heftig” auffallend selten auf, was ich sehr gut finde, aber die Seuche greift um sich — immer mehr (meist ebenfalls unseriöse) Internetportale beteasern ihre Artikel in “Heftig”-Manier. Einen groben Überblick über diese Hölle liefert der inzwischen schon wieder etwas verwaist erscheinende tumblr “heftigstyle”.

Formulierungen wie “Dieser Elfmeterschütze möchte besonders angeben. Doch was dann folgt, ist einfach zum Lachen.” machen mich so unfassbar aggressiv wie sonst nur tropfende Wasserhähne über Edelstahlspülen. Ich brauchte ein paar Wochen mit mir und meinen Gefühlen um zu begreifen, warum das so ist. Dann wurde mir klar: Es ist die völlige Bevormundung des Lesers. Er soll schon vor der Lektüre des ganzen (meist lächerlich kurzen) Artikels wissen, wie er zu reagieren hat — im konkreten Fall Lachen. Mal davon ab, dass die wenigsten als besonders lustig angepriesenen Geschichten die entstandene Erwartungshaltung erfüllen können, ist das für mich auf eine Art ausgeprägte Menschenverachtung. Es ist irgendwie noch schlimmer als Fast-Food-Verpackung, auf die groß “Lecker!” gedruckt ist, es ist die maximale Unterforderung des Rezipienten.

Das Law-and-Order-Format “Achtung Kontrolle” auf Kabel Eins arbeitet mit den gleichen rhetorischen Mitteln, wenn die laienschauspielernden Polizisten oder Steuerfahnder ebenso leb- wie lieblos Satzkonstruktionen ablesen, die ungefähr so gehen: “Ich habe den Mann dann noch mal aufgesucht und was ich dann sah, hat mich wirklich überrascht.” Darauf folgt die nachgestellte Szene, in der der Ordnungshüter den Mann noch einmal aufsucht und dann etwas sieht, was ihn wirklich überrascht. Normal entwickelte Fünfjährige würden diesen Ablauf korrekt verstehen und einordnen, aber für die angeblich erwachsenen Zuschauer, die die Macher dieser Sendung offenbar für lernbehinderte Matschkartoffeln auf dem heimischen Sofa halten, wird das schön erklärt — und nach der Werbepause noch mal vom Off-Sprecher wiederholt.

Klar, wir Akademiker könnten uns jetzt schön zurücklehnen und sagen: “Das ist halt Trash-TV fürs Trash-Volk. Bildungsferne Schichten, Hartz IV, Dosenbier — die sind halt doof.” Also genau das, was sich die Produzenten solcher TV-Sendungen in all ihrer Überheblichkeit – und der daraus folgenden Menschenverachtung – auch denken. Aber ich weigere mich, das zu glauben. Billy Wilder hat mal gesagt, ((Sinngemäß, ich finde das Zitat leider auf die Schnelle nicht mehr wieder, es ist aber irgendwo im Wilder-Buch von Hellmuth Karasek zu finden.)) man dürfe den Zuschauer nicht unterschätzen bzw. unterfordern, er sei schlau genug, eins und eins selbständig zusammenzuzählen.

Bei “Tagesschaum” hatten wir spaßeshalber mal das Mission Statement “Wir wollen den Zuschauer auf mehreren Ebenen überfordern” formuliert — und dieses Versprechen sicherlich auch oft genug eingelöst. ((Und, klar: Unsere Quoten konnten nicht mit denen von “Achtung Kontrolle” mithalten.)) Ich habe erst mit der Zeit begriffen, dass es beim Fernsehen wirklich außergewöhnlich ist, gewisse Fakten als bekannt vorauszusetzen und den Zuschauer vor allem mal eigene Schlüsse ziehen zu lassen. Man kann ja heute kaum noch eine Nachrichtensendung schauen, in denen Aufnahmen von hungernden Kindern, vertriebenen Menschen oder den Auswirkungen von Naturkatastrophen nicht als “schlimme Bilder” anmoderiert werden — ganz so, als wäre das Publikum nicht selbst in der Lage, das Gezeigte als schlimm einzuordnen.

Womöglich bin ich da alleine, aber ich fühle mich von solchen Erklärungen immer bevormundet — genauso übrigens wie von den meisten Auflösungen in Krimis. Da haben die Autoren im ersten und zweiten Akt schön ihre Fährten gelegt und Hinweise gegeben, ((Inzwischen muss man ja schon froh sein, wenn das noch halbwegs natürlich geschieht und nicht irgendwelche Einblendungen aufpoppen, auf denen “Achtung! Diese Information wird gleich noch wichtig!” steht.)) und dann wird im dritten Akt noch mal eine Rückblende abgefeuert, damit auch der größte Depp (aus Sicht der Macher: der Zuschauer an sich) begreift, was ambach ist.

Ich möchte hier noch mal in Betracht ziehen, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, dem es so geht, aber ich denke bei Filmen oder Romanen lieber “Das habe ich jetzt nicht verstanden, da hätte ich besser aufpassen müssen, mein Fehler!” als “Ja-haaa! Ich hab’s verstanden!”. Ich weiß noch, wie wütend ich beim Sehen von Quentin Tarantinos “Inglourious Basterds” an einer Stelle wurde: In einer Gaststätte hatte sich ein Brite als Deutscher ausgegeben, tadelloses Deutsch gesprochen und war doch aufgeflogen. Er hatte beim Bestellen von drei Gläsern Scotch den Zeige-, Mittel- und Ringfinger hochgehalten — ein echter Deutscher würde die Zahl Drei aber mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger anzeigen. Man sieht in der Szene, wie August Diehl Michael Fassbenders Finger anstarrt und sein Gehirn rattert. Selbst wenn man nicht mit den kulturellen Unterschieden des finger-countings vertraut ist, gehen an dieser Stelle quasi alle Sirenen an und der Satz “Hier stimmt etwas nicht, Ihr seid aufgeflogen!” läuft in Laufschrift über Diehls Stirn. ((Damit wir uns nicht falsch verstehen: August Diehl macht in diesem Film einen phantastischen Job. Ich fand ihn fast noch besser als Christoph Waltz.)) Und trotzdem hielt Tarantino (womöglich: hielten die Produzenten) es für notwendig, die Sache mit den Fingern später noch einmal im Dialog aufzulösen. Damit auch der Letzte begreift, warum die Tarnung aufgeflogen ist.

Man hört ja immer wieder davon, dass viele Menschen, allen voran natürlich Schulkinder, nicht mehr in der Lage seien, einfache Texte sinnentnehmend zu lesen. Klar: Wenn ich daran gewöhnt bin bzw. werde, dass eine überraschende Wendung als solche gekennzeichnet wird oder dass traurige Musik anschwillt, wenn etwas trauriges passiert, dann wird es schwierig, wenn sich plötzlich der Asphalt vor mir auftut und der Tagebruch nicht “Überraschung!” schreit und die Musik ausbleibt, wenn der Hamster stirbt. Da bedarf es schon ein bisschen Vorwissen und Transferleistung, um das von selber auf die Kette zu kriegen.

Verschwörungstheoretiker würden jetzt erklären, dass es Wunsch und Auftrag von Regierung und/oder Werbekunden sei, das Volk dumm zu halten, aber ich fürchte, die Erklärung ist wie so oft viel einfacher, also schlimmer: Irgendwelche Controller haben in irgendwelchen Umfragen herausgefunden, wie man mit noch weniger eigenem Aufwand noch mehr Leute erreichen kann, die sich schon so sehr daran gewöhnt haben, für Toastbrot gehalten zu werden, dass es sie gar nicht mehr aufregt.

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Digital Politik Gesellschaft

Wir sind noch nicht so weit

Es gibt wohl mal wieder Grund für Kritik an der Bundesregierung und jede Menge Aufschreie aus der Blogosphäre. Einige Stimmen meinen gar, die Bundesregierung wolle den Faschismus einführen.

Ich halte das für Unsinn. Diese Bundesregierung könnte den Faschismus nicht einführen, wenn sie es wollte. Sie kann nur versehentlich den Boden dafür bereiten.

Denn wenn man sich die Pressekonferenz angesehen hat, auf der Nicht-Wilhelm von Guttenberg, Ursula von der Leyen und Brigitte Zypries heute über die Internetsperren gegen Kinderpornographie gesprochen haben, kann man nur zu einem Schluss kommen: Diese Menschen wissen wirklich nicht, wovon sie reden. Es gilt das gleiche wie in den Debatten über Bundestrojaner und “Killerspiele”: Ja, die Beteiligten sind ahnungslos — aber böswillig? Wohl kaum.

Don Dahlmann und Thomas Knüwer haben schöne Texte geschrieben über die “Systemkämpfe” bzw. die “digitale Spaltung”, die der Gesellschaft drohen. Ich habe das vor einem Jahr auch schon mal an ganz privaten Beispielen durchexerziert.

Und bei aller vermutlich sehr berechtigten Kritik an den ganzen Vorhaben dieser Berliner Dilettanten frage ich mich immer wieder, ob wir “Internetaktivisten”, deren Zahl ich mal sehr großzügig auf 500.000 Menschen schätzen möchte, nicht so eine Art digitale Autoschrauber sind: Nerds mit einem schönen Hobby, das aber gesellschaftlich nur bedingt relevant ist.

Die Millionengroßen Nutzerzahlen von YouTube, MySpace, Facebook und StudiVZ sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Internet für die allermeisten Nutzer in Deutschland so etwas ähnliches ist wie ein Auto (isch abe gar keins) für mich: Es ist praktisch, aber wie es funktioniert und was damit noch möglich wäre, ist irgendwie egal. Für diese Menschen ist Google “das Internet”, und sie nutzen es, um mit Freunden zu kommunizieren, für die Uni zu recherchieren und billige Flugreisen zu buchen. Eine Zensur von regierungskritischen Internetseiten, wie sie immer wieder an die Wand gemalt wird, hätte für diese Gelegenheits-User vermutlich die gleiche Bedeutung wie ein Tempolimit für mich: Es wäre ihnen egal.

Selbst wenn wir eine Million wären: Wir stünden immer noch mehr als 80 Millionen Menschen gegenüber. Zwar ist Masse in den seltensten Fällen ein Beleg für die Richtigkeit von Ideen, aber über deren wahre Bedeutung entscheidet immer noch der Verlauf der Geschichte. Und so wird die Zukunft zeigen, ob das Internet mit all seinen Chancen und Gefahren, mit all dem Tollen und Abscheulichen (das ich ja immer schon nur für eine digitale Abbildung der Lebenswirklichkeit gehalten habe), wirklich in eine Reihe mit den großen Errungenschaften der Menschheit (Feuer, Rad, geschnitten Brot) gehört, oder ob es “nur” ein sehr, sehr gutes Werk- und Spielzeug war.

Mich beschleichen immer wieder Zweifel, ob das World Wide Web wirklich das große Demokratie-Instrument ist, als das es gefeiert wird. Ich glaube schon, dass da ein enormes Potential vorhanden ist, aber noch weiß kaum jemand davon. Die Deutschen schimpfen einerseits seit Erfindung ihres Landes auf “die da oben”, sind aber andererseits in besorgniserregend hoher Zahl mit der “Arbeit” von Angela Merkel zufrieden. Diesen Menschen die Chance auf Mitbestimmung zu geben käme vermutlich ähnlich gut an, wie wenn man ihren Fliesentisch zerschlüge und ihnen “Du bist frei von den Fesseln des Kleinbürgertums!” entgegen riefe.

PS: Persönlich enttäuscht bin ich von Ursula von der Leyen, die ich bisher immer für eine kompetente und erfrischend progressive Familienministerin gehalten habe. Ich weiß nicht, ob sie einfach schlechte Berater hat, oder ob ihr die Berliner Luft nicht bekommt. Aber letzteres wäre durchaus verständlich.

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Print Digital

Der “Spiegel” muss in Zweifelhaft

Natürlich sieht das immer ein bisschen komisch aus, wenn man den eigenen Arbeitgeber lobt, aber dieses Titelbild hätte ich auch dann gut gefunden, wenn ich nicht studentische Hilfskraft beim “Freitag” wäre:

Merkels neues Gesicht

Früher hätte man solche Titelgrafiken auf dem “Spiegel” gefunden — und da wäre die Umsetzung zugegebenermaßen auch noch ein bisschen besser gewesen.

Aber der “Spiegel” ist schon lange das, was offenbar jede Medienlegende hierzulande (“Tagesschau”, das “Mittagsmagazin” auf WDR 2, Thomas Gottschalk, Harald Schmidt) werden muss: ein Schatten seiner selbst. Und deshalb sieht sein Cover heute so aus:

Fremde Freunde - Vom zweifelhaften Wert digitaler Beziehungen

Ob und inwiefern social networks unser Leben und unseren Umgang miteinander beeinflussen, ist ja ein Thema, an dem ich mich das ein oder andere Mal abzuarbeiten versucht habe.

Mein grundsätzliches Interesse war aber bei der Überschrift (ein Wunder, dass sie nicht “Falsche Freunde” lautete) recht schnell verraucht. Ich musste den Artikel aber gar nicht erst lesen und mich darüber aufregen, denn beides hat Thomas Knüwer dankenswerterweise schon übernommen.

PS: Markus Beckedahl von netzpolitik.org hatte schon gestern auf den Artikel verwiesen und ihn für nicht ganz so scheiße befunden. Er verweist zusätzlich auf ein Interview mit dem Leiter des “Spiegel”-Hauptstadtbüros, in dem dieser sich mit der Aussage zitieren lässt, er sei “so gut wie gar nicht im Netz unterwegs” und könne deshalb keine gute Website empfehlen.

PPS: Ich habe gestern mit einer Über-Siebzigjährigen Verwandten telefoniert, die meines Wissens noch nie vor einem Computer gesessen hat, und die trotzdem eine sehr viel differenziertere und positivere Meinung zu Blogs (sie benutzte wirklich das Wort “Blog”) und Internet hatte, als ich sie beim “Spiegel” je erlebt habe.

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Print Digital

Brüste – Jetzt auch in Deutschland!

Facebook findet stillende Mütter obszön und löscht Bilder von Brust und Baby.

schrieb die “taz” gestern. Auslöser war vermutlich eine Protestaktion von stillenden Müttern vor der Hauptverwaltung von Facebook, die von etwa 11.000 Menschen online begleitet wurde, indem diese Stillfotos zu ihren Userbildchen machten. Facebook hatte nämlich immer mal wieder Fotos, auf denen zu viel Brust zu sehen gewesen war, einfach gelöscht. Und in diesem “immer mal wieder” liegt der Knackpunkt, den der “taz”-Artikel verschweigt.

Anders als beispielsweise heise.de am 31. Dezember 2008 schrieb, hatte die Plattform damit nämlich nicht “im Herbst dieses Jahres angefangen”, sondern bereits im Jahr 2007 — ein Blick in die Facebook-Gruppe “Hey, Facebook, breastfeeding is not obscene!” hätte da ausgereicht.

Aber “taz” und Heise sind nicht die einzigen deutschen Medien, die erst durch die Berichte englischsprachiger Medien über die Protestaktion aufgewacht sind: Stern.de, das “Netzgeflüster” der “Hannoverschen Allgemeinen Zeitung”, der Mediendienst Meedia, “RP Online” natürlich und Zoomer.de (“Doch was sich die interne Zensur des Onlinenetzwerkes jetzt geleistet hat, geht überhaupt nicht”) — sie alle tun so, als sei der Umstand, dass Facebook solche Bilder löscht, eine Neuigkeit.

Bild.de, wo es natürlich eine Bildergalerie mit stillenden Müttern gibt, schreibt:

Ausgelöst hat den Wirbel Kelli Roman (23) aus Kalifornien.

Gemeint ist damit jene Kelli Roman, die das “Time”-Magazin kürzlich zu der ganzen Sache interviewt hatte, und neben deren Foto die “Time”-Redakteure folgenden Satz geschrieben hatten:

This photograph of Kelli Roman breastfeeding her baby was removed from Facebook a year and a half ago.

Und wenn Sie das Gefühl haben, über diese ganze Facebook-löscht-Stillfotos-Nummer schon mal vor längerer Zeit gelesen zu haben: das kann natürlich sein …

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Leben Unterwegs

Die Jugend der Weltpresse

Gestern durfte ich beim Jugendmedienevent zwei Seminare unter dem Motto “Web 2.0 – Blogs, Social Networks & Co” leiten. ((Am Titel trifft mich keine Schuld.)) Zweimal 16 Nachwuchsjournalisten unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichsten Vorkenntnissen wollten unterhalten werden und sollten natürlich etwas lernen.

Die erste Gruppe war die pure Wonne: die Jugendlichen ((Genau genommen waren die Ältesten der Gruppe gerade mal zwei Jahre jünger als ich, die Jüngsten aber 14. Es war wohl eher Zufall, dass eine so heterogene Mischung gut ging.)) hatten Interesse am Thema, kannten Portale, von denen ich noch nie gehört hatten, und meldeten sich allesamt bei twitter an, nachdem ich ihnen den Dienst vorgestellt hatte. Sie wirkten angenehm skeptisch und zurückhaltend, was die Angabe persönlicher Daten im Netz anging, und sahen sich die Blogs, die wir uns gemeinsam vornahmen, mit Interesse an. ((Ich hatte wahllos Platzierungen aus den deutschen Blogcharts an die einzelnen Teilnehmer verteilt. Das war insofern spannend, weil ich selber nicht genau wusste, über welche Blogs wir sprechen würden. Dass das System auch Nachteile hat, musste ich feststellen, als ich eine Teilnehmerin zur Auseinandersetzung mit der “Achse des Guten” zwang. Es tut mir aufrichtig leid.))

Die zweite Gruppe erwies sich als sehr viel schwieriger zu knacken: die Frage, warum sie sich für dieses Seminar entschieden hätten, konnte niemand so recht beantworten. Statt halbwegs gleichmäßig verteilter Redeanteile gab es ein paar wenige aktive Teilnehmer ((Und Teilnehmerinnen. Wenigstens mit dem Gerücht, Mädchen würden das Internet nur für die Ansicht von Pferdefotos und das Erstellen von MySpace-Profilen nutzen, sollte an dieser Stelle einmal gründlich aufgeräumt werden.)), ein paar gelangweilte Besserwisser und viel Schweigen. Mit social networks war dieser Gruppe kaum beizukommen: nicht mal die Hälfte war bei einem der Holtzbrinck-Fauzette, kaum jemand bei Facebook und, wenn ich mich recht erinnere, niemand bei MySpace. Diese Menschen interessieren sich vor allem für Blogs.

Einige hätten vorab schon überlegt zu bloggen, wussten aber nicht genau, was, wie oder wo. Das “wo” lässt sich ja recht leicht beantworten (blogger.com, wordpress.com, twoday.net), das “wie” ist mit “(im Rahmen der juristischen Möglichkeiten) einfach drauf los” auch schnell zusammengefasst, das “was” bleibt als zentrale Frage. Als Betreiber eines thematisch völlig offenen Blogs hielt ich den Hinweis für angebracht, dass man sich darüber auf alle Fälle im Vorfeld im Klaren sein sollte. Manchmal habe ich einen etwas merkwürdigen Humor.

Ich weiß nicht, ob es an der Nachmittagszeit lag, die generell träge macht, am gleichzeitig stattfindenden Bundesligaspieltag oder an ganz anderen Gründen, aber das mit der zweiten Gruppe lief nicht so richtig rund. Mitunter hatte ich das Gefühl, zu skeptischen Vertretern meiner Eltern-Generation zu sprechen und nicht zu weltoffenen Jungjournalisten. Andererseits stellten ein paar von ihnen auch wirklich kluge Fragen.

Es war eine interessante Erfahrung, die unter anderem gezeigt hat, dass die fünf Jahre zurückliegende Entscheidung, auf keinen Fall Lehrer werden zu wollen, eine sehr weise war. Wie ich mit Till, der ebenfalls unter den Referenten war ((Das wussten wir vorher nicht. Die Veranstalter wollten vorab keine Referentenlisten herausgeben, weil sie nicht “sicherstellen [konnten], dass jeder damit einverstanden ist”. Entsprechend wussten wohl auch die Teilnehmer vorab gar nicht, mit wem sie das Vergnügen haben würden. Eine wie ich finde eher mittelprächtige Idee.)), später noch diskutierte, sind auch längst nicht alle Leute, die heute jung sind und einen Computer einschalten können, digital natives. Bei einigen besteht das Internet aus der “Dreifaltigkeit” (Till) Google, StudiVZ und Wikipedia. Aber um das zu ändern waren wir ja da.

Mein insgesamt positiver Grundeindruck der Jungjournalisten wurde allerdings heute etwas getrübt, als ich im Blog “Onlinemagazin” zum Jugendmedienevent den Bericht über mein Seminar las: die haben meinen Vornamen falsch geschrieben.

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Digital Gesellschaft

Klickbefehl (11)

Ich war vorhin bei einer Diskussionsrunde über Datenschutz und “Datenexhibitionismus” (der hochverehrte frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum). Sie bot wenig neues und die auch von mir immer wieder vertretenen Thesen, dass es doch irgendwann egal sei, wenn erst mal alle alles online gesetzt hätten, wollte so recht auch niemand gelten lassen.

Schön, dass ausgerechnet heute ein Artikel in der Netzeitung erscheint, in dem sich Malte Welding mit dem Thema befasst und so kluge Sätze schreibt wie

Die Alternative dazu, vom Personalchef gegoogelt zu werden, ist: Nicht im Netz zu erscheinen. Wäre ich jedoch Personalchef und würde einen Bewerber bei Google nicht finden, würde ich mich fragen, ob der Betreffende die letzten Jahre tot war, Analphabet ist oder sich nur anonym im Netz rumtreibt auf Fetischseiten, deren Thema dicke Frauen, die viel zu schwere Rucksäcke tragen, sind. Wie man es also macht, macht man es falsch.

oder

Ich kann es nicht nachvollziehen, warum man auf Partys Fotos macht und sie im Dutzend ins Internet stellt. Genausowenig, wie unsere Großeltern verstehen konnten, dass unsere Eltern die Körperpflege einstellten und Friseurbesuche verweigerten oder unsere Urgroßeltern, dass unsere Großeltern Jazz hörten.

Sie können den Artikel hier lesen und sollten es auch tun!

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Print Digital

Fischen im Netz

Das Internet hat die Arbeit von Journalisten erheblich vereinfacht: Binnen weniger Sekunden kann man Agenturmeldungen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen (vorausgesetzt, man will), uralte Texte aus obskuren Archiven heraussuchen und per E-Mail Ansprechpartner in aller Welt kontaktieren. Vor allem aber hat man blitzschnell Informationen über junge Leute zur Hand, über die zuvor noch niemand geschrieben hat – außer sie selbst.

Das fiel mir gestern wieder auf, als ich auf der Internetseite des “San Francisco Chronicle” einen Artikel über einen Studenten aus Berkeley las, der am frühen Samstagmorgen erstochen wurde. Schon ohne die Familie des Opfers heimgesucht zu haben, konnten die Autoren am Samstagabend eine einigermaßen lebendige Charakterisierung des Toten abgeben:

Christopher W.*, who loved ’80s music, poker, baseball and football, according to his MySpace page, would have received his undergraduate degree later this month and was going to begin graduate school in nuclear engineering at UC Berkeley in the fall.

[…]

W.* was active in his fraternity, serving as vice president and pledge educator.

“Nobody can have a better set of friends than I do,” he wrote on his MySpace page. “I’m a Sigma Pi for life.”

W.* listed on MySpace the Bible as one of his favorite books and Jesus as one of his top interests.

Among his heroes, he listed “Jesus, my mom, my dad, my big brother, really wise people.”

* Anonymisierung von mir

Exkurs: Dass die Opfer eines Verbrechens (ebenso wie die Täter) meist mit vollem Namen genannt und auf Fotos gezeigt werden, ist im angelsächsischen Journalismus normal. Anders als in Deutschland, wo “Bild” und Konsorten häufig die unrühmliche Ausnahme darstellen, sind die Protagonisten von Kriminalfällen in Großbritannien und den USA oft auch in den sogenannten Qualitätsmedien vollständig identifizierbar. Entsprechend war es leider wenig überraschend, dass BBC und CNN im “Fall Amstetten” zu den ersten Medien gehörten, die Täter und Opfer bei vollem Namen nannten, bevor deutschsprachige Medien nachzogen (lesen Sie dazu auch diesen sehr klugen Einwurf bei medienlese.com). Exkurs Ende.

Doch zurück zum Toten von Berkeley und seinem MySpace-Profil: Immerhin hat man beim “Chronicle” (vorerst) darauf verzichtet, auch Fotos von seiner Seite zu veröffentlichen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie noch zum Einsatz kommen werden, denn nie war es einfacher, an persönliche Bilder und Informationen von Betroffenen zu kommen – “Witwenschütteln”, ganz ohne anstrengende Hausbesuche, bei denen man Gefahr laufen könnte, im Angesicht der Hinterbliebenen doch noch Gewissensbisse zu bekommen.

Als im Januar eine Bielefelder Schülerin beim Skifahren tödlich verunglückte, nutzten “Bild am Sonntag” (s. BILDblog) und RTL (s. Indiskretion Ehrensache) Privatfotos aus dem SchuelerVZ-Profil der Toten zur Illustration ihrer Artikel und Beiträge. Bei SchuelerVZ muss man sich – anders als bei MySpace – erst einmal anmelden, um die Profile der anderen Mitglieder einsehen zu können.

Im März brachte die “New York Times” ein großes Porträt über das Callgirl, das die politische Karriere des New Yorker Gouverneurs Eliot Spitzer beendet hatte – weite Teile stammten aus Telefoninterviews, die die Redakteure mit der jungen Frau geführt hatten, andere Details und Fotos waren direkt ihrer MySpace-Seite entnommen. Patricia Dreyer, “Panorama”-Chefin von “Spiegel Online” und Ex-Unterhaltungschefin bei “Bild”, musste wenig mehr machen, als den “New York Times”-Artikel noch zu übersetzen und mit indirekter Rede zu versehen, um bei “Spiegel Online” einen “eigenen” großen Artikel daraus zu machen. Wieder inklusive aller MySpace-Fotos, die dort plötzlich mit den Quellenhinweisen “AP” und “AFP” versehen waren.

Ende März brachte die “taz” einen längeren Artikel darüber, wie sich “Bild” immer wieder bei StudiVZ bedient und fragte auch in der Pressestelle von StudiVZ nach, wie man dort eigentlich zu dem Thema stehe. Die Antwort fiel wenig überraschend schwammig aus:

Die journalistische Verwertung von Bildern aus StudiVZ ist nicht in unserem Interesse. Das steht auch eindeutig in unseren AGB. Wird dennoch ein Foto von einem unserer Nutzer zu diesem Zweck unautorisiert verwendet, so handelt es sich hierbei um eine Verletzung der Urheberrechte. Der Nutzer kann gegen das entsprechende Medium vorgehen.

Doch noch einmal zurück zum “San Francisco Chronicle”, der – das muss man vielleicht noch mal erwähnen – durchaus zu den amerikanischen Qualitätszeitungen zählt und dessen Redakteure regelmäßig mit Journalismuspreisen geehrt werden: In einem weiteren Artikel auf der heutigen Titelseite werden dort Aussagen vom Bruder des Opfers mit Zitaten aus dem MySpace-Blog des Toten gegenübergestellt. Die Aussage, der Verstorbene sei ein friedlicher und religiöser Mensch gewesen, werden mit hormon- und alkoholgeschwängerten Partygeschichten verschnitten, die für jeden “Chronicle”-Leser drei Mausklicks weit entfernt sind.

Ich muss also meine eigene Meinung zur informationellen Selbstbestimmung, die ich hier schon einmal ausgebreitet habe, etwas einschränken: Zwar glaube ich nach wie vor, dass persönliche Blogeinträge und Partyfotos eines Tages für Personalchefs wieder völlig irrelevant sein werden (einfach, weil es sie von jedem Bewerber und dem Personalchef selbst geben wird), aber es besteht eben immer die Gefahr, unfreiwillig zum Gegenstand pseudo-journalistischer Berichterstattung zu werden.

Ich würde nicht wollen, dass, sollte ich morgen unter einem LKW liegen, die Zeitungen übermorgen mein Leben und Wesen so zusammenfassten: “Lukas mochte, wie er auf seinem MySpace-Profil schrieb, Achtziger-Jahre-Komödien und Musik von Oasis und Phil Collins.”

Nachtrag, 6. Mai: BILDblog gibt Tipps, wie man sich halbwegs gegen die Verwendung von Fotos schützen kann.

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Digital Gesellschaft

Scheiß auf Freunde bleiben

Kürzlich fragte ich in die Runde der Dinslakener Schul- und Jugendfreunde, ob und wie sie eigentlich online zu erreichen wären. MySpace, Facebook, LiveJournal, Twitter, last.fm, … – es gäbe da ja zahlreiche Möglichkeiten. Eine der Antworten lautete sinngemäß, derartige Plattformen seien Zeitverschwendung und dienten nur der Ausbreitung des Privatlebens vor den Augen der Weltöffentlichkeit, persönliche Gespräche seien doch viel besser.

Nun kann man natürlich darüber streiten, ob eine solche Aussage nicht eher zu greisen Redakteuren Lesern der “Süddeutschen Zeitung” passe als zu aufgeschlossenen Mittzwanzigern – noch dazu, wenn diese schon aus beruflichen Gründen am Erhalt und Ausbau von Netzwerken interessiert sein sollten. Ich will aber gar nicht darüber urteilen, jeder Mensch soll bitte genau so leben und kommunizieren, wie er es für richtig hält. Ich will auf etwas völlig anderes hinaus: Die Gesellschaft wird sich über kurz oder lang nicht mehr (nur) in alt und jung, arm und reich, oder nach Wohnorten aufteilen, die Grenze wird entlang von “online” und “offline” verlaufen.

Natürlich: Ich verweigere mich ja auch vehement der Nutzung von StudiVZ (seit dem Eintrag sind bei denen noch mal etwa drei Dutzend neue Sündenfälle hinzugekommen). Wer das tut, verschließt sich automatisch einem breiten Teil seiner Altersgenossen, denn wenn jemand von denen online ist, dann bei StudiVZ. Andererseits stellt sich sowieso die Frage, ob man Leute, denen man in der Uni oder gar in der Schule ab und zu “Hallo” gesagt hat, in unregelmäßigen Abständen “Wie geht’s?” fragen und ihnen zum Geburtstag gratulieren sollte, wenn einen die entsprechende Website darauf hinweist. Ich habe Schulfreunde, die nicht bei Google zu finden sind, und zu denen ich seit Jahren keinen Kontakt mehr habe, was ich immerhin aufrichtiger finde, als wenn sie Karteileichen in meinem Facebook-Account wären.

Die meisten Leute, die davon sprechen “im Internet” zu sein, meinen damit ihre E-Mail-Adresse für die ganze Familie bei T-Online, bei der sie einmal in der Woche nach elektronischer Post gucken. Das ist völlig in Ordnung und wer seine Eltern oder gar Großeltern einmal so weit gebracht hat, will ihnen nicht auch noch Usenet, IRC, Instant Messenger und VoIP-Dienste erklären. Als meine Großmutter mir einmal in einem Nebensatz mitteilte, dass sie dieses Blog hier lese, hätte ich fast meinen Kaffee gegen den Fernseher über den Tisch geprustet.

Außenstehenden zu erklären, worum es sich beim Barcamp Ruhr oder der re:publica handelte, wird schwieriger, je tiefer man in der Materie drin ist. Zwar konnte ich gerade noch so erklären, was ein Startup ist (“ein junges Unternehmen im Internet”), aber die Frage nach Twitter hätte ich nicht beantworten wollen – geschweige denn die Frage, was man denn davon überhaupt habe.

Während die große Mehrheit an Leuten im Internet höchstens Nachrichten “Spiegel Online” liest, befasst sich ein kleiner Kreis von Leuten mit immer schneller wechselnden Spielzeugen. Aus der Mode gekommene Sachen sind heute nicht mehr “so 2000”, sondern “so März 2008”. Das, was ich mittlerweile doch ganz gerne “Web 2.0” nenne, ist selbst für viele Leute, die in Webforen und ähnlichen 1.0-Gebilden aktiv sind, oft genug noch terra incognita.

Ich war selbst lange Zeit skeptisch, was viele dieser Dinge angeht, habe aber mit der Zeit gemerkt, dass es gar nicht wehtut, Social Networks zu nutzen, zu twittern oder zu Treffen (pl0gbar, Barcamp, re:publica) hinzugehen. So habe ich über das Web 2.0 neue Leute kennengelernt und sogar neue Freunde gefunden. Mein Bekanntenkreis gliedert sich zunehmend in On- und Offliner, wobei ich mit ersteren fast täglich in Kontakt stehe, mit letzteren meist nur noch zu Weihnachten.

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Digital Gesellschaft

Warum ich meine Brüste bei MySpace zeige

Manche Dinge sind nur schwer zu erklären: die Abseitsregel angeblich, der Erfolg von Modern Talking oder alles, was mit dem sogenannten Web 2.0 zu tun hat. Wer einmal versucht hat, seinen Großeltern das Konzept eines Blogs oder gar die Funktionsweise von Twitter zu erklären, kennt danach alle Metaphern und Synonyme der deutschen Sprache.

Zu den Dingen, die für Außenstehende (aber nicht nur für die) unverständlich erscheinen, gehört die Bereitschaft junger Menschen, privateste Dinge im World Wide Web preiszugeben. Bei MySpace, Facebook, LiveJournal, StudiVZ und ähnlichen Klonen teilen sie theoretisch der ganzen Welt ihr Geburtsdatum, ihre Schule und ihre sexuelle Orientierung mit und bebildern das Ganze mit jeder Menge Fotos, auf denen sie – wenn man der Presse glauben schenken darf – mindestens betrunken oder halbnackt sind, meistens sogar beides.

In der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung” von gestern war ein großer Artikel von Patrick Bernau zu dem Thema – interessanterweise im Wirtschaftsteil. Dort geht es hauptsächlich um die personalisierten Werbeanzeigen, die StudiVZ, Facebook und die “Hallo Boss, ich suche einen besseren Job!”-Plattform Xing zum Teil angekündigt, zum Teil eingeführt und zum Teil schon wieder zurückgenommen haben. Bernau montiert die Auskunftsfreudigkeit der User gegen die Proteste gegen die Volkszählung vor zwanzig Jahren, er hätte aber ein noch größeres scheinbares Paradoxon finden können: die Proteste gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Gelegentlich frage ich mich selbst, warum ich einerseits so entschieden dagegen bin, dass Polizei und Staatsanwaltschaft im Juli nachgucken könnten, wen ich gestern angerufen habe (sie brauchen nicht nachzugucken: niemanden), ich aber andererseits bei diversen Plattformen und natürlich auch hier im Blog in Form von Urlaubsfotos (also Landschaftsaufnahmen), Anekdoten und Meinungen einen Teil meines Lebens und meiner Persönlichkeit einem nicht näher definierten Publikum anbiete. Aber erstens halte ich Auskünfte über meine Lieblingsbands und -filme oder die Tatsache, dass ich Fan von Borussia Mönchengladbach bin, für relativ unspektakulär (ich drücke diese Präferenzen ja auch durch das Tragen von entsprechenden T-Shirts öffentlich aus), und zweitens gebe ich diese Auskünfte freiwillig, ich mache von meinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung Gebrauch.

Wenn also beispielsweise die Juso-Hochschulgruppe Bochum auf einem Flugblatt angesichts der personalisierten Werbung im Web 2.0 fragt:

Muss der Staat eingreifen? Wie weit darf die “Marktwirtschaft 2.0” gehen?

und dann auch noch “SchnüffelVZ” und Vorratsdatenspeicherung bei einer Podiumsdiskussion gemeinsam behandeln will, weiß ich schon mal, welcher Liste ich bei der Wahl zum “Studierendenparlament” nächste Woche meine Stimme nicht gebe. ((Nicht, dass nach der großen Geldverbrennungsaktion des Juso-AStAs noch die Gefahr bestanden hätte, diesem Haufen mein Vertrauen auszusprechen, aber doppelt hält besser.))

Ich habe ein wenig Angst, wie die FDP zu klingen, aber: Die Mitgliedschaft in der Gruschelhölle oder beim Freiberufler-Swingerclub Xing ist freiwillig, niemand muss dort mitmachen, niemand muss dort seine Daten angeben. Sie ist darüberhinaus aber auch kostenlos (Xing gibt’s gegen Bares auch als Premium-Version, aber das soll uns hier nicht stören) und wird dies auf lange Sicht nur bleiben können, wenn die Unternehmen über die Werbung Geld verdienen. Und warum personalisierte Werbung effektiver (und damit für den Werbeflächenvermieter ertragreicher) ist, erklärt der “FAS”-Artikel in zwei Sätzen:

Wenn zum Beispiel nur die angehenden Ingenieure die Stellenanzeigen für Ingenieure bekommen, bleiben die Juristen von den Anzeigen verschont. Wenn ein beworbenes Rasierwasser schon zur Altersgruppe passt, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es dem Nutzer tatsächlich gefällt.

Ob ich nun nach der einmaligen postalischen Bestellung bei einem Musikinstrumentenversand unaufgefordert die Probeausgabe einer Musikerzeitschrift im Briefkasten habe, oder ein wenig automatisch erzeugte Digitalwerbung auf meinem Monitor, macht qualitativ kaum einen Unterschied. Wenn mich das nervt oder mir meine hinterlegten Daten zu ungeschützt erscheinen, kann ich mich ja bequem zurückziehen – dann allerdings sollte ich auch die Möglichkeit haben, meine Daten Rückstandslos entfernen zu lassen, diese Mindesterwartung habe ich an den Plattform-Anbieter.

Wir brauchen also viel weniger einen staatlichen Eingriff (obwohl die Vorstellung, dass Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im Fernsehen erklären soll, was denn so ein “social network” ist, durchaus einen erheblichen Trash-Charme hat) und viel mehr Medienkompetenz. Die kommt freilich nicht von selbst, wie man auch am Super-RTL-Kritiker Günther “Scheiß Privatfernsehen!” Oettinger sehen kann. Medienkompetenz könnte auch nicht verhindern, dass von ein paar Millionen Computerspielern und Horrorfilm-Zuschauern zwei, drei Gestörte auf die Idee kommen, das Gesehene nachzuahmen, aber sie könnte Jugendliche wenigstens so weit bringen, dass diese das Für und Wider von Betrunken-in-Unterwäsche-im-Internet-Fotos abwägen könnten.

Aber auch bei dem Thema sehe ich noch Verständnisschwierigkeiten: Wenn Mädchen und junge Frauen in ihren Fotogalerien bei MySpace oder Facebook Bikini- oder Unterwäschebilder von sich reinstellen, heißt das ja noch lange nicht, dass sie von einer Karriere im Pornogeschäft träumen, wie es für manche Beobachter aussehen mag. Zwar lässt sich bei ein paar Millionen Mitgliedern nicht ausschließen, dass darunter auch ein paar Perverse sind, aber die Bilder dienen ja ganz anderen Zwecken: sich selbst zu zeigen ((Und ich höre mich mit bebender Stimme rufen: “Wir sollten in Zeiten von Magerwahn froh sein, wenn unsere Töchter so zufrieden mit ihrem Körper sind, dass sie ihn im Internet zeigen!”)) und den Herren in der peer group gefallen.

Nacktfotos von sich selbst hat bestimmt jede zweite Frau, die heute zwischen 18 und 30 ist, schon mal gemacht – mindestens, denn die Digitaltechnik vereinfacht auch hier eine Menge. Ob sie die ins Internet stellt und vielleicht sogar bei SuicideGirls oder ähnlichen Seiten Karriere macht ((Ich finde SuicideGirls ziemlich spannend und sehe darin eine geradezu historische Möglichkeit weiblicher Selbstbestimmung, doch das vertiefen wir ein andermal.)), sollte sie natürlich auch vor dem Hintergrund der angestrebten Berufslaufbahn (“Frollein Meier, mein großer Bruder hat sie nackt im Internet gesehen!”), ihres Selbstverständnisses und des Risikos der Belästigung gut abwägen. In jeder Kleinstadt gibt es ein Fotostudio, das im Schaufenster mit schwarz-weißen Aktfotos irgendeiner Dorfschönheit wirbt – diese Bilder sind oft von geringer künstlerischer Qualität und sind Lehrern, Nachbarn und gehässigen Mitschülern oft viel leichter zugänglich als MySpace-Fotos.

Auch Bilder von Alkoholgelagen gibt es, seit die erste Kleinbildkamera auf eine Oberstufenfahrt mitgenommen wurde. Ob Kinder ihren betrunkenen Vater mit Papierkorb auf dem Kopf im Wandschrank einer Münchener Jugendherberge ((Ich habe eine blühende Phantasie, müssen Sie wissen.)) nun zum ersten Mal sehen, wenn er zum fünfzigsten Geburtstag von seinen Alten Schulfreunden ein großes Fotoalbum bekommt ((Alles ausgedacht!)), oder sie die Fotos jederzeit im Internet betrachten können, ist eigentlich egal. Nicht egal ist es natürlich, wenn die Abgebildeten ohne ihre Einwilligung im Internet landen oder die Bilder jemandem zum Nachteil gereichen könnten.

Doch auch das wird auf lange Sicht egal werden, wie Kolumnist Mark Morford letztes Jahr im “San Francisco Chronicle” schrieb:

For one thing, if everyone in Generation Next eventually has their tell-all MySpace journals that only 10 friends and their therapist are forced to read, then soon enough the whole culture, the entire workforce will mutate and absorb the phenomenon, and it will become exactly no big deal at all that you once revealed your crazy love of pet rats and tequila shooters and boys’ butts online, because hell, everyone revealed similar silliness and everyone saw everyone else’s drunken underwear and everyone stopped giving much of a damn about 10 years ago.

Es wird zukünftigen Politikern vermutlich nicht mehr so gehen wie Bill Clinton, der irgendwann mit nicht-inhalierten Joints konfrontiert war, oder Joschka Fischer, dessen Steinwurf-Fotos nach über dreißig Jahren auftauchten: Über wen schon alles bekannt (oder zumindest theoretisch zu ergoogeln) ist, der muss keine Enthüllungen oder Erpressungen fürchten. Auch die Bigotterie, mit der Menschen, die ihre eigenen Verfehlungen geheimhalten konnten, anderen dieselben vorhalten, könnte ein Ende haben. Und das Internet könnte über Umwege tatsächlich zur Gleichmachung der Gesellschaft beitragen.

Nachtrag 16. Januar: Wie es der Zufall so will, hat sich “Frontal 21” dem Thema gestern angenommen. Wenn man die übliche Weltuntergangsstimmung und die Einseitigkeit der Expertenmeinungen ausklammert, ist es ein recht interessanter Beitrag, den man sich hier ansehen kann.