- „Papa, Papa!“
– „Ja, mein Sohn?“
– „Ich hab gerade in der Encyclopedia Blogia gescrollt …“
– „Oh.“
– „Was ist dieses ‚Spiegel Online‘, von dem 2008 so viele Leute geschrieben haben?“
– „Das war damals ein großes Online-Magazin. Erst gab es über viele Jahrzehnte ein angesehenes Printmagazin …“
– „Tote Bäume?“
– „Genau. Das hatte lange einen guten Ruf. Dann hatte es irgendwann einen unfassbar schlechten Ruf – aber nicht beim einfachen Volk. Das hat sowohl die Print- als auch die Online-Version geliebt. ‚Spiegel Online‘ war das meistgelesene Online-Medium zu dieser Zeit.“
– „So wie ‚Coffee And TV‘ heute?“
– (lacht) „Ja, so ungefähr. Die Leute haben alles geglaubt, was bei ‚Spiegel Online‘ stand. Nur die Medienkritiker …“
– „Leute wie Du, Onkel Niggi und Onkel Knüwi?“
– „Solche Leute, genau. Wir haben ‚Spiegel Online‘ kritisiert für schlechte Recherche, einseitige Berichterstattung und deren Klick…“
– „Die haben noch Klickhurerei gemacht?!“
– „Wo hast Du denn das Wort schon wieder gelernt?“
– (lacht)
– (grummelt) „Jedenfalls: ja, haben sie.“
– „Oh Mann, wie peinlich!“
– „Du musst wissen: damals galten page impressions noch als heiliger Gral im Internet.“
– (lacht)
– „Na ja, das waren jedenfalls ‚Spiegel‘ und ‚Spiegel Online‘. 2008 müsste das Jahr gewesen sein, in dem sie gefragt haben, ob das Internet doof macht, und über Twitterer und Blogger gelästert haben.“
– „Aber warum das denn?“
– „Zum einen, weil sie Angst davor hatten – zu Recht, wie wir heute wissen – zum anderen, weil sie sichergehen konnten, dass fast alle Blogger und Twitterer darüber schreiben würden. Und wenn alle über den ‚Spiegel‘ schreiben, sieht es noch ein bisschen länger so aus, als sei der ‚Spiegel‘ relevant.“
– „Hmmmm. Aber eins versteh ich nicht …“
– „Ja?“
– „Warum haben denn immer alle Blogger und Twitterer darüber geschrieben? Konnte denen das nicht egal sein?“
– „Ja sicher, eigentlich schon.“
– „Oma hat mir mal erzählt, wie sie vor vielen Jahren mit anderen Leuten ein Atu … Autom …“
– „Atomkraftwerk?“
– „Ich glaube ja. Wie sie sowas verhindert haben. Denen war immer egal, was die anderen gedacht, gesagt und in der Zeitung geschrieben haben.“
– „Tja. Die waren damals viel an der frischen Luft um zu demonstrieren, Sauerstoff beruhigt. Wir saßen schlecht gelaunt in unseren Büros und haben uns dann halt aufgeregt. Ab 2009 hat aber keiner – oder kaum noch einer – auf den ‚Spiegel‘ reagiert, so dass sie 2010 aufgeben mussten.“
– „2010? Noch vor Zoomer?!“
– „Ja, das ging damals ganz schnell.“
– „Und was ist aus den ganzen Leuten geworden, die da gearbeitet haben?“
– „Das war das lustigste: Als ‚Spiegel Online‘ zugemacht hat, kam raus, dass da nur drei verwirrte alte Männer gearbeitet haben: ein Taxifahrer, ein Drogenabhängiger und ein Mann, dem ein wahnsinniger Wissenschaftler ein Brötchen anstelle seines Gehirns eingepflanzt hatte. Alles andere kam aus Computern.“
– „Gruselig.“
– „Ja. Aber nur halb so gruselig wie deren Texte.“
– „Papa?“
– „Ja?“
– „Können wir noch ein bisschen Hologramme gucken?“
– „Was willste denn sehen?“
– „Den Film mit dem Zeitungsmann, der stirbt. Mit dem Schlitten. Das ist sooooo lustig!“
Schlagwort: satire
Verallgemeiner My Ass
Entschuldigung, vielleicht war ich grad einfach zu emotional:
Nachtrag, 11. Juli: Haben wir eigentlich deutlich genug darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Video um eine Antwort hierauf handelt?
Be My Kandidat
Ursprünglich hatte ich vorgehabt, ein Casting für den deutschen Grand-Prix-Act 2009 zu starten. Aber sowas gab es ja schon mal …
Stattdessen ruft Coffee And TV hiermit den Wettbewerb
aus, bei dem Sie (ja: Sie) sich bewerben können, um Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten zu werden.
Voraussetzungen:
- Sie sind vor dem 23. Mai 1969 geboren.
- Sie sind deutscher Staatsbürger.
- Sie besitzen das Wahlrecht zum deutschen Bundestag.
- Sie passen zumindest grob in eine der beiden Kategorien „Mann“ oder „Frau“.
- Sie wären im Falle Ihrer Wahl bereit, für mindestens fünf Jahre auf die Ausübung Ihres Berufes und möglicher Ämter zu verzichten.
- Sie versprechen, im Falle Ihrer Wahl Sgt.-Pepper-Fantasieuniformen als neue Dienstkleidung für Polizei und Bundeswehr vorzuschlagen.
Ihre unverbindliche Bewerbung können Sie mit einem Kommentar kundtun, ich kontaktiere Sie dann unter der von Ihnen angegebenen E‑Mail-Adresse.
Nach einer ersten Sichtung der Bewerber veranstalten wir hier im Blog ein großes Casting, bei dem der beste Kandidat ermittelt wird. Es wird einen lähmenden Vorwahlkampf wie in den USA geben und am Ende müssen wir noch ein Mitglied der Bundesversammlung finden, das unseren Kandidaten im nächsten Jahr auch zur Wahl vorschlägt.
Zu gewinnen gibt es hier nichts, die Wahl durch die Bundesversammlung ist noch weniger garantiert als der Vorschlag zur Wahl.
Züge, Tiere, Sensationen
Das mit den Tieren und der Deutschen Bahn ist noch viel schlimmer, als bisher vermutet:
[Direktlink]
Biber
Being Franz Josef Wagner
Liebe BVGler,
jetzt habt Ihr Euch also überraschend entschieden, heute doch nicht zu streiken. Ihr werdet also Euren Job tun, für den Ihr bezahlt werdet. Und das sollen wir jetzt als große Geste Eurer Gutmütigkeit feiern.
Einem Kind, das nicht zur Schule gehen will, gibt man Einen hinter die Löffel und bietet ihm nicht noch mehr Süßigkeiten an. Ihr geht jetzt weiter zur Schule, wollt aber noch mehr von dem Kuchen, der schon zu vielen kleinen Krumen zerfallen ist. Natürlich habt Ihr einen Teil dieser Krumen verdient, so wie jeder Mensch, der Teil unserer Gesellschaft ist, und so wie ich.
Von meinen Krumen muss ich zum Beispiel den Fahrschein bezahlen, der heute mal wieder teurer wird. In Euren U‑Bahnen muss man Angst haben, selbst zu Krumen zerschlagen zu werden. Aber Ihr fahrt mich heute in meinem geliebten Berlin überall hin: ins Büro, zum Friseur und in die Kneipe. Ihr macht Euren Job, für den Ihr bezahlt werdet. Ich finde, dafür sollte man Euch auch mal danken.
Herzlichst …
Mit anderen Worten: Ich bin die nächsten Tage in Berlin.
Kommunisten bei MySpace?
Schlimm, schlimm, schlimm: Erst vorletzte Woche sollte sich ein „Bild“-Leserreporter mit „hitler“ bei der GEZ anmelden, nun steht der nächste Skandal um die sogenannten Captures vor der Tür:
Coffee-And-TV-Leserreporter Wolfdietrich wollte beim social network MySpace einen neuen „Freund“ „hinzufügen“. Zur Bestätigung sollte er eine Buchstabenfolge eingeben, die auf „DKP“ endete:
Gibt es bei dem amerikanischen Internetportal etwa heimliche Unterstützer deutscher Kommunisten?
Der Leser-Reporter: „Ich habe das Fenster sofort weggeklickt. So etwas darf doch nicht passieren!“ Jetzt hat er einen Freund weniger.
Ypsilanti, al-Wazir
und die Kommunisten stoppen!
Mit diesem, auf den ersten Blick schlichten Zweizeiler hat sich der bisher unbedeutende Nachwuchsliterat Roland Koch vergangene Woche in den Olymp der Politlyrik katapultiert.
Die erste Zeile besteht aus einem seltenen Paion (mit Betonung auf der dritten Silbe) und einem Anapäst und klingt daher schon allein durch ihr Versmaß exotisch. Diese Wirkung unterstreicht der Dichter mit der Verwendung zweier Familiennamen aus dem südöstlichen Mittelmeerraum und dem Gebiet der arabischen Halbinsel.
Der Name „Ypsilanti“ stammt aus dem Griechisch-Phanariotischen und bezeichnete schon griechische Nationalhelden des 19. Jahrhunderts. Sein Klang erinnert an den vorletzten Buchstaben des lateinischen Alphabets, der erst im zweiten vorchristlichen Jahrhundert aus dem Griechischen übernommen wurde und hier für etwas Unfertiges, Unbedeutendes steht. Der Name „al-Wazir“ leitet sich ab vom persischen „wazir“ und bezeichnet ab dem 10. Jahrhundert den mächtigsten Mann in einem Kalifenstaat – die deutsche Schreibweise ist „Wesir“. Mit nur sieben Silben gelingt es Koch so, eine Brücke über Vorderasien in den Orient zu schlagen.
Die zweite Zeile beginnt mit einem Jambus, der auf eine deutlich geordnetere Struktur hindeutet, überrascht dann aber mit einem weiteren Paion und einem Trochäus. Der in der ersten Zeile gemachte Ausflug in fremde Länder wird nicht weiter ausgeführt – man erfährt nicht, welche Aufgaben die derart herbeizitierten Entscheidungsträger fremder Hochkulturen für den weiteren Verlauf des Gedichts haben. Koch beendet die Aufzählung mit dem deutlich unpersönlicheren Begriff „Kommunisten“, der durch den Zeilenumbruch und die Verwendung der Konjunktion „und“ und des Artikels „die“ zusätzlich deutlich von den ersten beiden Begriffen abgegrenzt ist. Statt einer Handlung innerhalb des Gedichts endet es mit einem Imperativ, das Ausrufezeichen unterstreicht den appellativen Charakter des Zweizeilers.
Koch gelingt es, diese sechs Worte mit einer immensen Bedeutung aufzuladen. In einem fast flehentlichen Ton fordert der nicht näher spezifizierte Sprecher einen unbekannten Adressaten zu einer Handlung („Stoppen“) auf, während er selbst weder aktiv noch passiv in Erscheinung tritt. „Gestoppt“ werden sollen die durch die Namen repräsentierten (vorder-)orientalischen Hochkulturen (wobei der Verweis auf Griechenland auch für die Antike und die Wiederaufnahme ihrer Ideale in der Aufklärung stehen kann) und „die Kommunisten“, die einen überraschenden politischen Aspekt in das Gedicht bringen. Betrachtet man diese doch recht unterschiedlichen Gruppierungen und die Werte, für die sie stehen, und ihre offensichtliche Opposition zum Sprecher, so wird klar, dass dieser ein christlich-konservatives, möglicherweise anti-aufklärerisches Weltbild vertreten soll. Das ungewöhnliche, allen ästhetischen Regeln widersprechende Versmaß und der fehlende Reim spiegeln die innere Aufruhr des Sprechers wieder, die weibliche Kadenz am Ende der zweiten Zeile drückt seine Resignation aus. Zwar fehlen wesentliche Informationen, da das Hauptgeschehen außerhalb des Gedichts stattzufinden scheint, aber die Intention des Werks wird klar: es steht in der Tradition großer mittelalterlicher Kampf- und Spottschriften und muss wie diese unabhängig von der politischen Intention für seine literarischen Qualitäten wertgeschätzt werden.
Roland Koch ist ein ausdrucksstarkes Gedicht voller Brisanz gelungen, das gleichzeitig sehr vielschichtig ist und doch keine klare Aussage trifft. Es ist dem Dichter zu wünschen, dass er in Zukunft noch mehr Zeit für seine lyrischen Arbeiten finden wird.
Gute Witze, bissige Kommentare, eine humorvolle Rückschau auf das Jahr 2007 – all das werden Sie wohl kaum kriegen, wenn Sie sich morgen Abend die „Scheibenwischer-Gala“ in der ARD ansehen.
Gehen Sie lieber in die ZDF-Mediathek und sehen Sie sich dort „Nuhr 2007“ an, den gestern ausgestrahlten Jahresrückblick mit Dieter Nuhr. Nuhr zeigt hier einmal mehr, dass er einer der besten … äh … *Handschuhe anzieh* … *Anführungszeichen rauskram* … „politischen Kabarettisten“ Deutschlands ist, wenn man ihn denn nur lässt. Außerdem ist er natürlich sowieso der beste, weil einzig gute „Comedian“ der Republik, weil seine Alltagsbeobachtungen wirklich komisch sind, er nicht tausendfach Durchgekautes wieder aufwärmt und er nicht mit Klischees um sich wirft. Kurzum: Dieter Nuhr ist der Gegenentwurf zu Mario Barth und trotzdem relativ erfolgreich.
Wenn Sie sich vorgenommen haben, nur einen Jahresrückblick zu schauen, nehmen Sie „Nuhr 2007“.
Wir warten aufs Christkind
Nun ist es endlich soweit: der einzige Tag, der nur ein Abend ist, ist da. ((Es gibt natürlich auch Regionen, in denen es jede Woche einen Tag gibt, der nur ein Abend ist. Ich sage aber Samstag, schon allein weil ich finde, dass „Sonnabendabend“ total bescheuert klingt.))
Der 24. Dezember ist der Tag, an dem einem vielleicht am deutlichsten wird, dass man älter wird und dass die Zeit mit zunehmendem anders zu vergehen scheint: Als Kind wollte dieser verdammte Nachmittag einfach nicht vergehen und man musste sich mit Michael Schanze und doofen Kinderfilmen beschäftigen. Heute verbringt man seinen 24. Dezember auf der Suche nach Geschenken in überheizten Einkaufszentren mit überreizten Menschen, die sich das ganze irgendwie auch anders vorgestellt haben, aber das doofe Päckchen mit dem Geschenk, das sie bei eBay ersteigert hatten, kam halt nicht rechtzeitig an. ((Diese Geschichte ist rein fiktiv. Ich habe schon alle beiden Geschenke und würde auch nie auf die Idee kommen, weitere zu kaufen.))
Falls Sie trotzdem Zeit haben und diese gerne sinnvoll verbringen möchten, dann nehmen Sie doch an unserer Leserwahl teil oder sehen Sie sich die Weihnachtsansprache unseres Frühstücksdirektors an:
Link: sevenload.com
Ich wünsche Ihnen jetzt schon mal ein frohes Weihnachtsfest!
Gerade eine Pressemitteilung vom ZDF erhalten:
Die Satireexperten von „Frontal 21“ schlagen wieder zu.
„Grundgütiger“, dachte ich. „Seit wann verfügen die denn beim ZDF über derart viel Selbstironie und preisen ihre stets schwach recherchierte und voreingenommene Privatfernsehmagazin-Parodie als „Satire“ an?“
Dann las ich weiter:
In ihrem „!!!Satirischen Jahresrückblick 2007“ am Dienstag, 18. Dezember 2007, 23.30 Uhr zeigen Werner Doyé und Andreas Wiemers alles, was 2007 „Toll!“ war: Horst Seehofer als Vorkämpfer der sexuellen Befreiung, Wolfgang Schäuble als Action-Held in „Schäuble reloaded“ und die ganze Wahrheit über Knut den Eisbären und seine brutalen Hobbys.
Da ich „Frontal 21“ aus den oben genannten Gründen nie sehe, kann ich die Qualität von „Toll!“ schlecht beurteilen. Die Beschreibung lässt allerdings Schlimmstes vermuten.
P.S.: Ja, die Sendung heißt tatsächlich „!!!Der satirische Jahresrückblick 2007“. Mit drei Ausrufezeichen vor dem Titel.
Die wenigsten Jugendlichen, die heute Musik hören (und das sind laut neuesten Umfragen 98% der Europäer), werden wissen, welches Jubiläum dieser Tage begangen wird: Vor 25 Jahren schloss SonyUniversal, die letzte Plattenfirma der Welt, ihre Pforten. Ein Rückblick.
Es war ein wichtiger Tag für Deutschland, als der Bundestag der Musikindustrie im Jahr 2009 das Recht einräumte, sogenannte „Terrorkopierer“ (die Älteren werden sich vielleicht auch noch an den archaischen Begriff „Raubkopierer“ erinnern) selbst zu verfolgen und bestrafen. Als unmittelbare Folge mussten neue Gefängnisse gebaut werden, da die alten staatlichen Zuchthäuser dem Ansturm neuer Insassen nicht Herr werden konnten. Dies war die Geburtsstunde der Prisonia AG, dem Konsortium von Bau- und Musikindustrie und heute wichtigstem Unternehmen im EuAX. Die Wiedereinführung der Todesstrafe scheiterte im Jahr darauf nur am Veto von Bundespräsident Fischer – die große Koalition aus FDP, Linkspartei und Grünen hatte das Gesetz gegen die Stimmen der Piratenpartei, damals einzige Oppositionspartei im Bundestag, verabschiedet.
Im Jahr 2011 fuhr der frisch fusionierte Major WarnerEMI den höchsten Gewinn ein, den je ein Unterhaltungskonzern erwirtschaftet hatte. Kritiker wiesen schon damals darauf hin, dass dies vor allem auf die völlige Abschaffung von Steuern für die Musikindustrie und die Tatsache zurückzuführen sei, dass die sogenannten „Klingeltöne“, kleine Musikfragmente auf den damals so beliebten „Mobiltelefonen“, für jede Wiedergabe extra bezahlt werden mussten – eine Praxis, die WarnerEMI zwei Jahre später auch für seine MP5-Dateien einführte.
Die Anzeichen für einen Stimmungsumschwung verdichteten sich, wurden aber von den Unternehmen ignoriert: Der erfolgreichste Solo-Künstler jener Tage, Justin Timberlake, veröffentlichte seine Alben ab 2010 ausschließlich als kostenlose Downloads im Internet und als Deluxe-Vinyl-Versionen im „Apple Retro Store“. Heute fast vergessene Musiker wie Madonna, Robbie Williams oder die Band Coldplay folgten seinem Vorbild. Hohn und Spott gab es in allen Medien für den damaligen CEO von WarnerEMI, als der in einem Interview mit dem Blog „FAZ.net“ hatte zugeben müssen, die Beatles nicht zu kennen.
Diese öffentliche Häme führte zu einem umfassenden Presseboykott der Musikkonzerne. Renommierte Musikmagazine in Deutschland und der ganzen Welt mussten schließen, Musikjournalisten, die nicht wie die Redakteure des deutschen „Rolling Stone“ direkt in Rente – wie man es damals nannte – gehen konnten, gründeten eine Bürgerrechtsbewegung, die schnell verboten wurde. Die Lunte aber war entfacht.
Im Herbst 2012 kündigte Prof. Dieter Gorny, damals Vorsitzender der „Konsum-Agentur für Runde Tonträger, Elektrische Lieder und Lichtspiele“ (K.A.R.T.E.L.L.), seine Kanzlerkandidatur an, worüber der damalige Bundeskanzler Guido Westerwelle alles andere als erfreut war. Er setzte neue Kommissionen für Medien- und Kulturindustrie ein und kündigte eine mögliche Zerschlagung der Musikkonzerne an. Diese fusionierten daraufhin in einer „freundlichen feindlichen Übernahme“ am Europäischen Kartellamt vorbei zum Konzern SonyUniversalEMI und drohten mit einer Abwanderung in die Mongolei und damit dem Verlust der restlichen 300 Arbeitsplätze.
Aber weder Kanzler Westerwelle noch das deutsche Volk ließen sich erpressen: Zum 1. Januar 2013 musste MTViva den Sendebetrieb einstellen. Die neugegründete Bundesmedienaufsicht unter Führung des parteilosen Stefan Niggemeier hatte dem Fernsehsender, der als sogenannter Musikkanal galt, die Sendelizenz entzogen, da dieser weniger als die gesetzlich geforderten drei Musikvideos täglich gespielt hatte. Die Castingshow „Europa sucht den Superstar“ erwies sich für SonyUniversalEMI als überraschender Mega-Flop, der Wert des Unternehmens brach um ein Drittel ein, das „EMI“ verschwand aus dem Namen.
Im Berliner Untergrund gründete sich die Deutsche (heute: Europäische) Musicantengilde. Deren heutiger Ehrenvorsitzende Thees Uhlmann erinnert sich: „Es war ja damals schon so, dass die kleinen Bands ihr Geld ausschließlich über Konzerte machen konnten, die ja dann auch noch verboten werden sollten. Erst haben wir unsere CDs ja selbst rausgebracht, aber als die Musikkonzerne dann die Herstellung von CDs außerhalb ihrer Fabriken unter Strafe stellen ließen, mussten wir auf Kassetten ausweichen.“ Heute kaum vorstellbar: Das Magnetband galt damals als so gut wie ausgestorben, nur die kleine Manufaktur „Telefunken“ produzierte überhaupt noch Abspielgeräte, die entsprechend heiß begehrt waren.
Am 29. November 2013, heute vor 25 Jahren, war es dann soweit: Der Volkszorn entlud sich vor der SonyUniversal-Zentrale am Berliner Reichstagsufer. Das Medienmagazin „Coffee & TV“ hatte kurz zuvor aufgedeckt, dass die Musikindustrie jahrelang hochrangige Mitarbeiter gedeckt hatte, die durch „Terrorkopieren“ aufgefallen waren. Während der normale Bürger für solche Verbrechen bis zu sechs Jahre ins Gefängnis musste, waren die Manager und Promoter straffrei ausgegangen. Als nun die Mutter des dreijährigen Timmie zu einem halben Jahr Arbeitsdienst verurteilt werden sollte, weil sie ihrem Sohn ein Schlaflied vorgesungen hatte, ohne die dafür fälligen Lizenzgebühren von 1.800 Euro zahlen zu können, zogen die Bürger mit Fackeln und selbst gebastelten Galgen zum „Dieter-Bohlen-Haus“ am Spreebogen.
Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder, dann zog der Mob unter den Augen von Feuerwehr und Polizei weiter zur Zentrale der „GEMA“ am Kurfürstendamm (der heutigen Toyota-Allee). Wie durch ein Wunder wurde an diesem Tag niemand ernstlich verletzt. Die meisten Führer der Musikindustrie konnten ins nordkoreanische Exil fliehen, den „kleinen Fischen“ wurde Straffreiheit zugesichert, wenn sie ein Berufsverbot akzeptierten und einer dreijährigen Therapie zustimmten.
Drei Tage später fand im Berliner Tiergarten ein großes Konzert statt, die erste öffentliche Musikaufführung in Europa seit vier Jahren. Die Kilians, heute Rocklegenden, damals noch junge Männer, spielten vor zwei Millionen Zuhörern, während die Bilder von gestürzten Dieter-Gorny-Statuen um die Welt gingen.
Ohne Telefon geht’s schon
Gestern stand ich in einer vollbesetzten U‑Bahn (ich wäre ja auch schön blöd, wenn ich in einer leeren U‑Bahn stünde) und war dort gezwungen, in einem Maße am Privatleben eines mir völlig unbekannten Menschen teilzunehmen, dass es mir unangenehm war. Er sei kürzlich umgezogen, erfuhr ich, aber die ganzen Klamotten stünden noch im Wohnzimmer, das auch noch nicht tapeziert sei, aber das komme noch alles. Er wisse noch nicht, was er an Silvester mache, Meike und Kai hätten vorgeschlagen, ein Ferienhaus irgendwo an der Ostsee zu mieten und da „mit alle Mann“ hinzufahren, aber er sei sich noch nicht sicher, ob die beiden das wirklich organisieren würden und ob er wirklich mitwolle. Jetzt müsse er aber eh erst mal die Zutaten für ein ordentliches Pilzrisotto kaufen, denn gleich bekäme er noch Besuch.
Der junge Mann erzählte diese Sachen nicht mir, er erzählte sie seinem Mobiltelefon – und damit dem gesamten Zug. Wer derart öffentlich lebt, macht sich natürlich keine Gedanken, wenn der Staat seine Telekommunikationsaktivitäten protokollieren lassen und seinen Computer durchsuchen will, dachte ich. Und dann: Telefonieren ist das neue Rauchen.
Diese steile These liegt weniger darin begründet, dass wohl beides ziemliche Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann, sondern ist historisch belegbar: Zigaretten waren einst ein Statussymbol, eine Requisite von Luxus und Dekadenz. Irgendwann rauchte dann jeder Müllmann und obwohl Rauchen noch lange gesellschaftlich geachtet war, war der Anschein des luxuriösen schnell verschwunden. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die ersten Ärzte und Rechtsanwälte, die C‑Netz-Autotelefone in ihren S‑Klassen spazieren fuhren. Mir sind Menschen bekannt, die sich auf dem Parkplatz ihres Golfclubs zu ihren Freunden, die solche Autotelefone besaßen, ins Auto setzten und ihren eigenen Anrufbeantworter anriefen und besprachen, nur damit sie mal mit so einem „verrückten neuen Gerät“ telefoniert hatten. (Ähnliches ist vielleicht heute wieder bei diesen unsäglichen iPhones zu beobachten.) Irgendwann aber hatte fast jeder so ein „Handy“, gerade von sozial schwächeren Personen heißt es häufiger, dass sie im Besitz gleich mehrerer Mobiltelefone seien. Im vergangenen Jahr war erstmals der Punkt erreicht, wo jeder Mensch in meinem Bekanntenkreis inklusive meiner Großeltern über ein Mobiltelefon verfügte. Inzwischen habe ich tatsächlich wieder Menschen ohne ein solches Gerät kennengelernt und die ersten Freunde haben (noch Telefonlose) Kinder bekommen, so dass die Quote wieder leicht unter hundert Prozent gesunken ist.
Analog zu den Nichtraucherabteilen in Zügen und ‑zonen in Restaurants gibt es bereits „Ruhewagen“ in den ICEs der Deutschen Bahn, in denen das Telefonieren unerwünscht ist, und man hat bereits von „handyfreien“ Gaststätten gehört. An vielen Schulen wurden Zigaretten und Mobiltelefone gar gleichzeitig verboten.
Ich erkenne darin eine eindeutige Tendenz, die über kurz oder lang dazu führen wird, dass dem mobilen Telefonieren überall und zu jeder Zeit eines Tages eine ähnliche Opposition gegenüberstehen wird, wie es sie heute bereits bei den militanten Nichtrauchern gibt. Noch wird lediglich getuschelt, wenn in einem Kunstmuseum ein peinlicher polyphoner Klingelton die Stille durchbricht und sich eine Mittfünfzigerin hektisch mit den Worten „Ja, wir sind schon oben. Kommt Ihr nach?“ meldet. Aber noch werden auch Raucher noch nicht überall gesellschaftlich ausgegrenzt. Ich bin zuversichtlich, noch den Tag zu erleben, an dem die Staats- und Regierungschefs dieser Welt den „Vertrag zur Ächtung von Mobiltelefonen im öffentlichen Raum“ unterzeichnen.
Ich bin übrigens seit dreieinhalb Jahren im Besitz eines Siemens ME45, das früher einem Freund gehörte, und habe die Prepaid-Nummer eines Verwandten übernommen. Mal davon ab, dass die Akku-Leistung langsam nachlässt, bin ich mit dieser Lösung recht zufrieden.