Zu den vielen interessanten Erfahrungen, die ich in Oslo gemacht habe, zählt diese hier:
Nachdem ich den ESC-Songs einige Tage ausgesetzt war (die Ohrwürmer aus Dänemark und Norwegen sind immer noch nicht ausgeheilt), fand ich sie gar nicht mehr so schlimm. Mehr noch: Bei vielen Songs, die uns der norwegische Top-40-Radiosender im Frühstücksraum des Hotels jeden Morgen über unsere Frühstücksflocken kippte, kamen Stefan und ich überein, dass das “jetzt auch irgendwie eine Grand-Prix-Nummer sein könnte”. (Das spricht im Wesentlichen eher gegen Top-40-Musik im Allgemeinen als für die Eurovisionsbeiträge, aber nun gut.)
Es ist psychologisch einigermaßen erstaunlich, wie groß der Kontext, in dem wir einen Song kennenlernen, unsere Rezeption beeinflusst. Der britische Beitrag (Stock/Waterman) ist zwar ganz große Grütze und völlig zu recht letzter geworden, er unterscheidet sich in der Qualität des Songwritings aber nicht von ganz vielem, was man täglich so im Radio hört. Nur die Hemmschwelle der Musikredaktionen, eine Single auf Rotation zu nehmen, auf deren Hülle “bekannt vom Eurovision Song Contest” steht, ist offenbar immer noch hoch. (Andererseits haben es dieses Jahr immerhin die Beiträge aus Belgien und Frankreich ins Radio geschafft, der aserbaidschanische Song – und die Nachfolgesingle von Safura! – lief sogar im Musikfernsehen. Lena lief ja eh überall.)
Obwohl viele der ESC-Songs von den gleichen Autoren und/oder Produzenten stammen wie vieles von der Pop-Fließbandware, die die Plattenfirmen wöchentlich mit Schubkarren in die Funkhäuser karren, beurteilt der Hörer sie als minderwertiger, wenn er sie am Abend des Finales zum ersten Mal hört. Dabei hat man ja auch Ke$ha, Scouting For Girls oder Luxuslärm irgendwann zum ersten Mal gehört und findet sie, wenn man sie erst einmal wiedererkennt, vielleicht nicht mehr so scheiße. (Gut, Luxuslärm sind da ein schlechtes Beispiel, aber Sie verstehen, was ich meine.)
Nun bin ich inzwischen vielleicht ein bisschen manisch geworden, was den Grand Prix angeht, aber ich muss ja immerhin auch noch einen Song für den Wettbewerb schreiben. Insofern beschäftige ich mich seit drei Monaten etwas intensiver mit leicht verdaulichen Popnummern — und bin dabei kürzlich über ein Lied gestolpert (genauer: WDR 2 hat mehrfach damit auf mich eingeschlagen), das eine hundertprozentige moderne Grand-Prix-Nummer ist:
Das sind Stanfour (von der Nordseeinsel Föhr, Sie erinnern sich) und Demi Lovato (die Sie aus “Camp Rock” kennen). Der Song stammt aus dem Soundtrack zu “Camp Rock 2”, diese spezielle Version wurde extra für den deutschen Markt aufgenommen zusammengemischt. Im Film singt Joe Jonas von den Jonas Brothers und so langsam glaube ich wirklich, dass die Disney-Channel-Filme das amerikanische Äquivalent zum ESC sind.
Jedenfalls: Ist das nicht der Wahnsinn, wie die beiden da gleichzeitig völlig unterschiedliche Texte singen, die nur so mittelgut ineinandergreifen? Das spart natürlich Zeit, auch wenn die magische Drei-Minuten-Marke für Grand-Prix-Songs immer noch überschritten wird.
Aber dann diese Middle 8, auf die sofort die Rückung folgt! Das ist Songwriting vom Reißbrett, angelehnt an die bewährten Akkordfolgen von 3 Doors Down und Nickelback. Die ungestüme Instrumentierung mit Schlagzeug und E-Gitarren, die Dynamik simulieren soll (heißt ja nicht umsonst “Camp Rock“), bei der aber auch der Oma nicht die Kaffeetasse aus der Hand fällt. Also im Prinzip Bryan Adams konsequent zu Ende gedacht.
Natürlich ganz große Grütze, der Song — aber ich fürchte, ich habe ihn jetzt ein bisschen zu oft gehört, um das noch zu erkennen.