Kategorien
Unterwegs Kultur

Mannheim für Deutschland

Ges­tern noch las ich bei der Rie­sen­ma­schi­ne von den 1925 vor­ge­stell­ten Plä­nen Le Cor­bu­si­ers, Paris abzu­rei­ßen und geord­net neu auf­zu­bau­en. „Nun ja“, dach­te ich, „typisch Moder­ne: Tol­le Ideen, aber irgend­wie dann doch so ein biss­chen abge­dreht.“

Heu­te woll­te ich einen Besuch in Mül­heim an der Ruhr täti­gen. Ich war schon etli­che Male in der Stra­ße, in dem Haus gewe­sen, wo ich hin­woll­te. Zwar war ich noch nie selbst dort­hin gefah­ren, aber ich hat­te mir bei Goog­le Maps eine genaue Weg­be­schrei­bung aus­ge­druckt und heg­te ein gewis­ses Grund­ver­trau­en in mei­ne eige­nen Ori­en­tie­rungs­küns­te.

Sie ahnen, wie mein Tag und die­ser Text wei­ter­ge­hen: Welch gro­tes­ke Selbst­über­schät­zung!

Einen Moment war ich unauf­merk­sam, war ver­wirrt, weil Goog­le Maps einem Stra­ßen­wech­sel anzeigt, wenn sich nur der Name ändert (was in Mülheim/​Ruhr an jeder Ampel pas­siert), und schon fand ich mich bald am Haupt­bahn­hof, bald im strö­men­den Regen an einem ent­le­ge­nen Golf­platz wie­der. Ich zer­fleisch­te die Schaum­stoff­um­man­te­lung des Lenk­rads, stieß viel­far­bi­ge Flü­che aus, ver­setz­te mei­ne Bei­fah­re­rin in Angst und Schre­cken und such­te nur noch nach einem geeig­ne­ten Baum, vor den ich das Auto hät­te steu­ern kön­nen – aber nicht mal den gab es.

Schließ­lich rief ich per Tele­fon um Hil­fe und wur­de von der Gast­ge­be­rin mit einem Fol­low-Me-Fahr­zeug zum Ziel gelotst. Natür­lich war ich mehr­fach haar­scharf an der rich­ti­gen Stra­ße vor­bei­ge­fah­ren, hät­te nur ein­mal links und sofort wie­der rechts fah­ren müs­sen und wäre am Ziel gewe­sen. Aber die Kreu­zung war so über­sicht­lich gewe­sen wie ein Ver­tei­ler­kas­ten der Deut­schen Tele­kom, über­all waren Autos und die weni­gen Stra­ßen­schil­der, die mit dem mensch­li­chen Auge über­haupt zu erken­nen gewe­sen wären – von der Stra­ße aus, aus einem sich bewe­gen­den Fahr­zeug -, waren mit Stra­ßen­na­men beschrif­tet, die in mei­nem spär­li­chen Goog­le-Aus­druck schlicht­weg nicht vor­ka­men.

Und da dach­te ich mir: War­um fah­re ich eigent­lich durch so grau­en­haft ver­schlun­ge­ne Städ­te, deren Stadt­plä­ne einer Rönt­gen­auf­nah­me des mensch­li­chen Darms oder einer Rosi­nen­schne­cke nach­emp­fun­den zu sein schei­nen? Die­ses Land, ins­be­son­de­re das Ruhr­ge­biet, ist doch im zwei­ten Welt­krieg zu erheb­li­chen Tei­len zer­stört wor­den. War­um hat man Stra­ßen­zü­ge, die kom­plett in Schutt und Asche lagen, in ihrem jahr­hun­der­te­al­ten Ver­lauf wie­der auf­ge­baut? War­um hat nicht wenigs­tens ein wei­ser Archi­tekt in die­ser viel­zi­tier­ten „Stun­de Null“ gesagt: „Wenn wir schon ganz neu anfan­gen müs­sen, könn­ten wir es ja viel­leicht ein ein­zi­ges Mal rich­tig machen!“? War­um ist Deutsch­land also heu­te kein flä­chen­de­cken­des Mann­heim, son­dern die­se Kata­stro­phe von Ober­hau­sen, Köln und eben Mülheim/​Ruhr?

Da mel­de­te sich mein archi­tek­to­ni­sches Fach­wis­sen und erin­ner­te mich höf­lich an Rudolf Hil­le­brecht und sei­nen Wie­der­auf­bau Han­no­vers, dem zunächst ein paar noch ver­blie­be­ne Gebäu­de zum Opfer gefal­len waren und der noch heu­te dafür sorgt, dass Han­no­ver wie eine mit schar­fem Mes­ser file­tier­te Piz­za in der Land­schaft liegt. Und par­al­lel bzw. zuein­an­der ortho­go­nal sind die Stra­ßen dort trotz­dem nicht.

Und so bleibt mir wohl als ein­zi­ge Opti­on der Umzug in die USA, wo die Sied­ler wei­land jede ein­zel­ne Stadt mit der Reiß­schie­ne in die Land­schaft gezim­mert haben und wo man Weg­be­schrei­bun­gen gleich­sam als Vek­to­ren („drei Blocks nach Nor­den, zwei nach Osten“) ange­ben kann. In den USA hän­gen die Ampeln auch hin­ter den Kreu­zun­gen, was es einem immer­hin ermög­licht, sie vom Auto aus auch zu sehen, und man kann bei Rot rechts abbie­gen. Aller­dings sind zumin­dest die Innen­städ­te immer der­art ver­stopft, dass mein Ver­brauch an Lenk­ra­dum­man­te­lun­gen wohl ein­fach zu hoch wäre.