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Der größte Fehler des Christian Wulff

Ich habe ein bisschen Angst, einen Blogeintrag über Christian Wulff anzufangen, weil es bei der aktuellen Gemengelage denkbar ist, dass der Mann schon nicht mehr Bundespräsident ist, bevor ich den Text das erste Mal Korrektur lesen kann.

Natürlich kann Wulff seinen Versuch fortsetzen, gegen die gesamte deutsche Presse, aber mit dem deutschen Volk im Amt zu bleiben. Das hat zwar schon bei Karl-Theodor zu Guttenberg nicht funktioniert (und der hatte immerhin bis zum Schluss die “Bild” auf seiner Seite), aber Wunder gibt es immer wieder.

Zwar war Wulffs Rückhalt in der Bevölkerung vor dem gestrigen TV-Interview schon merklich gesunken (am Mittwoch waren nur noch 47 Prozent dafür, dass Wulff im Amt bleiben sollte, am Montag waren es noch 63 Prozent), aber vielleicht hat Wulff das sogenannte einfache Volk mit seinem merkwürdigen Auftritt bei ARD und ZDF besser überzeugen können als die Journalisten. Wahrscheinlich ist dies allerdings auch nicht.

Wie dem auch sei: So lange die Affäre Wulff die Titelseiten füllt und weite Teile der Nachrichtensendungen ausfüllt, so lange geht natürlich unter, dass sich Europa immer noch in einer großen Krise befindet, dass sich die Stimmung zwischen dem Iran und dem Rest der Welt täglich verschlechtert. Und ich meine das nicht in dem Sinn, mit dem Online-Kommentatoren “Habt Ihr denn sonst keine Sorgen?” fragen.

Als Richard Nixon im Zuge der Watergate-Affäre seinen Rücktritt als US-Präsident erklärte, tat er dies mit den unsterblichen Worten:

I have never been a quitter.

To leave office before my term is completed is abhorrent to every instinct in my body. But as President, I must put the interests of America first.

America needs a full-time President and a full-time Congress, particularly at this time with problems we face at home and abroad.

Nun unterscheiden sich die Befugnisse von US- und Bundespräsident fundamental: Vermutlich würde es niemandem auffallen, wenn Christian Wulff die letzten dreieinhalb Jahre seiner Amtszeit tatsächlich ausschließlich mit der Beantwortung der vielen, vielen Journalistenanfragen verbrächte. Einen Vollzeitpräsidenten hatte und brauchte Deutschland nie — weswegen ich übrigens den Vorschlag von Friedrich Küppersbusch aufs Heftigste begrüße, das Amt des hauptberuflichen Grüßaugusts abzuschaffen und den Bundestagspräsidenten zum Staatsoberhaupt zu machen.

Wulff lähmt vielleicht noch nicht einmal die Politik — Politiker von Koalition und Opposition, die sich wortgewaltig vor TV-Kameras um das Ansehen des höchsten Amts im Staate sorgen, können in dieser Zeit keinen anderen Schaden anrichten. Aber Wulff lähmt das öffentliche Leben in Deutschland: Die Medien beschäftigen sich seit Tagen mit kaum etwas anderem und wissen vermutlich längst, was sie als nächstes noch alles aufdecken werden — als Fortsetzungsroman verkauft sich jeder Skandal besser denn als abgeschlossene Erzählung und wer hat denn gesagt, dass Salamitaktiken nur etwas für Politiker sind? Der volkswirtschaftliche Schaden, der seit Tagen durch die vielen Wulff-Witze (seit gestern auch noch: Schausten-Witze) auf Facebook und Twitter entsteht, die alle während der Arbeitszeit gelesen und geteilt werden müssen, ist sicher auch nicht zu verachten.

Christian Wulff hat in dem gestrigen Interview viel davon gesprochen, dass er Freunde und Familie habe schützen wollen und sich deshalb mit Informationen zurückgehalten habe. Es steht außer Frage, dass die Redaktionen noch genug Munition haben, um den waidwunden Präsidenten abzuschießen (um mal eine martialische Phrase zu vermeiden). Die Chancen stehen gut, dass es dabei um weitere Details aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis geht. Auch wenn ich nicht glaube, dass die in den vergangenen Tagen mehr oder weniger offen kolportierten Gerüchte zutreffen, so wäre Christian Wulff doch gut beraten, sein Umfeld aus der Schusslinie zu bringen.

Andererseits könnte es sein, dass das nun auch nichts mehr bringt: Wulff hat gestern im Fernsehen erzählt, er habe “Bild”-Chefredakteur Kai Diekmann auf dessen Mailbox gebeten, “um einen Tag die Veröffentlichung zu verschieben, damit man darüber reden kann, damit sie sachgemäß ausfallen kann”. Diekmann hielt heute dagegen und bat Wulff öffentlich um die Genehmigung, den Wortlaut des Anrufs veröffentlichen zu dürfen. Allein für diese Gelegenheit, dass sich Kai Diekmann als moralische Instanz und flauschiges Unschuldslamm präsentieren kann, muss man Wulff verachten. Jetzt hat Wulff abgelehnt und damit mutmaßlich die Pforten zur Hölle aufgestoßen.

Der präsidiale Ausraster auf seiner Mailbox dürfte kaum Diekmanns letzter Trumpf gewesen sein. Wahrscheinlich ging er fest davon aus, dass Wulff seine Bitte zur Veröffentlichung negativ bescheiden würde, und hat die Anfrage deshalb gleich öffentlich gemacht. Diekmann konnte zwei Mal “im Sinne der von Ihnen angesprochenen Transparenz” argumentieren und hat den Präsidenten damit faktisch schachmatt gesetzt: Setzt man voraus, dass Diekmanns Version der Geschichte stimmt, wäre Wulff der Lüge überführt gewesen und damit endgültig untragbar. Setzt man voraus, dass Wulffs Version stimmt, hat er jetzt immer noch das Problem, nicht “im Sinne der Transparenz” gehandelt zu haben. Er konnte nur noch verlieren.

Es ist leicht, auf einen Abzockvollprofi wie Kai Diekmann reinzufallen, aber einem Spitzenpolitiker (auch wenn er “ohne Karenzzeit, ohne Vorbereitungszeit” in sein aktuelles Amt gekommen ist) sollte das nicht passieren. Ich fände es deprimierend, sagen zu müssen, dass man sich mit “Bild” nicht anlegen sollte, und glaube das auch nicht. Aber man muss schon wissen, wie man es macht — und dabei in einer etwas glücklicheren Ausgangsposition sein, als Wulff es war.

Kaum jemand stolpert, privat oder beruflich, über einen einzelnen großen Fehler. Meist ist es eine unglückselige Verkettung vieler kleiner und mittlerer Fehler. Egal, was jetzt noch rauskommt: Der größte Fehler, den Christian Wulff in meinen Augen gemacht hat, war der, “Bild” und Kai Diekmann die Gelegenheit zu geben, sich als seriöse, moralische Journalisten inszenieren zu können, was ihnen die Menschen vielleicht mehr abkaufen als Wulff seine Rolle als reuiger Sünder. Wulff hat “Bild” die Macht zurückgegeben, die die Zeitung eigentlich nicht mehr hatte.