Vermutlich weiß jeder Mensch, wo er war und was er tat, als am 11. September 2001 die Flugzeuge einschlugen. Ich saß, gerade aus der Schule gekommen, am Küchentisch und aß eine Tiefkühlpizza, als meine Mutter hereinstürmte und sagte, das World Trade Center stehe in Flammen. Den Rest des Tages verbrachte ich vor dem Fernseher und sah die Bilder, von denen jeder sagte, sie seien “wie im Kino”. Zu unvorstellbar waren die Ereignisse und selbst die irgendwann nach unten korrigierten Zahlen von knapp 3.000 Toten waren in einer Größenordnung, die das eigene Hirn überforderte.
Jetzt bin ich zum ersten Mal in meinem Leben in der “Stadt mit Loch”, Thees Uhlmann New York im gleichnamigen Tomte-Song nennt, und auch mit mehreren Jahren Abstand sind die Anschläge von jenem sonnigen Spätsommertag etwas Abstraktes. Tausende Male hat man die Szenen von den explodierenden Flugzeugen und den einstürzenden Türmen seitdem gesehen, die mit Staub bedeckten Straßen und Menschen. Sie sind in der Zwischenzeit popkulturelle Ikonen geworden und damit noch weiter entfernt von der Realität eines westdeutschen Studenten als sie es ohnehin schon waren, als sie damals noch Nachrichtenbilder waren.
Wer das alte, vollständige New York nicht kannte, merkt kaum, das etwas fehlt. Die Skyline ist auch so noch beeindruckend genug, die Stadt ist groß und laut und bunt. Von einer Melancholie oder Lähmung, die manche Journalisten auch nach Jahren noch zu entdecken glauben, ist nichts zu bemerken. Die Stadt ist lebendiger als jede andere Stadt, in der ich bisher war, und wer einen Moment nicht aufpasst als Fußgänger, gefährdet seine eigene Lebendigkeit.
Dass etwas nicht stimmt, merkt man erst, wenn man die Fotos und Gemälde aus der Zeit vor den Anschlägen sieht, die im Battery Park an der Südspitze Manhattans zu Dutzenden an Touristen verkauft werden sollen. Die Twin Towers sind fast doppelt so hoch wie die ohnehin schon beeindruckenden Hochhäuser, die man auch heute noch sehen kann. Ich halte die Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand vor mein Auge, um zwei Türme in die Skyline zu malen. Es klappt nicht: so hohe Häuser liegen außerhalb der eigenen Vorstellung, wenn man am durchweg flachen Niederrhein aufgewachsen ist. Beeindruckt bin ich trotzdem.
Ich gehe nach Norden, in Richtung des Ortes, den alle immer noch “Ground Zero” nennen. Plötzlich brechen die engen Straßenschluchten auf und vor mir liegt ein sonnendurchfluteter Platz, groß sicherlich, aber inmitten von großen Häusern in einer so großen Stadt wirkt er gar nicht so. Selbst die Grube, in der bereits an den Fundamenten des neuen “Freedom Towers” gearbeitet wird, erscheint einem aufgrund der Proportionen eher wie eine beliebige Baustelle in einer beliebigen Innenstadt. Drumherum ein Metallzaun und Schilder, auf denen die Hafenbehörde von New York bittet, diesen “Ort der besonderen Erinnerung” würdevoll zu behandeln, hier nicht zu betteln und hier nichts zu kaufen oder zu verkaufen. Einige Männer bieten Fotoalben mit aus dem Internet ausgedruckten Fotos der Flugzeugeinschläge an, lachende Mädchen lassen sich gemeinsam vor dem Zaun und dem dahinterliegenden Nichts fotografieren. Es ist diese Mischung aus Gedenkstättenhaftigkeit und Tourismus, die man in Berlin an jeder Ecke erleben kann. Drumherum stehen Hochhäuser, deren Fassaden und Fenster teilweise immer noch mit Staub bedeckt sind – nach all den Jahren. Hinter dem ersten Neubau steht ein Haus, dessen halbe Fassade fehlt. Das ist anders als alles, was man kennt.
Die U-Bahn-Station “World Trade Center” gibt es immer noch, sie heißt auch immer noch so. Im ersten Untergeschoss kann man durch einen Zaun in das Loch gucken, das von hier aus schon sehr viel größer wirkt als von oben. Wenn man weitergeht, kommt man an einem Schild vorbei, das einem erklärt, dass die U-Bahn-Station “von hier an” noch die originale Station des World Trade Centers sei. Die Kachelung an der Wand beginnt seltsam zerfranst – die Bruchkante zwischen dem, was früher war, und dem, was jetzt ist. Die Ereignisse sind immer noch so abstrakt wie die Zahl der Todesopfer, aber diese Kacheln sind konkret. Ich bekomme eine Gänsehaut und will nur noch weg.
[geschrieben im November 2006]