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Sonst ist der bitt’re Frost mein Tod

Als ich noch kein Kind hatte, fand ich die Frage “Haben Sie selbst Kinder?” in einer Diskussion immer etwas unverschämt — so, als ob einem das Schicksal der Welt und der Menschen weniger wichtig wäre, nur weil man sich noch nicht erfolgreich fortgepflanzt hat. Stellt sich raus: Es ändert sich tatsächlich wahnsinnig viel und plötzlich steht man am Morgen nach einer US-Präsidentschaftswahl weinend unter der Dusche, weil man langsam echt Angst bekommt, in was für einer kranken Welt das Kind und seine Freunde eigentlich aufwachsen sollen.

Die neue Sicht auf die Welt ist aber nicht ausschließlich apokalyptisch — im Gegenteil: Die Geschichte von St. Martin hat mich als Kind nie ernsthaft beschäftigt. Klar: Bettler, Mantel, Heiliger. Jedes Jahr gab es in Dinslaken einen Großen Martinszug mit Pferd und Feuer, danach gab es Stutenkerle, aber das alles war nur das Vorprogramm für die Martinikirmes, über die wir anschließend mit Omas Kirmesgeld in der Tasche ziehen durften — und deren Name uns auch erst sehr viel später irgendwie mehrdeutig und lustig erschien. Letztes Jahr aber, als wir das erste Mal mit dem Kind beim Martinszug waren und die Flüchtlingskrise gerade auf dem Höhepunkt war, da erschien mir die Geschichte des römischen Soldaten, der sich um einen Obdachlosen vor den Stadttoren kümmert, plötzlich wahnsinnig wichtig und aktuell. Da hätte der Pfarrer bei seiner Rezitation der Martinsgeschichte gar nicht mehr den Bogen in die Gegenwart schlagen müssen.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich das Gefühl, dass das Martinsfest der vielleicht wichtigste – sicherlich aber: greifbarste – christliche Feiertag sein könnte. Geburt oder Auferstehung eines Heilands, Heiliger Geist und WasgenaufeiertmannochmalanFronleichnam? sind von der Lebenswirklichkeit der Menschen dann doch eher weit entfernt, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe verstehen die meisten noch. Da braucht es dann auch gar nicht unbedingt noch die Schlusspointe und die fünfte Strophe des Martinslieds, wo Jesus Christus auftaucht und erklärt, dass der gute Martin jetzt für ihn, Christus, den Mantel gegeben hätte.

Nachdem Angela Merkel mit ihrem Aufruf, Liederzettel zu kopieren und Blockflötisten zu Rate zu ziehen, mal wieder für großes Hallo auf dem Gebiet gesorgt hatte, das die meisten Deutschen immer noch für Satire halten, veröffentlichte der WDR in seiner Sendung “WDR aktuell” einen Beitrag aus dem WDR-Lehrbuch “WDR-Beiträge, die wie WDR-Beiträge aussehen”: Erst sangen normale Menschen auf der Straße Weihnachtslieder in Kamera und Mikrofon, dann gab es Schnittbilder von der Kanzlerin, schließlich kamen ein paar einordnende O-Ton-Geber zu Wort. Der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende im Düsseldorfer Stadtrat, Andreas Hartnigk, erklärt:

Wir sind hier in einer christlich-abendländischen Kultur groß geworden, wir leben diese Kultur auch, und da singen wir keine Sonne-Mond-und-Sterne-Lieder, sondern wir singen St.-Martins-Lieder und das Ding heißt auch St.-Martins-Umzug. Und das muss auch so bleiben und jeder, der das nicht will, kann sich einen andern Lebensraum suchen, wenn er das nicht akzeptiert, oder er hält sich vornehm zurück.

Ich habe ein paar Stunden gebraucht, bis mir dieser O-Ton richtig übel aufstieß. Mal davon ab, dass “Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne” nun seit Jahrzehnten zum Repertoire eines Martinszugs gehören dürfte, klopft hier ein ganz anderes Problem an: Wäre es nicht irgendwie sinnvoller, sich dafür zu interessieren, was die Botschaft hinter dem Fest und dem Umzug ist, und nicht, wie andere Leute das Ding nennen?

Die Panik, dass unsere schönen christlichen Feste umbenannt werden, treibt Konservative und Neurechte seit Jahren um und sorgt immer wieder für besorgte Falschmeldungen. (Klar: Nichts transportiert die Weihnachtsbotschaft besser als ein sogenannter Weihnachtsmarkt, auf dem sich erwachsene Menschen nach Feierabend mit minderwertiger Plörre betrinken. Den sollte man auf keinen Fall in “Wintermarkt” umbenennen!) In denen meisten Fällen geht es ihnen dabei gar nicht um den Anlass eines solchen Feiertags, sondern um die reine Existenz dieses Feiertags, abgekoppelt von seiner Geschichte. Der Ursprung des Zitats, Tradition sei nicht das Bewahren der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers, ist einigermaßen unklar, aber man sollte diese Worte mal ein bisschen in Hirn und Herz bewegen.

Als Alexander Gauland von der AfD im Gespräch mit FAZ-Reportern seinen berüchtigten Jérôme-Boateng-Nachbarn-Satz äußerte, sagte er auch, unter den Anhängern seiner Partei gebe es die Sorge, “dass eine uns fremde Religion sehr viel prägender ist als unsere abendländische Tradition”. Die Wortwahl war auffällig, weil er nicht wie andere Konservative von einer “christlich-abendländischen” Kultur oder Tradition sprach — die christlichen Kirchen hatten zu diesem Zeitpunkt die AfD nämlich schon mitunter deutlich kritisiert. Wenn es ernsthaft um christliche Werte ginge, hätte ja auch die CSU ein völlig anderes Parteiprogramm.

Der musikalische Leiter des Schauspielhauses Dortmund, Tommy Finke, ein guter Freund von mir, sagt dann auch den entscheidenden Satz in diesem WDR-Beitrag:

Viele unserer christlichen Werte sind ja eigentlich humanistische Werte, das heißt, sie sind nicht unbedingt der christlichen Religion allein zuzuschreiben.

Ich bin Kind einer Mischehe, evangelisch getauft, habe aber von meiner Oma die volle Palette der katholischen Schutzheiligen mitbekommen. Wenn sie in ihrem Haushalt etwas nicht wiederfindet, zündet sie eine Kerze für den Heiligen Antonius an, in der Hoffnung, dass der “Klüngeltünnes” ihr hilft. (Meine Oma sagt aber auch immer: “Ein Haus verliert nichts”, was die Verantwortung ein bisschen von den Schultern des Heiligen nimmt.) Das ist harmlose, lebensnahe Religionsausübung, das Gegenteil von Kreuzzügen und Heiligem Krieg. Ich selbst habe mir das Gottesbild aus dem Kindergottesdienst bewahrt und sehe es pragmatisch: Da man die Nichtexistenz eines höheren Wesens nicht beweisen kann, kann man auch dran glauben, wenn es einem selbst weiterhilft und man anderen damit nicht zur Last fällt. Ich find’s aber auch total in Ordnung, wenn jemand sagt, er glaube nicht an Gott — das ist ja das Wesen von “Glauben”. (Wenn jemand behauptet, er wisse, dass Gott existiere – oder, dass der nicht existiere – wird’s schwierig: Beides. Ist. Wissenschaftlich. Nicht. Beweisbar.)

Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft finde ich gut, unabhängig davon, ob man jetzt aus religiösen oder humanistischen Gründen handelt. Aber man kann ja schlecht immer den Untergang der “christlichen Werte” beweinen, wenn man sie selber nicht lebt. Und das meinte die Kanzlerin ja auch mit ihren Ausführungen zu Blockflöte und Weihnachtsliedern: Eine Religion geht ja nicht dadurch unter, dass plötzlich (im Sinne von: seit über fünfzig Jahren) Menschen einer anderen Religion in einem Land leben, sondern dadurch, dass sie nicht mehr bzw. nur als seelenlose Tradition praktiziert wird. Und ein sprichwörtlicher fußballspielender Senegalese wird vom Generalsekretär einer sogenannten christlichen Partei auch noch dafür gescholten, dass er ministriert, weil man ihn dann nicht mehr abschieben könne. Da hat sich die Logik ja schon auf halber Strecke selbst ans Kreuz genagelt.

Wie war ich da jetzt hingekommen und wie kriege ich diesen Text zu Ende, ohne auch noch Schlenker über Donald Trump, die Geschichte der römisch-katholischen Kirche und die Songs des gestern verstorbenen Leonard Cohen zu nehmen?

Ich wünsche Ihnen und vor allem Ihren Kindern einen schönen St.-Martins-Tag und schauen Sie heute vielleicht mal ein bisschen genauer hin, ob jemand in Ihrer Umgebung Hilfe gebrauchen könnte!

Nachtrag, 16.28 Uhr: Nach Veröffentlichung dieses Artikels habe ich gelesen, dass der St.-Martins-Umzug eines Kindergartens in Fürth abgesagt bzw. verlegt werden musste, weil zur gleichen Zeit am gleichen Ort Pegida unter dem Motto “Sankt Martin und seine heutige Bedeutung” demonstriert.

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Gesellschaft Politik

Lucky & Fred: Episode 9

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Am Anschlag auf Charlie Hebdo und die Pressefreiheit führt auch bei uns kein Weg dran vorbei: Wir diskutieren, was Satire darf, und fragen uns, wie man Salafist wird, während Lucky überraschend sein Mitgefühl für Karnevalisten entdeckt.
Über einen Umweg nach Wien gelangen wir nach Griechenland und zur Geldmaschine Olympische Spiele.
Fred hält einen Nachruf auf Altbundespräsident Richard von Weizsäcker und Lucky freut sich auf die Oberbürgermeisterwahl in Bochum.

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Gesellschaft

Der Untergang des Abendbrotlandes

Schon immer kam alles Schlechte aus den USA: Die Meinungsfreiheit, das Frauenwahlrecht, der Rock’n’Roll und das Fast Food. Der neueste (na ja: “neueste”) Angriff auf die deutsche Kultur ist ein Fest, das von denen, die es begehen wollen, heute begangen wird: Halloween.

Eines vorab: Ich hasse es, mich zu verkleiden. Ich habe das als Kind mit großer Begeisterung getan und meinen Vorrat dabei offenbar aufgebraucht. Wer sichergehen will, dass ich nicht zu seiner Geburtstagsfeier komme, richtet einfach eine Bad-Taste- oder Mottoparty aus. Es kostet mich schon Überwindung, einen Anzug zu tragen oder Hosen, die keine Jeans sind. Als ich vor sechs Jahren den Herbst in Nordkalifornien verbrachte, fand ich mich allerdings plötzlich in einem eilig aus grünen Filzbahnen zusammengetackerten Ampelmännchen-Kostüm wieder — und hatte großen Spaß. Niemand kannte mich, alle waren sehr aufwendig kostümiert und es herrschte diese feierliche amerikanische Ernsthaftigkeit vor.

Wenn ich mir allerdings einen amerikanischen Feiertag für den Import aussuchen dürfte, wäre es – neben einem Nationalfeiertag im Sommer – Thanksgiving: Die Festlichkeit und Geselligkeit von Weihnachten ohne diesen ganzen Geschenkestress — die Amerikaner verstehen es zu feiern. Halloween ist ja doch eher was für Menschen, die sich vom Kalender vorschreiben lassen, wann sie mal ausgelassen feiern gehen können, und denen Karneval zu spießig ist. ((Mein in Rheinlandnähe aufgewachsenes Herz hätte beinahe geschrieben: die für Karneval zu feige sind.))

Aber gut, muss jeder selbst wissen, wie er seine Freizeit verbringt. Fähnchenschwenkend durch das Pressezentrum bei Eurovision Song Contest zu rennen, fällt bei den meisten Leuten sicher auch eher unter “Special Interest”. Wir sind ein freies Land. Wenn ich mir aber so anschaue, wie heute in meiner Facebook-Timeline westliche Kultur auf westliche Kultur trifft, finde ich, dass die Kontakte mit der islamischen Welt im Großen und Ganzen doch beinahe harmonisch zu nennen sind.

Auf der einen Seite stehen die Leute, die Halloween mit quasi religiösem Eifer begehen. Auf der anderen jene, die sagen, heute sei doch Reformationstag und morgen Allerheiligen. ((Kleiner Ausfallschritt zu Allerheiligen: Es kann meines Erachtens nicht sein, dass in einem Land, in dem die Trennung von Staat und Kirche im Grundgesetz garantiert wird, sogenannte Tanzverbote an kirchlichen Feiertagen ausgesprochen werden. Und auch nicht, dass ein Land an zwei aufeinanderfolgenden Tagen volkswirtschaftlich gelähmt wird, weil am einen Tag in fünf Bundesländern, am nächsten in fünf anderen kirchlicher Feiertag ist. Die Katholiken haben schon Fronleichnam (wenn auch nicht überall), also wären hier mal die Protestanten dran!)) Ja, stimmt. Heute ist auch Weltspartag (außer in Deutschland, das für einen Welt-Irgendwas-Tag natürlich wieder eine Ausnahme brauchte — übrigens wegen des Reformationstags) und morgen – für die, denen die Katholische Kirche nicht ideologisch genug ist – Weltvegantag. Die verrücktesten Geister könnten sich nicht ausdenken, welche Gedenk-, Feier- und Aktionstage es im Laufe des Jahres so gibt, aber sie werden offenbar alle begangen — manche nur von denen, die sie ausgerufen haben, manche von weiten Teilen der Menschheit, wobei durchaus Schnittmengen von Personen möglich sind, die am 15. Oktober sowohl den “Tag des weißen Stockes” als auch den “Internationalen Tag der Frau in ländlichen Gebieten” begehen. Solange niemand einen Reformationstagsgottesdienst stürmt, um “Süßes oder Saures” zu rufen, klappt das auch ganz gut.

Der durchschnittliche Deutsche, die Volksseele, der Michel, Otto Normalverbraucher oder – wie ich ihn heute aus reiner Boshaftigkeit nennen möchte – Jürgen Sixpack hat eine panische Angst davor, dass ihm seine kulturelle Identität verloren geht. Die Angst vor der “Überfremdung” ist nicht auf den Islam oder Flüchtlinge aus Nordafrika beschränkt, sie gilt auch – und ganz besonders – im Bezug auf die USA: Junggesellenabschiede (bei denen ich mir tatsächlich staatliche Intervention wünschte) statt Polterabende, “Handy” statt “Mobiltelefon”, der Weihnachtsmann statt des Christkinds — Amerikanisierung lauert überall. Oder genauer: eine lokale Interpretation davon.

Mit der kulturellen Identität ist das so: Man braucht etwas, woran man sich halten kann, weswegen der Fußball – eine Sportart, die ich liebe, die amerikanische Sportfans aber als stillos und banal betrachten – hier so schön identitätsstiftend Raum greifen kann. Ansonsten sieht’s nämlich so aus: Unsere Städte sehen fast alle gleich trübe und grau aus, so wie Städte eben aussehen, wenn sie sehr schnell und billig wieder aufgebaut werden müssen, weil sie in Schutt und Asche lagen, nachdem es Deutschland mit der kulturellen Identität wirklich auf die Spitze getrieben hatte. Unsere Einkaufsstraßen sehen gleich aus, weil sie mit den immergleichen Filialen deutscher Großbäcker, Drogerie- und Supermarktketten, britischer Körperpflegemittelhersteller, amerikanischer Fastfoodverfütterer und schwedischer Bekleidungshändler vollgestopft sind.

Wohnungen weltweit sind von der Schwedenmafia uniformiert worden und müssten theoretisch alle gleich aussehen, was sie dann aber überraschenderweise doch nicht tun, weil da eben immer noch Persönliches, Individuelles mit reinkommt. Die kulturelle Identität des Einzelnen, der gleichzeitig Stifter und Rezipient der kulturellen Identität einer Gruppe ist.

Wer die Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in London gesehen hat, erlebte dort einen bunten Reigen britischer Geschichte und – vor allem – Popkultur. Schier unendlich der Fundus an aus England stammenden Welthits, Evergreens und Meisterwerken. Bei uns, so wurde dann schnell geunkt, stünden da Pur, Nena und Xavier Naidoo. ((Na ja, oder halt Kraftwerk, die Erfinder der modernen Popmusik, aber nun gut.)) Das deutsche Fernsehprogramm besteht ja auch überwiegend aus Krimiserien und Quizshows (beides keine genuin deutschen Produkte)

Die kulturelle Identität Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg hat gleich zwei amputierte Beine: Das mit dem Traum vom großen deutschen Volk war gründlich schief gegangen, fand seine Fortsetzung aber in einer Art Light-Version in Heimatfilmen und Volkstümelndem Schlager, und die Leute, die Berlin in den 1920er Jahren zum kulturellen Hotspot gemacht hatten, waren alle vertrieben oder gleich getötet worden. Billy Wilder prägte im Kino fleißig das Amerikabild der Nachkriegszeit, in Deutschland feierte “Grün ist die Heide” unglaubliche Erfolge. Die Jugendbewegungen schwappten in der Folgezeit fast alle aus den USA oder Großbritannien nach Deutschland und mit ihnen der seither andauernde Untergang des Abendlandes — oder präziser vielleicht: des Abendbrotlandes.

Zuvor waren die einst heidnischen Gebiete des heutigen Deutschlands christianisiert worden. Die Gotik war aus Frankreich gekommen, die Renaissance und der Barock aus Italien. Ohne diese äußeren Einflüsse hätten die Bomben der Alliierten allenfalls spätmittelalterliche Fachwerkhäuser, vermutlich eher irgendwelche Steinzeithöhlen treffen können. Eine Zeitlang galt es im Bürgertum als ausgesprochen chic, Maskenbälle venezianischer Prägung abzuhalten. Gehwege nannte man “Trottoir”, ((Kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde in einem deutschen Satz das Wort “sidewalk” benutzen.)) Aborte “Toilette”.

Überspitzt gesagt ist der Inbegriff von Kultur in Deutschland immer noch Bayreuth, dabei sind die Wagner-Festspiele auch nur eine Art gehobener Karneval: Menschen, die allenfalls den Schlusssatz von Beethovens Neunter von Mozarts “Kleiner Nachtmusik” auseinanderhalten können, verkleiden sich einen Abend als kulturinteressierte Bildungsbürger.

85 Prozent meiner eigenen kulturellen Identität sind von angelsächsischer Popkultur geprägt, der Rest von von angelsächsischer Popkultur Geprägten. Ja, ich mag keine französischen Filme und ein gut sortierter und gut gefüllter HMV löst in mir mehr Glücksgefühle aus als die Sixtinische Kapelle. Ich würde einen Urlaub im verregneten Schottland (und das dortige Pub Food) jederzeit einem Ausflug ans Mittelmeer vorziehen.

Aber ich steige nicht empört auf die Barrikaden (französische Spezialität), wenn Menschen Italienischkurse in der Volkshochschule besuchen, bei Aldi den etwas teureren Rotwein kaufen und ihren Urlaub in der Toscana verbringen wollen.

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Gesellschaft

Septemberkinder

Eine Jury in New Jersey hat gestern den 20-jährigen Dharun Ravi für schuldig befunden, ein hate crime an seinem Mitbewohner Tyler Clementi begangen zu haben. “Spiegel Online” beschreibt die Ausgangslage so:

Es war der 19. September, an dem Clementi laut Zeugenaussagen Ravi bat, den gemeinsamen Raum zu verlassen, er wolle einen Gast empfangen. Ravi twitterte: “Mitbewohner wollte den Raum bis Mitternacht haben. Ich bin in Mollys (eine Freundin, Anm. d. Redaktion) Zimmer gegangen und habe meine Webcam angeschaltet. Ich habe gesehen, wie er mit einem Kerl rummachte. Juhu.”

So fing es an. Am Ende war Clementi tot.

Die “New York Times” führt weiter aus:

The case was a rare one in which almost none of the facts were in dispute. Mr. Ravi’s lawyers agreed that he had set up a webcam on his computer, and had then gone into a friend’s room and viewed Mr. Clementi kissing a man he met a few weeks earlier on a Web site for gay men. He sent Twitter and text messages urging others to watch when Mr. Clementi invited the man again two nights later, then deleted messages after Mr. Clementi killed himself.

That account had been established by a long trail of electronic evidence — from Twitter feeds and cellphone records, dormitory surveillance cameras, dining hall swipe cards and a “net flow” analysis showing when and how computers in the dormitory connected.

Die digitalen Beweise waren dann wohl auch ausschlaggebend für die sehr differenzierten Entscheidungen der Jury.

Ravis Anwälte hatten argumentiert, ihr Mandant sei “ein Kind”, das wenig Erfahrung mit Homosexualität habe und in eine Situation geraten sei, die ihn geängstigt habe. In entschuldigenden SMS-Nachrichten an Clementi habe Ravi geschrieben, dass er keine Probleme mit Homosexualität habe und sogar einen engen Freund habe, der schwul sei.

Die “New York Times” notiert:

(At almost the exact moment he sent the apology, Mr. Clementi, 18, committed suicide after posting on Facebook, “jumping off the gw bridge sorry”).

* * *

Der Selbstmord von Tyler Clementi war einer von mehreren im Spätsommer/Herbst 2010. Mindestens neun Schüler und Studenten zwischen 13 und 19 Jahren glaubten, keinen anderen Ausweg mehr zu haben, als ihrem Leben ein Ende zu setzen, weil sie Opfer von Diskriminierungen und Angriffen wurden, nur weil sie schwul waren oder man sie dafür hielt.

Als Reaktion auf diese Selbstmorde wurde das sehr bewegende Projekt “It gets better” ins Leben berufen, bei der Prominente und Nichtprominente, Künstler und Politiker, TV-Moderatoren und Polizisten homosexuellen Jugendlichen – ach, eigentlich allen Jugendlichen – Mut machten, dass ihr Leben besser werde.

Stefan Niggemeier hat damals geschrieben:

Dem Projekt ist vorgeworfen worden, gefährlich unterambitioniert zu sein, weil es nicht auf die Beseitigung der Ursachen von Diskriminierung zielt, sondern bloß ihre Opfer zum Überleben auffordert. Diese Kritik ist nachvollziehbar, aber sie trifft nicht. Zum einen hat Dan Savage recht, wenn er sagt, dass es zunächst einmal darum geht, akut bedrohten Jugendlichen unmittelbar Hoffnung zu geben und auf Ansprechpartner hinzuweisen. Zum anderen belassen es die Mitwirkenden keineswegs immer bei dem Versprechen, dass es nach der Schule, nach der Pubertät, überhaupt in Zukunft schon besser werden wird. Viele greifen, wie Ellen, den Skandal an, dass die Diskriminierung immer noch zugelassen wird. Dass es ein Klima der Intoleranz gibt, das die Verhöhnung von Schwulen zulässt und fördert.

* * *

Die Chicagoer Band Rise Against hat einen Song über die “September’s Children” geschrieben, mit dem die Musiker auch “It gets better” unterstützen wollen, und Sie sollten sich das Video unbedingt in voller Länge ansehen:

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Rise Against – Make It Stop (September’s Children) from LGBTQI Georgia on Vimeo.

Die Namen, die Frontmann Tim McIlrath nennt, sind neben Tyler Clementi die von Billy Lucas, Harrison Chase Brown, Cody J. Barker und Seth Walsh.

Jedes Mal, wenn ich dieses Video sehe, denke ich vor der Marke von 3:05 Minuten: “Das können die nicht wirklich so zeigen”, und dann kommt dieser Bruch und ich habe jedes verdammte Mal wieder Gänsehaut und bin gerührt, aufgewühlt und völlig fertig. So ein Video hätte verdammt schief gehen können, aber ich finde, es ist der Band und ihrem Regisseur Marc Klasfeld erstaunlich gut gelungen.

* * *

Im Text heißt es “What God would damn a heart? / And what God drove us apart? / What God could / Make it stop / Let this end”, und Religion rückt in den USA auch nach Dharun Ravis Schuldspruch in den Fokus.

Brent Childres schreibt im Religions-Blog der “Washington Post”:

There are many more Tyler Clementi tragedies waiting to unfold if we continue to close our minds to the harm caused by religious teaching’s bias and intimidation toward gay. lesbian bisexual and transgender individuals, especially youth and families.

The story of Tyler Clementi’s death has been one of the most publicized teen suicides in recent memory. Unfortunately, a review of media interviews and print news articles over the last 18 months produces only a few hints to the role religious teaching may have played in Clementi’s emotional and psychological distress.

Es ist für Europäer kaum zu verstehen, was für christliche Splittergruppen diese Evangelikalen, Methodisten, Presbyterianer und Lutheraner eigentlich sind, aber ihre Haltung zur Homosexualität lässt die meisten deutschen Kardinäle wie liberale Aktivisten aussehen. Und, was noch viel schlimmer ist, diese Gruppierungen werden von ihren Mitgliedern ernst genommen:

Grace Church of Ridgewood, New Jersey, is the church that Tyler Clementi attended with his family. It was not an affirming and welcoming place for a young person processing a same-sex sexual orientation, according to some pastors in that community. The church is a member of the Willow Creek Association, a group of churches headed by Bill Hybels, who as recently as last year said that God designed sexual intimacy to be between a man and a woman in marriage and anything outside of that is sexual impurity in God’s eyes. The gay youth hears in those words that they are dirty, unclean and something for which they should be ashamed. […]

In an October 2010 article posted on a church blog at St. Stephen Church, [Rev. Clarke] Olson-Smith wrote “In the congregation Tyler grew up in and his parents still belong to, there was no question. To be gay was to be cut off from God.”

Nach dem Schuldspruch gab der Fernsehprediger Bill Keller dem CNN-Moderator Anderson Cooper, Rachel Maddow von CNBC, der Moderatorin Ellen DeGeneres, den Medien und den “feigen Priestern” die Schuld am Tod von Tyler Clementi:

Suicide is a desperate and selfish act that is ultimately the sole responsibility of the person who made the choice to end their life. Everyone who commits suicide has reasons that led them to make such a horrible decision. The fact is, suicide is exponentially higher amongst those who choose the homosexual lifestyle, and while those in the media want to blame people like myself who take a Biblical stand on this issue, the fact is, they are the ones most responsible!

So einfach kann man sich das machen: Nicht die Atmosphäre voll Hass und Ablehnung ist schuld, in der junge Homosexuelle aufwachsen müssen, natürlich sowieso nicht diejenigen, die sich auf die Bibel berufen, sondern die, die sagen, dass es völlig okay sei, Menschen des selben Geschlecht zu lieben!

Ich habe die Hoffnung, dass Hassprediger wie Keller dereinst mit einem “Sorry, Du hast da was wahnsinnig missverstanden” an der Himmelspforte abgewiesen werden.

* * *

Kinder und Jugendliche waren immer schon grausam zueinander, aber die heutigen technischen Möglichkeiten bieten denen, die sich über andere erheben wollen, ganz neue Verbreitungswege und viel größere Zielgruppen — und letztlich ahmen die Jungen vor allem nach, was ihnen die Alten in der Gesellschaft vorleben. Es gibt unterschiedliche Meinungen, ob es eine gute Idee war, Ravi eines hate crimes für schuldig zu befinden, also einer aus Vorurteilen begangenen Straftat, oder ob sich die Jury nicht auf die anderen Anklagepunkte hätte beschränken sollen.

Der Jura-Professor Paul Butler schreibt bei CNN.com:

Ravi did not invent homophobia, but he is being scapegoated for it. Bias against gay people is, sadly, embedded in American culture. Until last year people were being kicked out of the military because they were homosexuals. None of the four leading presidential candidates — President Obama, Mitt Romney, Rick Santorum, Newt Gingrich — thinks that gay people should be allowed to get married. A better way to honor the life of Clementi would be for everyone to get off their high horse about a 20-year-old kid and instead think about how we can promote civil rights in our own lives.

Though a national conversation about civility and respect would have been better, as usual for social problems, we looked to the criminal justice system. The United States incarcerates more of its citizens than any country in the world. We are an extraordinarily punitive people.

Clementi died for America’s sins. And now, Ravi faces years in prison for the same reason.

* * *

Nach dem Schuldspruch wandte sich Tyler Clementis Vater Joe mit einer Botschaft an die Öffentlichkeit:

To our college, high school and even middle-school youngsters, I would say this: You’re going to meet a lot of people in your lifetime. Some of these people you may not like. But just because you don’t like them, does not mean you have to work against them. When you see somebody doing something wrong, tell them, “That’s not right. Stop it.”

You can make the world a better place. The change you want to see in the world begins with you.

Es könnte besser werden. Es muss!

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No one’s laughing at God, we’re all laughing with God

Ich habe mit dem von “Bild” herbeigekreischten “Schwuchtel-Skandal” bei der Kölner Stunksitzung, über den ich gestern im BILDblog geschrieben habe, verschiedene Probleme.

Da ist zunächst einmal ein germanistisches: Da stellt sich ein Kabarettist hin und sagt in seiner Rolle als Ex-Bischof Walter Mixa folgende Worte:

Aber der Höhepunkt war der Weltjugendtag hier in Köln: Benedikt und Joachim, der zum-Lachen-in-den-Keller-geht-Meisner, ließen sich wie zwei frischvermählte Schwuchteln über den Rhein schippern.

Nun wäre es verständlich, wenn sich Homosexuellenverbände über die Verwendung der despektierlichen Vokabel “Schwuchtel” beklagten (wobei man nicht weiß, wie der echte Walter Mixa im privaten Rahmen über diese Bevölkerungsgruppe spricht), aber es würde wohl kaum jemand ausschließen, dass sich nicht irgendwo zwei Schwule finden ließen, die nach ihrer Verpartnerung in grotesken Gewändern auf einem Schiff feiern wollen.

Man muss schon Politiker sein, um aus dem obigen Vergleich etwas anderes zu machen, wie die Katholische Nachrichten Agentur (kna) zusammenfasst:

Die Darstellung von Papst und Kardinal als “Schwuchteln” sei “niveaulos und absolut primitiv”, sagte Martin Lohmann, Chef des Arbeitskreises engagierter Katholiken in der CDU, der in Düsseldorf erscheinenden “Rheinischen Post” (Dienstag).

Der frühere bayrische Wissenschaftsminister (!) Thomas Goppel geht gleich einen Schritt weiter und bemüht seinerseits einen Vergleich:

Der Sprecher der “Christsozialen Katholiken in der CSU”, Thomas Goppel, hatte den WDR vor einer Fernsehausstrahlung gewarnt. Den betroffenen Kabarettisten Bruno Schmitz nannte er einen “degoutanten Versager”, der sich “im geistigen Sinn wie die U-Bahn-Randalierer” verhalte. CSU-Rechtspolitiker Norbert Geis erklärte, der Karnevals-Beitrag sei ein “Ausdruck von Bosheit und Dummheit”. Das sei “nicht einmal unterstes Niveau: bodenlos,” kritisierte Geis.

Immerhin: Mit Gewalt im öffentlichen Personennahverkehr verbindet die Bayern fast so eine lange Tradition wie mit der katholischen Kirche.

* * *

Was mich ebenfalls verwirrt ist die Empörung, die sich unter bislang eher unbekannten Vereinen und Verbänden Raum bricht:

Der Bundesverband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung (KKV) hat den WDR aufgefordert, eine Papst Benedikt XVI. und Kardinal Joachim Meisner verunglimpfende Szene aus der “Stunksitzung” nicht auszustrahlen. Der Sender solle Flagge zeigen und auf die Gefühle von Christen Rücksicht nehmen, forderte der KKV-Vorsitzende Bernd-M. Wehner am Freitag in Köln. Diese machten “immerhin etwa zwei Drittel der Rundfunkgebührenzahler” aus, sagte er.

An diesen Ausführungen ist so gut wie alles empörenswert: Zunächst einmal verbitte ich mir als Christ die Vereinnahmung und Entmündigung durch Herrn Wehner und seinen Verein. Als Protestant tangiert es meine religiösen Gefühle nullkommagarnicht, wenn irgendwelche Kardinäle und Bischöfe verspottet werden. Und das hat nichts mit der Konfession zu tun: Auch mögliche Witze über die Trunkenheitsfahrt von Margot Käßmann lassen meine religiösen Empfindungen unberührt. Ich mag sie schlecht und unlustig finden (wie den unsäglichen Käßmann-Standup von Harald Schmidt), aber sie richten sich gegen – Entschuldigung, liebe Katholiken – Menschen und nicht gegen meine Religion. Und selbst wenn, würde ich den Sketch gerne selbst sehen und mich notfalls von allein darüber echauffieren — eine Bevormundung durch den WDR im Namen irgendwelcher Verbände ist da wenig sachdienlich.

“Bild” räumte Goppel in der Münchener Regionalausgabe ebenfalls Raum für seine Empörung ein und freute sich in der Kölner Ausgabe (zu früh, s. BILDblog), dass der WDR auf eine Ausstrahlung des Sketches verzichten werde. Dabei handelt es sich um die gleiche Zeitung, die Kurt Westergaard, den Zeichner der umstrittenen Mohammed-Karikaturen, als “mutig” und Angela Merkels Laudatio auf ihn als “großes Bekenntnis zur Freiheit der Presse und der Meinungen” bezeichnet hatte.

Ich bin mir sicher, dass ein guter Teil der Menschen, die nun den Mixa-Darsteller Bruno Schmitz beschimpfen und bedrohen, andererseits der Meinung sind, dass die Reaktionen auf Westergaards Zeichnungen in Teilen der muslimischen Welt völlig übertrieben und barbarisch waren. Da kann man ja noch froh sein, dass es im Islam keine kalendarisch verordneten Phasen der Witzigkeit gibt, in denen sich irgendwelche Menschen mit einem etwas anderen Humorverständnis über Jesus oder Maria lustig machen.

* * *

Damit sind wir bei einem Religionsverständnis angekommen, das mich als gläubiger Christ verwirrt und das auf einer rationalen Ebene allenfalls “irrational” zu nennen ist: Mir ist völlig schleierhaft, warum Menschen, die an einen allmächtigen Gott glauben, meinen, diesen verteidigen zu müssen.

Wenn sich dieser Gott von Menschen beleidigt fühlt, sollte er doch selbst genug Möglichkeiten haben, dies den Betreffenden kurzfristig (Sintflut, beim Kacken vom Blitz getroffen) oder langfristig (an der Himmelspforte abgewiesen) mitzuteilen. Auf gar keinen Fall braucht er popelige Menschen, die in seinem Namen sauer sind und ihn somit entmündigen.

Ich mag mich da irren (und werde das sicher noch früh genug erfahren), aber ein Gott, der Wesen wie das Nilpferd, den Nasenbären oder Sarah Palin erschaffen hat, hat doch offenbar einen ziemlich guten Humor und bedarf demnach nicht der (mutmaßlich unverlangten) Fürsprache von humorfreien Menschen wie Eva Herman oder Thomas Goppel.

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Weihnachtsgrüße aus Rom

Überraschende Weihnachtsgrüße erreichen uns von der Römisch-Katholischen Kirche. ((Ich möchte hier nicht das Verhältnis zwischen mir und der katholischen Kirche thematisieren. Ich mag das pompöse ihrer Gottesdienste, ich mag den Petersplatz und ich weiß nur zu gut, welche riesigen Meinungsverschiedenheiten es zwischen Rom und den einzelnen Gemeinden vor Ort gibt. Meine Versuche, andere Religionen und Meinungen zu respektieren, scheitern eben regelmäßig am Papst.))

Benedikt XVI. hält an seinem Plan fest, zu jedem hohen Feiertage eine Bevölkerungsgruppe zu vergrätzen. Nach Juden und Muslimen hat er sich jetzt die Homosexuellen vorgenommen:

Der Papst sagte, die Menschheit müsse auf “die Sprache der Schöpfung” hören, um die von Gott vorgesehen Rollen von Mann und Frau zu verstehen. Er bezeichnete Verhältnisse jenseits von traditionellen heterosexuellen Beziehungen als “Zerstörung von Gottes Werk”.

Einen Höchstwert auf der Eva-Herman-Skala für verschrobene Gedankengänge sicherte sich der Papst dann mit diesem Satz:

“Die Regenwälder haben ein Recht auf unseren Schutz”, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters das Oberhaupt der katholischen Kirche weiter, ” Aber der Mensch als Kreatur hat nicht weniger verdient.“

Faszinierenderweise verhält es sich mit dem Papst da so ein bisschen wie mit Bushido: Ihn alleine kann man mit der nötigen Distanz noch ertragen, aber schlimm wird es, wenn seine Anhänger hinzukommen.

Stefan Niggemeier hat neulich in einem anderen Zusammenhang auf kreuz.net aufmerksam gemacht, ein “Nachrichtenportal”, das jeden aufgeklärten Menschen erst einmal staunen macht. Christlicher Extremismus ist auch im 21. Jahrhundert durchaus vorhanden — auch und gerade im Internet. Als kleine, einigermaßen wahllose Kostprobe sei nur dieser Artikel empfohlen, in dem es gleich um Schwulenhass, Journalistenbashing und einen Nazi-Vergleich geht.

Aber ich möchte mir meine dann doch halbwegs festliche Stimmung nicht von Hardcore-Exegeten der christlichen Heilslehre verderben lassen und schwenke deshalb lieber um zu schöner Musik. Die großartige Band Nizlopi hat ein Lied namens “Part Of Me” geschrieben.

In dem Text heißt es unter anderem:

And George Bush, Tony Blair, Eminem and Dr Dre
Putin, Sarcozy and Arnold Schwarzenegger by the way
Amy Winehouse, Margaret Thatcher and the Pope would have to say
If they were all quite honest
That part of them is gay

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[via queer.de]

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Print Politik

Was der “Süddeutschen Zeitung” heilig ist (und was nicht)

Wenn ich das damals im Kindergottesdienst richtig verstanden habe, sieht der liebe Gott alles, petzt aber nicht. Für ihn gilt das wohl umfassendste Zeugnisverweigerungsrecht und was man ihm erzählt, geht niemanden sonst etwas an. Wenn man ihm einen Brief schreibt, ist dessen Inhalt darüber hinaus noch von so etwas Weltlichem wie dem Briefgeheimnis geschützt.

Barack Obama, der sich gerade an so einiges gewöhnen muss, konnte sich also eigentlich auf der sicheren Seite wähnen, als er vergangene Woche in Jerusalem ein schriftliches Gebet in eine Ritze der Klagemauer schob. Immerhin hatten das schon Millionen von Menschen gemacht, darunter Papst Johannes Paul II.

Barack Obama musste nicht unbedingt damit rechnen, dass ein Religionsstudent (ausgerechnet!) seinen Zettel aus der Mauer porkeln und an die Zeitung Maariv weitergeben würde – und dass die diesen Brief dann abdrucken würde.

Nicht, dass Obama Schlimmes geschrieben hätte, es geht viel mehr um Vertrauen und ein uraltes religiöses Symbol. Entsprechend kann man auch den Aufschrei verstehen, der nun durch die Medien geht und auch die “Süddeutsche Zeitung” erfasste:

Der marktschreierischen Zeitung Maariv allerdings sind offenbar nicht alle Botschaften heilig. Am Wochenende veröffentlichte das Blatt auf seiner Titelseite die von Obama handschriftlich verfasste Note – und löste damit erhebliche Empörung aus, vor allem bei der Klagemauer-Verwaltung. Sie sieht nun ihre Glaubwürdigkeit in Gefahr, besonders bei den Betenden, die ihre Botschaften faxen oder mailen.

Wie “heilig” der “Süddeutschen Zeitung” Obamas Botschaft war, können Sie freilich daran ablesen, dass sie diese gleich zweimal druckte: einmal ins Deutsche übersetzt und einmal als Foto des Originalbriefs.

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Gesellschaft

Wie schon St. Peter Lustig immer sagte

Ich hoffe, Sie hatten ein schönes Osterfest!

Die Karwoche ist immer die Zeit des Jahres, zu der ich katholisch werde. Sonst bin ich nie katholisch, schon gar nicht so getauft, und den Papst und das alles finde ich natürlich sowieso nicht gut. Aber ich mag die Showelemente, die die katholische Kirche dem Protestantismus voraushat ((Streng genommen gibt es den Protestantismus ja unter anderem genau deshalb, weil diese Showelemente wenig mit dem Glauben an sich zu tun haben, aber ich möchte hier weder Martin Luther erklären, noch in längere Religionsphilosophien abdriften.)) – ich gehe ja auch auf Robbie-Williams- und Killers-Konzerte – und Show gibt es eben an Palmsonntag und in der Osternacht.

Karfreitag verzichte ich aus mir selbst nicht nachvollziehbaren Gründen ((I guess that’s why they call it religion.)) auf Fleisch und Alkohol. Gleichwohl hätte ich kein Problem damit, wenn jemand vor meinen Augen ein halbes Schwein verspeisen oder ein Fass Wein leeren würde. Ich würde auch am Karfreitag “weg gehen”, gerne auch auf Konzerte. Zuhause wäre dies kein Problem: Außerhalb Bayerns können die Kommunen selbst entscheiden, ob sie das “Tanzverbot”, das an den sogenannten “Stillen Tagen” gilt, aufheben wollen. In Bochum will man das offenbar seit längerem und die reichlich besuchten Gothic- und Metalparties sprechen für eine große Nachfrage. ((“Vier Tage Familienfeier ohne zwischenzeitlichen Ausgang” stehen auf George W. Bushs “Liste mit den Nicht-Folter-Methoden, die wir erproben sollten, falls wir Waterboarding jemals verbieten sollten” ziemlich weit oben.)) In Dinslaken ginge es nicht: Als regiere im Kreis Wesel der Pietcong, sind öffentliche Tanzveranstaltungen, der Betrieb von Spielhallen, Märkte, Sportveranstaltungen und die Vorführung nicht “feiertagsfreier” Kinofilme dort verboten – und zwar schon ab Gründonnerstag, 18 Uhr. Da kann man als Mensch, der an die Trennung von Staat und Kirche glaubt, schon mal nervöse Zuckungen im Gesicht kriegen.

Wenn der Staat Tanzveranstaltungen verbietet und gleichzeitig im Fernsehen Mord und Totschlag stattfinden, kann der Bürger die Plausibilität von staatlichen Regelungen nicht mehr nachvollziehen

sagte deshalb Bischof Gebhard Fürst, meinte das nur völlig anders als ich. Im katholischen Festttagskalender fest verankert ist nämlich seit einiger Zeit die Medienschelte zum Feiertagsprogramm: “Zu brutal, zu lustig, zu wenig familientauglich”, rufen dann der Vorsitzende der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz oder der Vorsitzende des medienpolitischen Expertenkreises der CDU ((Was lustigerweise ausgerechnet Günther Oettinger ist.)) erschüttert aus und werfen die Hände zum Himmel, so wie Pfarrer das in Fünfziger-Jahre-Schwarzweiß-Filmen immer machen, wenn der Satan in Form von Peter Kraus und seiner Rock’n’Roll-Kapelle ins Dorf kommt.

Während der Papst – über den Bernward Loheide von dpa übrigens letzte Woche einen sehr lesenswerten Bericht geschrieben hat – zum Osterfest 2008 so einiges unternahm, um sowohl Juden als auch Moslems vor den Kopf zu stoßen, soll also das deutsche Fernsehen unverfängliche Familienunterhaltung senden für eine Zuschauerschaft, die Ostern sicher nicht vor dem Fernseher, sondern mit der Familie beim Essen oder in der Kirche verbringen wollten? Aha. ((Nickeligkeiten wie die Behauptung, die zwanzigste Wiederholung von “Stirb Langsam” habe mehr Zuschauer gehabt als die Kirchen an Ostern Gottesdienstbesucher, spare ich mir schon aus Faulheit, die tatsächlichen Zahlen herauszusuchen. Außerdem liegt es mir fern, mich über Leute lustig zu machen, die in die Kirche gehen. Ich wäre nämlich auch in der (natürlich katholischen) Kirche gewesen, war aber im Urlaub.))

Reflektierter klang da der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, der in seiner Osterpredigt Medienkompetenz einforderte, aber gleichzeitig klarstellte, dass jeder die Freiheit habe, sich bestimmte Dinge nicht anzuschauen und abzuschalten. Und das ist ein so weiser Gedanke, dass er auch Carsten Matthäus als Schlusssatz seines sehr lesenswerten Kommentars bei sueddeutsche.de diente. Eben “Abschalten”, wie schon St. Peter Lustig immer sagte.

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Gesellschaft

Im Stechschritt in den Fettnapf

Ich wollte nichts mehr über Eva Herman schreiben, wirklich nicht. Die Frau war für mich unter DBDDHKPUAKKU1 einsortiert und ich wollte zum Tagesgeschäft übergehen. Doch dann stolperte ich bei den Osthessen News über einen Tonmitschnitt ihrer Rede beim Forum Deutscher Katholiken, die ja auch schon für etwas Wirbel gesorgt hatte.

Um nicht als böswillig, sinnentstellend und gleichgeschaltet zu gelten, habe ich mir mit den Zähnen in der Tischplatte die ganze Rede angehört. Danach wusste ich zumindest, warum sie bei Kerner nicht auf die Argumente der anderen Gesprächspartner einzugehen vermochte: Sie wollte gerade ihre Rede vom Wochenende auswendig aufsagen und war nicht auf Improvisationen eingestellt.

Aus der Rede wird eines deutlich, noch deutlicher als aus ihrem Auftritt bei Kerner: Eva Herman wird nie als große Rhetorikerin in die Geschichte eingehen. Da beschwert sie sich erst, ein Halbsatz von ihr sei falsch und sinnentstellend zitiert worden und sie würde ja eh immer schnell in die rechte Ecke gerückt, und dann sagt sie allen Ernstes Sätze wie diese:

“Wir marschieren im Stechschritt durch einen anstrengenden Alltag voller Widersprüche. Wir sehnen uns verzweifelt nach Geborgenheit, Heim und Familie, und kämpfen täglich unser einsames Gefecht in der männlich geprägten Arbeitswelt.”

“Marschieren”! “Im Stechschritt”! “Einsames Gefecht”! Wer auch immer der Frau seinen Metaphern-Duden geliehen hat: Er sollte ihn schnellstens zurückfordern.

Keine zwei Minuten später:

“Sofern jemand das Wort erhebt und sich für diese Werte einsetzt, wird er bombardiert, es wird Nazilob in ihn projeziert und gleichzeitig wird er als Sympathisant dieser Ideologie öffentlich verurteilt.”

Er wird “bombadiert”? Ja hallo, geht’s denn noch? Muss sich eine Frau, der die braune Kacke nur so am Schuh klebt, denn auch noch hinstellen und aus dem riesigen Strauß sprachlicher Bilder ausgerechnet diejenigen herauspicken, auf denen “Explosive devices, do not touch” steht?

Alice Schwarzer bezeichnet sie als “Chef-Feministin”, die mitverantwortlich sei für eine der “beispiellosesten Abtreibungskampagnen auf dieser Erde” und man freut sich, dass man sich an dem Superlativ der Beispiellosigkeit festbeißen kann und gar nicht erst auf die inhaltliche Ebene hinunterklettern muss.

Frau Herman fürchtet allen Ernstes, dass “wir” aussterben und angesichts der immer schneller wachsenden Weltbevölkerung müsste sie sich eigentlich fragen lassen, wer zum Henker denn da aussterben soll. Sie kann von Glück reden, dass gerade kein böser, gleichgeschalteter Journalist vorbeikam, der ihr zynischerweise “das deutsche Volk” unterstellen wollte.

Bald sieht sie sich und die Ihrigen gar verfolgt und spätestens in diesem Moment wäre ich wohl aufgesprungen und hätte sie losgeschickt, mal fünf Minuten mit jemandem zu reden, der wirklich verfolgt wurde oder wird. Egal ob im Dritten Reich, in der DDR oder in China.

Noch was richtig unglücklich Formuliertes? Bitteschön:

“Die Statistiken, die ernüchternd sind, die Diskussion, die Ursachen und die Folgen der heutigen Kinderlosigkeit werden mich auch weiterhin dazu bewegen, diese Diskussion zu führen – da hilft auch kein Berufsverbot.”

“Berufsverbot”?! Nee, sicher: Gab’s auch alles schon vor den Nazis und hinterher natürlich auch. Zum Beispiel für die vielgescholtenen Achtundsechziger.

In den USA würde man spätestens hier den Umstand betonen, wie toll es doch sei, in einem freien Land leben zu können, wo jeder frei sprechen könne – auch Eva Herman. Und vielleicht sollte man wirklich mal die Goldwaage wegpacken, die sprachliche Ebene auf der eh nichts mehr zu holen ist, verlassen und sich dem Inhaltlichen zuwenden.

So erzählt Eva Herman die Geschichte, wie sehr die Geburt ihres Kindes ihr Leben verändert habe, und wie unvereinbar Familie für sie plötzlich mit einem Beruf schien. Man glaubt ihr das ja, man ahnt, dass man hier ganz nah dran ist an dem Knacks, den diese Frau irgendwann mal erlitten haben muss. Nur schließt sie dabei wie so oft von ihrer persönlichen Erfahrung auf andere und selbst, wenn ihr statt 700 Katholiken 700.000 zugejubelt hätten, würden mir immer noch genug Frauen einfallen, die Beruf und Familie unter einen Hut bekommen haben – offenbar ohne daran zu zerbrechen.

Man sollte ihre Meinung und vor allem ihren Glauben respektieren, sollte sie bemitleiden für die Karriere, die sie tragischerweise gemacht hat, und sie beglückwünschen dafür, dass sie für sich die “Wahrheit” entdeckt hat – so, wie man jedem Menschen wünscht, dass er nach seiner Fasson glücklich werde. Aber sie macht es einem so schwer, indem sie ihre Ansichten als unumstößliche Fakten darstellt, das Singledasein als unvollendeten Schöpfungswillen betrachtet und in einer Tour von einem “Wir” spricht, ohne je zu sagen, wer das sein soll: Alle Frauen, alle konservativen Frauen, alle paranoiden Ex-Fernsehmoderatorinnen?

Eva Hermans Weltsicht ist eine derart verquastete Melange aus Kapitalismuskritik, Schöpfungslehre und Fortschrittsfeindlichkeit, dass ich mir dagegen wie ein neoliberaler Atheist vorkomme – und so will ich mich nie wieder fühlen. Fast wäre man geneigt zu sagen, sie habe einen Urknall, wenn man sich nicht sicher sein könnte, dass sie genau den nicht hat.

1 Doof bleibt doof, da helfen keine Pillen und auch keine kalten Umschläge.

Nachtrag 13:14 Uhr: Irgendwie scheint der ganze Themenkomplex verunglückte Metaphern regelrecht anzuziehen. Diesmal ist es Franz Josef Wagner, der Kerner vorwirft, mit Herman überhaupt über das Thema Nationalsozialismus gesprochen zu haben.

Mit diesen Worten:

Das Monster Hitler sprengt unsere Tafelrunde.

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Film Politik

Die Trennung von Staat und Irrsinn

Es gibt Situationen, in denen gibt es kein “richtig” und kein “falsch”. Man steht als Unbeteiligter davor, guckt sie sich an und ist froh, dass man nicht gezwungen ist, eine Position einzunehmen. Aber man kann sich so seine Gedanken machen.

Hier ist so ein Situation: Tom Cruise will/soll/wird in “Valkyrie”, dem neuen Film von Bryan Singer, Claus Schenk Graf von Stauffenberg spielen, einen der Drahtzieher des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Cruise ist aber Mitglied bei Scientology und deshalb sind verschiedenste Personen dagegen, dass Cruise an Originalschauplätzen drehen darf bzw. Stauffenberg überhaupt spielen soll.

Uff! Da muss man sich schon eine ganze Menge Gedanken machen, um diese Situation einigermaßen zu entwirren. Gehen wir also der Reihe nach vor:

Scientology ist eine höchst umstrittene Organisation, die je nach Sichtweise als “Kirche”, “Sekte” oder “Wirtschaftsunternehmen” bezeichnet wird. Als Einführung in die Lehren von L. Ron Hubbard sei jedem dieser erhellende Ausschnitt aus der “South Park”-Folge “Trapped In The Closet” empfohlen (“This is what Scientologists actually believe”) – wobei Religionskritiker sicherlich sagen würden, die dort vorgestellte Geschichte sei auch nicht bedeutend alberner als die Erschaffung der Welt in sechs Tagen und die Entstehung der Frau aus einer Rippe des Mannes. Scientologys Methoden sind sicherlich höchst beunruhigend und eigentlich kann man die Institution nur als Gehirnwäscheverein bezeichnen. Andererseits ist nach Artikel 4 des Grundgesetzes die “ungestörte Religionsausübung” gewährleistet – und wie sollte bei einer Trennung von Staat und Kirche der Staat bestimmen können, was eine “echte” Religion ist und was nicht?

Das führt unweigerlich auch zu der Frage, ob es eine Trennung zwischen dem Schauspieler und Produzenten Tom Cruise und dem Scientologen Tom Cruise gibt. Schon 1996 rief die Junge Union zu einem Boykott von “Mission: Impossible” auf, was insofern schon eine gelungene Aktion war, als dadurch erstmalig die Methoden und Lehren von Scientology in den Focus einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland gelangten. Allein: “Mission: Impossible” hatte natürlich außer seinem Hauptdarsteller und Produzenten nicht viel mit Scientology zu tun – im Gegensatz zu “Battlefield Earth”, das auf einem Roman von L. Ron Hubbard basierte, den ebenfalls berühmten Scientologen John Travolta in der Hauptrolle hatte und als einer der schlechtesten Filme aller Zeiten gilt. Für “Valkyrie” steht unter Regisseur Bryan Singer (“X-Men”, “Die üblichen Verdächtigen”, …) indes wenig bis gar keine Verzerrung des Stoffs zu befürchten (und mal ehrlich: Wie sollte man Hubbards Science-Fiction-Welten in eine Deutschland-Anno-’44-Geschichte packen?).

Die Sektenexpertin der CDU/CSU-Fraktion, Antje Blumenthal, teilte mit, dass das Bundesverteidgungsministerium, das heute im Berliner Bendlerblock residiert, in dem Stauffenberg sein Attentat plante und wo er auch hingerichtet wurde, einen Dreh am Originalschauplatz mit der Begründung ablehne, eine Drehgenehmigung für “einen ranghohen Scientologen in einem Bundesgebäude” käme einer bundespolitischen Anerkennung gleich – und das, bevor auch nur der Antrag auf eine Drehgenehmigung vorlag. Allein dieser “Dienstweg” sollte mindestens für skeptische Blicke und Stirnrunzeln sorgen.

In der “Süddeutschen Zeitung” gab es gestern einen sehr interessanten Kommentar von Andrian Kreye und die “FAZ” druckte einen länglichen Text des deutschen Oscar-Preisträgers Florian Henckel von Donnersmarck, in dem dieser über Stauffenberg, Cruise und die “deutsche Verbotsgeilheit” philosophiert. Mitunter schießt er dabei ein wenig übers Ziel hinaus, beweist damit aber auch, dass er mit seinem Pathos und Liberalismus (sowie natürlich mit seinem beachtlichen Ehrgeiz) in den USA wirklich besser aufgehoben zu sein scheint als in Deutschland. Donnersmarck argumentiert, dass man die größten und wichtigsten Geschichten nur dann einem großen Publikum erzählen könne (und wer sollte etwas dagegen haben, Stauffenbergs Geschichte in die Welt zu tragen?), wenn man sie mit großen Stars verfilme – ein Standpunkt, für den er postwendend von Peter Steinbach, dem Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, eine drübergebraten bekam.

Im Kern hat der streitbare Donnersmarck aber sicher nicht unrecht: Mit dem ihr eigenen Fingerspitzengefühl hat es die deutsche Politik geschafft, das Thema Widerstand an den Rand zu drängen und durch das Thema Scientology zu ersetzen. Es sind sicher beides wichtige Themen, aber die Wichtigtuer aller Parteien hätten sich kaum einen ungeeigneteren Hintergrund aussuchen können, um das staatliche Verhältnis zu Religion und Kunst zu diskutieren.

Auch ich halte Scientology für gefährlich und wünsche mir (gerade angesichts der aktuellen Deutschland-Offensive) Aufklärung über deren Machenschaften und meinetwegen auch Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Ich sehe mir aber trotzdem Filme an, in denen Tom Cruise mitspielt (es gibt da ja hin und wieder auch mal gute mit ihm) – wohlwissend, dass ein Teil des Geldes, das er als Produzent damit verdient, an Scientology gehen wird. Ich kann Cruise als Person (spätestens seit seinem Auftritt bei Oprah Winfrey) kein bisschen ernst nehmen, ich halte ihn aber für einen ziemlich guten Schauspieler und er ist zweifellos einer der größten Stars unserer Zeit. Pete Doherty ist ja auch nur die Parodie eines Rock’n’Rollers und trotzdem ein guter Musiker.

Was können wir also aus der ganzen Chose lernen? Deutschen Politikern ist es egal, vor welchem Hintergrund sie sich profilieren können, solange sie dadurch in die Presse kommen. Auch die größten Filmstars der Welt können sich nicht darauf verlassen, überall reinzukommen. Schauspieler können noch so gut spielen, sie bleiben auch immer sie selbst. Florian Henckel von Donnersmarck wollte sich als Zehnjähriger im Garten von Marion Yorcks Dahlemer Villa das Hemd ausziehen. Und: Es gibt Situationen, in denen es weder “richtig” noch “falsch” gibt, und bei denen man froh sein kann, dass man nicht gezwungen ist, eine klare Position einzunehmen.

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Musik

Gott und die Welt: Ein Interview mit James Dean Bradfield

Morgen erscheint “Send Away The Tigers”, das achte Album der Manic Street Preachers (ausführliche Besprechung folgt). Zeit, für ein Gespräch mit deren Sänger James Dean Bradfield.

Das letzte Manics-Album “Lifeblood” wurde von der Kritik und den Hörern nicht so gut aufgenommen. Waren die Soloprojekte von Dir und Nicky der Versuch, neue Energie für die Manics zu sammeln?

Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir nach den Reaktionen auf „Lifeblood“ eine Auszeit nehmen mussten. Wir hatten das Gefühl, irgendwie unsere Perspektive verloren zu haben, und wussten zum allerersten Mal nicht, was wir als nächstes tun wollten. Ich denke, dass unsere Soloprojekte neues Leben in die Manics gebracht haben. Die neuen Songs klingen sehr lebendig und nach Rock’n’Roll. Sie sind viel optimistischer, seit ich dieses Soloding gemacht habe.

Wenn wir über Perspektiven sprechen: Ihr habt Millionen von Platten verkauft und zum Jahreswechsel 1999/2000 eine riesige Show im Millennium Stadium in Cardiff gespielt – wie motiviert man sich nach solchen Aktionen wieder, neues zu machen?

Wenn ich je Schwierigkeiten hätte, mich selbst zu motivieren, würde ich aufgeben. Es ist verdammt einfach, sich für eine Show wie die im Millennium Stadium zu motivieren – eigentlich für jede Show. Ich mache das jetzt, seit ich 15 war, und es war mir von Anfang an klar: Ich finde nicht viel Katharsis im Songwriting, aber sehr viel, wenn wir spielen. Für mich ist Katharsis, wenn das Emotionale auf das Körperliche trifft. Und deshalb liebe ich es, Konzerte zu spielen. Selbst, wenn es ein Konzert ist, das ich nie spielen wollte, ist es für mich das einfachste auf der Welt, motiviert zu sein.

Ihr wart immer und seid auch heute noch eine sehr politische Band. Wie ist das in Zeiten, wo immer noch kein Frieden im Nahen Osten herrscht und die Menschen fast überall gegen soziale Einschnitte protestieren: inwiefern hat das die neuen Songs beeinflusst?

Ich denke, die letzten fünf, sechs Jahre waren für die politische Linke die größte Herausforderung, der sie sich je stellen musste. Die zentrale Frage lautet, ob sie an die Demokratie glauben oder einen Gottesstaat gutheißen. Die Linken haben Religion immer gehasst, eines ihrer Grundprinzipien lautet, dass Religion das Opium des Volkes ist. Die Mischung von Staat und Kirche ist eine Todsünde für die Linke.
Im Irak hatten wir plötzlich die Situation, dass eine Theokratie gestürzt wurde, aber eine imperialistische amerikanische Macht hat sie ersetzt. Ich glaube, dass hat die Linke sehr verwirrt im Hinblick darauf, was sie will. Dabei geht es weniger um die Kriege an sich, sondern viel mehr um das Selbstverständnis der Linken.