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Leben

Das Amt

Die ausgeklügelte deutsche Bürokratie ist sicher nur erfunden worden, damit Kolumnisten und Kabarettisten sich darüber aufregen und Lehrer mit Adolf-Sauerland-Bärten und Lederwesten “ja, genau” rufen können.

Anders gesagt: Ich brauchte einen neuen Reisepass. Im Mai geht’s nach Aserbaidschan und der alte Pass ist im vergangenen Juli abgelaufen. Außerdem brauche ich einen Ort, wo ich meine weitgehend ungenutzte “Miles & More”-Karte der Lufthansa deponieren kann, und da hat sich der Reisepass in der Vergangenheit als guter Platz erwiesen. Braucht man ja dann eh beides zusammen.

Über Wochen habe ich mich aus zwei Gründen um dieses Vorhaben gedrückt: Erstens meine Abneigung gegenüber Warteräumen aller Art, zweitens das Passfoto. “Vielleicht doch erst zum Friseur”, habe ich gedacht, aber da hätte ich unter Umständen wieder warten müssen, also hab ich es gar nicht erst versucht und einfach auf einen Good Hair Day gewartet. Die Sonne schien, das Radio hatte mich am Morgen mal nicht mit Nickelback begrüßt, die Haare taten nach dem Duschen ungefähr das, was ich von ihnen erwartet hätte, kurzum: Es war die Gelegenheit, die verdammten Fotos machen zu lassen und den Reisepass in Angriff zu nehmen.

Tatsächlich gelang es den Mitarbeitern im örtlichen Fotografiefachgeschäft, ein biometrisches Bild von mir anzufertigen, auf dem ich ausnahmsweise nicht wie ein soeben festgenommener Serienkiller oder Journalist aussehe. Im Zweifelsfall könnte ich die überzähligen Passbilder sogar meinen Großeltern zu Weihnachten schenken, wenn mir mal wieder nichts einfällt. Im Prinzip ist das aber eh egal, denn das schlimmste Foto, das jemals von mir angefertigt wurde, ziert eh meinen Führerschein, der nie erneuert werden muss.

Dann ging ich ins Rathaus zum Bürgerbüro, zog eine Nummer und längst verdrängte Erinnerungen stiegen in mir wieder auf. Daran, wie ich vor acht Jahren bei meinem Umzug nach Bochum gefühlte vier Stunden hatte warten müssen. Oder daran, wie ich bei der Beantragung eines neuen Personalausweises nach einstündiger Wartezeit darüber informiert wurde, dass mein Passfoto nicht den Anforderungen entsprechen würde. ((Ich ging am nächsten Tag einfach in eine Zweigstelle des Bürgerbüros, wo das selbe Foto anstandslos akzeptiert wurde.)) Doch diesmal war ich vorbereitet: Ich hatte Buch und Kopfhörer dabei und mich vorher informiert, wo ich mich fußläufig mit Lebensmitteln, Getränken und Bettdecken versorgen könnte.

Ich hasse, wie gesagt, Warteräume aller Art. Dabei ist es weitgehend egal, ob am Ende der Wartezeit eine zahnärztliche Behandlung, ein Langstreckenflug oder der Versuch ansteht, einen Reisepass zu beantragen. Beim Warten denke ich die ganze Zeit daran, wie schön ich zur gleichen Zeit zuhause vor meinem Computer oder Fernseher (oder beidem) hocken und meine Zeit nach eigenem Ermessen verschwenden könnte. Außerdem habe ich tief in mir eine latente Angst vor dem deutschen Bürokratieapparat. Ich male mir immer aus, dass ich beim letzten Umzug irgendein Formular falsch ausgefüllt haben könnte und jetzt offiziell als tot gelte, wobei auch noch eine mir unbekannte Person Witwenrente bezieht, weil die ihr Formular ebenfalls nicht korrekt ausgefüllt hatte und die Dame vom Amt dann noch irgendwas durcheinandergebracht hat.

“Es warten 15 Personen vor Ihnen”, hatte mich der Zettel mit meiner Nummer drauf (“Auf keinen Fall verlieren!”) informiert. Nach zwanzig Minuten waren davon fünf aufgerufen worden und ich suchte schon mal unauffällig nach dem geeignetsten Schlafplatz in diesem Warteraum, der den Charme eines unterirdischen Eiscafés versprühte, dessen Einrichter als einzige Anweisung erhalten hatten, dass die Möbel auch bei einem eventuellen Einsatz als Schlagwaffe nicht kaputtgehen und darüber hinaus leicht abzukärchern sein sollten. Auf einem Flachbildschirm wurden die Nummern angezeigt und die Tische, an die man sich zu begeben hatte, auf einem Flachbildschirm daneben liefen Bilder vom schönsten Ort Bochums, dem Westpark. Damit der Drang, sofort rauszurennen, nicht zu groß wurde, hatte man die Aufnahmen aber sicherheitshalber im Winter angefertigt, als die Bäume noch kahl waren. Gerade als die Zufallswiedergabe meines Handys “Fickt das System” von Die Sterne spielte, leuchtete meine Nummer auf und ich machte mich unter Zuhilfenahme all meiner Jacques-Tati-Imitationskünste auf die Suche nach Tisch 6.

Ich trug der Sachbearbeiterin mein Anliegen vor und während sie die nötigen Unterlagen ausdruckte, stellte ich wieder mal fest, was für ein zynisches, menschenverachtendes Konzept diesen Bürgerbüros, die Ende der 1990er Jahre überall aus dem Boden gestampft wurden, doch zugrunde liegt: Während ich in der Apotheke mit Markierungen auf dem Boden aufgefordert werde, Diskretion zu wahren, sitzt hier in diesem völlig offenen Bürgerbüro zwei Meter neben mir ein Mann, der sich in einer von Franz Kafka höchselbst ersonnenen Logikschleife befindet, und alle Umsitzenden kriegen jedes Wort mit. Dass er seinen beantragten Personalausweis nicht bezahlen kann, weil er kein Konto hat, aber kein Konto eröffnen kann, weil er keinen gültigen Personalausweis besitzt. Der dicke Sachbearbeiter sagte, er könne da auch nichts machen, der Mann wurde lauter und verließ irgendwann unter mittellautem Fluchen das Bürgerbüro. Meine Sachbearbeiterin warf mir einen vielsagenden Blick zu und ich schickte spontan ein Stoßgebet zum Lieben Gott, dass ich bitte niemals eine Arbeitsagentur von innen sehen möge.

Dann musste ich Formulare ausfüllen, wofür es unter anderem notwendig war, dass ich mich erinnerte, ob ich den Streitkräften eines anderen Landes gedient hatte. Da ich mir sicher war, den Dschungel-Einsatz mit der Fremdenlegion nur geträumt zu haben, kreuzte ich “Nein” an. Dann musste ich auf einem Ausdruck unterschreiben: “Sie können das ganze Feld nutzen, aber nicht in den schwarzen Bereich reinschreiben!” Zum Glück kann man das Formular offenbar mehrfach ausdrucken.

An einer Stelle musste ich kurz auf meinem Handy nachsehen, ob wir tatsächlich das Jahr 2012 hatten, denn ich wurde Zeuge eines beeindruckenden Beispiels für die sogenannte Medienkonvergenz: Die Sachbearbeiterin nahm das Foto, das der Mann vom Fotoladen (nennen wir ihn Herrn Ärmel) zuvor mit einer Digitalkamera von mir gemacht und auf Fotopapier ausgedruckt hatte, klebte es auf das Blatt Papier, auf dem ich gerade unterschrieben hatte, und legte dieses Blatt auf einen Scanner. Nach einer halben Minute war mein Foto im System, die Frau knibbelte es wieder von dem Papier ab und gab es mir zurück. Ich hatte 13 Euro für vier Fotos bezahlt, von denen ich nur eines brauchte, und das auch nur für eine halbe Minute.

Erstaunlicherweise holte sie dann aber kein Stempelkissen hervor, um die Abdrücke meiner Zeigefinger erst auf einem Blatt Papier zu nehmen und dann einzuscannen – Nein! – zu ihrem Arbeitsplatz gehört (wie zu mutmaßlich allen anderen Arbeitsplätzen in diesem riesigen Raum) ein Fingerabdruckscanner, mit dem sie die Linien auf meinen Fingerkuppen direkt in ihr System übertragen konnte. Die Abdrücke würden weder bei ihr noch in der Bundesdruckerei dauerhaft gespeichert, spulte sie die Datenschutzerklärung ab, sie würden lediglich auf einem Chip im Pass gespeichert. Ich nickte und verzichtete auf den Scherz, dass ich meinen Pass als erstes in die Mikrowelle legen würde.

Es ging ans Zahlen und ich war froh, mir vorab auf der Internetseite der Stadt Bochum die Preisliste angeschaut zu haben. ((Wie auch immer ich die gefunden haben mag.)) 59 Euro kostet so ein Reisepass für zehn Jahre, dafür bekommt man in Oslo zum Beispiel ein Eis. In etwa drei Wochen muss ich wieder hin und meinen Pass abholen. Dafür muss ich dann “eine Siebenhunderter-Nummer” ziehen, mit denen man direkt zur Abholstelle vor darf.