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Blutig: Noch ein Medium durch!

Fernseher (unter CC-Lizenz von Walt Jabsco)

Ich wollte nicht über Marcel Reich-Ranicki und seinen Auftritt beim Fernsehpreis schreiben. Andere Leute haben eine Vielzahl von klugen Texten geschrieben, die ich alle auf ihre Weise nachvollziehen kann.

Aber erstens ist dieses Land eh über Nacht zu einer Nation von 82 Millionen Medienkritikern geworden, ((Heute Abend werden’s dann aber wieder 82 Millionen Fußballtrainer, versprochen!)) und zweitens haben mich die Reaktionen der Fernsehleute jetzt, da sich der erste Staub gelegt hat und der wütende, alte Mann nicht mehr in Hörweite ist, wahnsinnig gemacht. Die “Frankfurter Rundschau” hat einige davon dokumentiert, “Bild” und die “Netzeitung” ebenfalls.

Es ist unfassbar: Medienschaffende, Journalisten gar, ((Und das schreibe ich ohne Gänsefüßchen und Ironie.)) befinden sich plötzlich in der Situation, dass ihr Medium kollektiv abgewatscht und für scheiße befunden wird. Ja, “Willkommen im Club”, kann ich da nur sagen, denn als Blogger passiert einem das regelmäßig.

Nur sind die meisten Blogger Amateurpianisten auf der medialen Klaviatur, weswegen wir immer noch ständig in Rechtfertigungsgestammel verfallen. Fernsehmacher hingegen sollten Profis sein — und entsprechend reagieren. Das heißt, sie stellen sich entweder selbstbewusst hin und sagen: “Ja, kann schon sein, dass wie hier Mist machen. Aber die Leute mögen es und auch wir können noch jeden Tag in den Spiegel gucken, lasst uns doch den Spaß”, ((Was bizarrerweise nah dran ist an dem, was ausgerechnet Marco Schreyl am Samstag getan hat.)) oder sie glauben an den Anspruch ihres Programms und haben ein trotziges “Aber wir machen doch gar keinen Mist!” nicht nötig. Überhaupt hätte mal jemandem dem Herrn Literaturkritiker entgegenhalten können, dass es ja nicht nur Bücher von Thomas Mann und Bertolt Brecht gibt, sondern auch welche von Uta Danella und Ken Follett.

WDR-Intendantin Monika Piel will sich jetzt dafür einsetzen, dass in der ARD Kulturveranstaltungen vermehrt zur Primetime gesendet werden. Es ist wie im (mutmaßlich sehr schlechten, von mir nach der Betrailerung ungesehen) Film “Free Rainer”, wo Arte plötzlich Mörder-Einschaltquoten hat. ((Und dessen Start vor elf Monaten schon einmal eine Mini-Qualitätsdiskussion durchs Dorf getrieben hatte.)) Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das nicht will. Ich will kein “Faust II” nach der “Tagesschau”, ich will nur, dass das normale Programm ein bisschen weniger lieblos und Zuschauerverachtend ist. Wenn ich mich mit Literatur befassen will, höre ich mir Germanistikvorlesungen an. ((Und Sie können das via Podcast sogar auch.))

Unterhaltungssendungen müssen kein Bildungsfernsehen sein, ((Es wäre schlimm, wenn’s so wäre.)) aber man kann auch gute Unterhaltung machen. Gerade deshalb ist der Preis für “Deutschland sucht den Superstar” ein Skandal, weil es eine lieblose, handwerklich allenfalls solide Show ist, die sich über ihre eigenen Hauptfiguren lustig macht. Wie gute Unterhaltung funktioniert, haben “Ich bin ein Star – holt mich hier raus!” und “Das perfekte (Promi-)Dinner” bewiesen, bei denen Bild- und Tonschnitt, Musikauswahl und Kommentar ein stimmiges Gesamtbild ergeben.

Barbara Schöneberger hat bei Reinhold Beckmann ((Oh, diese Geschichte ist so voller Ironie, man hätte es sich nicht ausdenken können!)) gesagt, man könne auch nicht ins Fußballstadion zu Hertha gehen und dann fragen, warum die Berliner Philharmoniker nicht da seien. Aber wenn ich ins Fußballstadion gehe, erwarte ich, dass da Fußball gespielt wird. Und nicht, dass Mario Gomez am Ball vorbei tritt, oder Borussia Mönchengladbach einen 0:1-Rückstand zu verwalten versucht. Eine Fernsehpreisverleihung sollte, wenn schon keine Sternstunde des Fernsehjahres, dann wenigstens nicht ihr Tiefpunkt sein. Aber wie auf Kommando erscheint beim Stichwort “Tiefpunkt” eben Atze Schröder in Kapitänsuniform auf der Bühne.

Bei der ganzen Diskussion wird mal wieder ein Medium mit seinen Inhalten verwechselt. Je länger ich über Marshall McLuhans berühmten Ausspruch nachdenke, wonach das Medium die Botschaft sei, desto abwegiger finde ich ihn. Goethe soll “Wandrers Nachtlied (Ein Gleiches)” in die Wand einer Holzhütte auf dem Kickelhahn geritzt haben — und zweifellos hat es doch einen höheren kulturellen Wert als so ziemliche jedes andere Graffito, das in Deutschland in den letzten 250 Jahren eine Bretterwand geziert hat.

Das Symbolbild ist von Walt Jabsco und wird hier unter CC-Lizenz verwendet.

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Peking 2008 – Der Versuch einer Bilanz

Natürlich habe ich mir die Olympischen Spiele im Fernsehen dann doch angesehen. Die Diskussion mit mir, ob das moralisch vertretbar sei, dauerte letztlich wenige Sekunden. Ich gucke halt gerne Sport im Fernsehen und da kann mich relativ wenig von abhalten. Als langjähriger begeisterter Tour-de-France-Gucker bin ich es gewohnt, mit dem Risiko zu leben, gerade ganz massiv von dopenden Sportlern verarscht zu werden. Nennen Sie es abgebrüht, zynisch oder sonst irgendwas, aber es gibt immer genug, was einen für solche Finsternissen entschädigt.

Über China mag ich mir kein Urteil erlauben. Natürlich würde ich mir wünschen, wenn das, was wir Menschenrechte nennen, überall gelten würde, aber ich verstehe nichts von China. Und weil es mich so aufregt, wenn ahnungslose Menschen über die USA, das einzige Land neben Deutschland, in dem ich mal mehr als vier Wochen am Stück verbracht habe, reden, will ich nicht ahnungslos über China reden. Es könnte zum Beispiel meinen besten Freund aufregen, der schon mehrfach für längere Zeit in China war.

Was ich mir zu beurteilen anmaße, sind die Ankündigungen, die die chinesische Führung gegenüber dem IOC gemacht und nicht eingehalten hat. Zu einem gepflegten Vertragsbruch gehören aber zumindest in diesem Fall zwei: die, die verarschen, und die, die sich freundlich lächelnd verarschen lassen und anschließend das großartige und gründliche Vorgehen der Verarschenden beim Verarschen loben.

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[via Stefan]

Anders ausgedrückt: Dem chinesischen Funktionär in diesem beeindruckenden Videodokument nehme ich ab, dass er das, was er da erzählt, aus tiefster Überzeugung glaubt. Es ist wie bei Wolfgang Schäuble oder Papst Benedikt XVI.: diese Männer haben eine Überzeugung, die über Jahrzehnte in ihnen gereift ist, die ich nicht teilen kann, die sie aber mit einer Vehemenz vertreten, die mir Respekt abnötigt. Und dann ist da die IOC-Funktionärin, die sich kritischen Journalistenfragen auf unsouveränste Art verweigert. Sie lernt gerade erst, fundamental und weltfremd zu werden, und ist in ihrem Stoizismus kein Stück beeindruckend, sondern nur peinlich. Sie ist vergleichbar mit der Partei “Die Linke” oder dem Verein “Kinder in Gefahr”.

Von der Eröffnungsfeier habe ich wegen des Haldern Pop leider nichts mitbekommen. Dass dort auf verschiedene Weise getrickst wurde, ist mir aber auch egal: es handelt sich um eine Show. Natürlich um eine politische (die ganzen Spiele waren ja eine politische Demonstration des chinesischen Regimes), aber das macht sie nur noch mehr zur Show – und bei Shows darf man tricksen, Playback singen und Windeln tragen. Menschlich gesehen ist es natürlich unmöglich, einem kleinen Mädchen zu sagen, sie sei zu hässlich für ein Milliardenpublikum.

Aber reden wir über die, um die es eigentlich ging, reden wir über die Sportler: Wie es sich gehört, habe ich neue Helden gefunden – den sympathischen Vielseitigkeitsreiter und Zahnarzt Hinrich Romeike und den mindestens genauso sympathischen Gewichtheber Matthias Steiner, zum Beispiel. Ich bin auch naiv genug zu glauben, dass Michael Phelps seine acht Goldmedaillen auf legalem Wege gewonnen hat. Wenn er halt den idealen Körperbau hat und so präzise trainiert – warum sollte er dann nicht schneller schwimmen können als ich laufen kann? Auch bei Usain Bolt muss ich bis zum Beweis des Gegenteils annehmen, dass er so schnell ist – die Goldmedaille im 100-Meter-Lauf hätte ich ihm trotzdem wegen grober Unsportlichkeit und Verhöhnung der Konkurrenten aberkannt.

Sportkonsum im Fernsehen geht leider nicht ohne Sportreporter. Während der Kommentator beim Dressurreiten seine Arbeit gleichsam zur literarischen Performance ausbaute, war der Rest größtenteils zum In-die-Tonne-Kloppen. Béla Réthy zum Beispiel durfte beim Damen-Hockey endlich mal zeigen, dass er nicht nur unfassbar viel Mist reden kann (das kennt man von Fußballländerspielen), sondern auch unfassbar viel chauvinistischen Mist. Michael Antwerpes entpuppte sich als Beckmann für Arme, als er im Talk mit Matthias Steiner minutenlang auf einem privaten Schicksalsschlag des Sportlers herumritt und bei der (sinngemäßen) Antwort “die Journalisten wollen das eben immer wieder hören” übersah, wie der stärkste Mann der Welt gerade vor seinen Augen mit der chinesischen Mauer winkte. Zum Glück für Antwerpes gibt es aber immer noch Castor Beckmann und Pollux B. Kerner, die Not der ARD und das Elend vom ZDF, die bequem alles unterkellern, was bisher als unterste Talsohle des Niveaus gegolten hatte. Kerner hatte man auch noch Katrin Müller-Hohenstein zur Seite gestellt, was viele Vergleiche mit Marianne und Michael zuließe, wenn man letztere damit nicht böse verunglimpfen würde. Deshalb nur so viel: Bis Waldi Hartmann nicht mehr negativ auffällt, muss schon eine Menge Mist gesendet worden sein. Und Harald Schmidts Karriere kann man jetzt auch in einem Wort zusammenfassen: “vorbei”.

Wenn es wenigstens nur die unfähigen Hallodri (wie konnte ich Michael Steinbrecher vergessen?) vor Kamera und Mikrofon gewesen wären – aber auch technisch lief es bei ARD und ZDF ja alles andere als rund. “Ja, das ist halt live”, flötete dann die jeweils aktuelle Föhnwelle in die Kamera – ganz so, als sei es noch 1969 und Peter Frankenfeld versuche gerade die erste Eurovisionsschalte zum Mond. Aber die beiden Sender hatten mit 500 Leuten erstens die größte Delegation von allen und zweitens war das ja gar nicht alles live: Wüst wurde zwischen live und live on tape hin- und hergeschaltet, wurden Dinge wiederholt, die man schon gesehen hatte, wurde plötzlich wieder irgendwohin gesprungen, ohne dass der Zuschauer noch wusste, was jetzt wann und wo passiert war. Da verließ man dann schon mal in der 84. Minute (und vor dem entscheidenden Tor) ein Fußballspiel der deutschen Damenmannschaft, um ein aufgezeichnetes Halbfinale im Fechten zu zeigen. Der Fechtverband habe sich wohl beschwert, hörte man es munkeln.

Zwar hatten sich ARD und ZDF Mühe gegeben, via Internet und ihre obskuren Digitalkanäle möglichst viel gleichzeitig anzubieten, aber ich bin mir sicher: London 2012 werden zumindest die interessierten Zuschauer ganz anders erleben. Mit einer eigenen digitalen Senderegie für jeden, wo man sich mehrere Sachen gleichzeitig ansehen kann, live oder zeitversetzt, mit Kommentar oder mit Originalatmosphäre. Ich würde dafür einiges an Geld bezahlen.

Zu guter letzt war es natürlich so wie immer: ich saß da, fieberte mit den Athleten mit, freute mich über die Stimmung und fragte mich, wie ich als absolut unsportlicher Mensch wohl auch mal eine Medaille bei Olympischen Spielen gewinnen könnte. Ich werde mir demnächst mal einige Schießclubs ansehen, vielleicht sind Luftpistole oder Bogen ja was für mich.

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Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!

Nun ist diese Fußball-EM also auch schon wieder vorbei. Deutschland hat sie nicht gewonnen (was zu erwarten war), ist aber Zweiter geworden (was nicht zu erwarten war).

Somit ist es Zeit für den Coffee-And-TV-EM-Rückblick:

Die Gastgeber
Legen wir ausnahmsweise mal, was wir bei der Hymne nie tun würden, die Hand aufs Herz: Schweizer und Österreicher gelten den Deutschen ja irgendwie als die etwas weltfernen Stiefcousins. Die, die so ähnlich wie wir reden, aber doch anders, und die, die beruhigenderweise immer noch schlechter Fußball spielen als die Deutschen.

Entsprechend war es dann auch das erste wichtige Turnier, bei dem alle Gastgeber die Vorrunde nicht überstanden, was wohl auch die Stimmung vor Ort etwas trübte. Von Österreich und der Schweiz bekam man im Fernsehen leider viel zu wenig mit, die Bilder aus den Innenstädten hätten auch in Dresden, Hannover oder einer anderen deutschen Stadt, in der ich noch nie war, gedreht sein können. Doch gestern nach dem Finale wurde klar: die Gastgeber waren die bescheidenen kleinen Brüder von Deutschland 2006. Alles war ein bisschen gedämpfter, stilvoller.

Die Favoriten
Ja, das war etwas merkwürdig: Mein Europameistertipp Tschechien überstand die Vorrunde ebensowenig wie meine Lieblingsmannschaft Schweden, die Italiener retteten sich mit Mühe und Not gegen die dann ausgeschiedenen Franzosen über die Gruppenphase, und Griechenland bewies endlich, dass der Gewinn der EM vor vier Jahren wirklich nur ein Betriebsunfall der Fußballgeschichte gewesen war. Vorher hatten sie uns allerdings mit dem 0:2 gegen Schweden eines der grauenhaftesten Spiele des Profisports geboten.

Nachdem sie in der Vorrunde den Weltmeister, den Vizeweltmeister und schließlich mit einer B-Mannschaft auch noch die Rumänen in Grund und Boden gedemütigt hatten, galten die Holländer als klarer Favorit, was sich alsbald als die bei diesem Turnier unliebsamste Rolle herausstellte: Zack!, brachen sie gegen die Russen ein wie eine labbrige Fritte im Nordseesturm. Von allen Gruppenersten schaffte es gerade mal Spanien, sich nach einem freudlosen Spiel gegen die Italiener durchzusetzen – aber auch nur, weil deren Elfmeterglück nach dem Berliner WM-Finale bis mindestens 2044 aufgebraucht ist. Portugal scheiterte an den Deutschen, die zur Überraschung aller ein gutes Spiel ablieferten, die Kroaten, die wirkten als hätte man ihnen das mit Elfmeterschießen erst nach Ende der Verlängerung erklärt, scheiterten letztlich an der unfassbaren Last-Minute-Macht der Türken.

Um die dem Turnier innewohnende Tragik auf die Spitze zu treiben, erwischte es im Halbfinale ausnahmsweise mal die Türkei in der letzten Minute, woraufhin Deutschland versehentlich im Finale stand, in das am Folgetag die Spanier einzogen. Auch Guus Hiddinks Russen, die sich im ersten Gruppenspiel gegen Spanien trickreich totgestellt und danach alles dominiert hatten, konnten die Iberer (Sportjournalismus geht nicht ohne Thesaurus) nicht mehr stoppen.

Im Finale musste Spanien nur noch Deutschland schlagen, was dann auch kein Problem mehr war, weil die Deutschen neben Philipp Lahm und Jens Lehmann ausschließlich Doppelgänger ihrer Stammelf aufgestellt hatten. Beim einzigen Gegentor kamen sich konsequenterweise Lahm und Lehmann in die Quere.

Dies Spanier wurden völlig verdient Europameister und bewiesen bei der Pokalübergabe auch noch, dass sie deutlich besser erzogen sind als die Italiener, die sich den Cup vor zwei Jahren einfach selbst verliehen hatten. Michel Platini wirkte wie ein Lehrer auf Klassenfahrt, als er inmitten der spanischen Spieler die am wenigsten hässliche Sporttrophäe der Welt (man ist ja schon für Kleinigkeiten dankbar) Iker Casillas in die Hand drückte.

Deutschland
Die eigentliche Sensation ereignete sich bereits am 8. Juni: Deutschland gewann ein EM-Spiel. Viel mehr hatten sich Joachim Löw und seine Mannschaft wohl nicht vorgenommen, weswegen man im darauffolgenden Spiel gegen Kroatien einfach mal alles (außer dem eigenen Harn) laufen ließ. Ich habe glücklicherweise die zweite Halbzeit verschlafen und wurde erst pünktlich zur roten Karte gegen Bastian Schweinsteiger wieder wach. Vermutlich zum letzten Mal in der Nationalmannschaft gesehen haben wir David Odonkor, bei Mario Gomez wird sehr, sehr viel Aufbauarbeit nötig sein.

Gegen Österreich erlebte man endlich wieder die klassische deutsche Turniermannschaft wie bei der EM ’96 oder der WM 2002: schwach spielen, hinten sauber halten, vorne eine Standardsituation ausnutzen, weiterkommen. Gegen Portugal siegte dann Bastian Schweinsteiger im Alleingang, wie er das jetzt offenbar immer gegen Portugal machen will, und gegen die Türkei war Deutschland so unfassbar schlecht, dass es einzig und allein dem grundsympathischen Philipp Lahm und dessen Siegtor zu verdanken war, dass ich mir das Finale überhaupt ansehen wollte. Das Trauma des Halbfinals, dass man sich über einen völlig unverdienten Sieg freuen sollte, wiederholte sich gestern Abend dann zum Glück nicht: Nach zehn Minuten Fußball wollte das Deutsche Team auch mal “was mit Rasen” machen und servierte den Spaniern die Torchancen auf einem Silbertablett mit Platinintarsien. Wenn man der spanischen Mannschaft einen Vorwurf machen kann, dann den, dass ihre Chancenausbeute genauso schlecht war wie bei allen anderen Mannschaften ab dem Viertelfinale. Ich möchte hiermit die neue Regel vorschlagen, dass, wenn zwei Mannschaften es nicht schaffen, innerhalb von 120 Minuten wenigstens ein Tor zu schießen, einfach beide aus dem Turnier ausscheiden.

Nicht unerwähnt bleiben sollte Angela Merkel, die im Stadion nicht nur die wichtigste Entscheidung ihrer bisherigen Amtszeit traf (Bastian Schweinsteiger motivieren), sondern auf der Tribüne und im Interview einmal mehr ihren Fußballsachverstand bewies. Ich möchte sie hiermit ganz ehrlich als kommende DFB-Präsidentin vorschlagen, was sicher auch im Hinblick auf 2011 ein schönes Signal wäre.

Regeln & Schiedsrichter
Die schon länger bestehende Regelung, dass in der Gruppenphase bei Punktgleichheit der direkte Vergleich zähle, sorgte dank des gut ausgearbeiteten Spielplans dafür, dass gleich drei Gruppensieger schon vor dem letzten Spiel feststanden, weswegen sie entsprechend mit einer B- bis C-Mannschaft (Oma der Nachbarin des Busfahrers) aufliefen. Andererseits gab es so in jeder Gruppe ein Endspiel um den zweiten Tabellenplatz. Das zwischen der Türkei und Tschechien schrieb Fußballgeschichte, als die Tschechen es in den letzten Spielminuten nicht schafften, den Ball auch nur in die Nähe des türkischen Tores zu schlagen, in dem seit der roten Karte gegen den türkischen Torwart ein Feldspieler stand. Außerdem gab es noch eine gelbe Karte für einen Ersatzspieler auf der Bank.

Die WM 2006 hatte den unverdienten Elfmeter der Italiener (ja, ich weiß, dass das ein Pleonasmus ist) gegen die Australier und die drei gelben Karten gegen Josip Simunic in einem Spiel, ist mir aber sonst nicht durch größere Schiedsrichter-Inkompetenzen in Erinnerung geblieben. Diesmal war es anders: die Fehlentscheidungen häuften sich und bei manchen Szenen fragte man sich, ob man – so das wirklich die Elite der europäischen Unparteiischen sein sollte – in Zukunft bei einer EM nicht besser Kollegen aus Trinidad und Tobago einfliegen sollte. Gab es vor Spielen Geschrei um die Nationalität eines Schiedsrichters (der Deutsche bei Spanien – Italien, der Schweizer bei Deutschland – Türkei, der Italiener im Finale), gaben sich diese größte Mühe, die Bedenken zu zerstreuen, in dem sie konsequent gegen die von ihnen vermeintlich bevorzugte Mannschaft pfiffen. Nur beim Handspiel Lehmanns an der Strafraumlinie bei erschöpftem Auswechselkontingent zwanzig Minuten vor Schluss kam den Deutschen mal die Inkompetenz des Schiri-Gespanns entgegen.

Der Tiefpunkt war da freilich schon lange erreicht gewesen: die Verbannung beider Trainer auf die Tribüne im Spiel Österreich – Deutschland war eine gefährliche Mischung aus den Ego-Problemen des sogenannten vierten Offiziellen und der Unentspanntheit des spanischen Schiedsrichters. Die UEFA bewies Humor, indem sie beide Trainer für je ein Spiel sperrte und eben jenen Spanier im Viertelfinale gegen Portugal als vierten Mann aufstellte. Wo er dann auch kurz davor stand, wenigstens den portugiesischen Trainer auf die Tribüne schicken zu lassen.

Immerhin eine Schiedsrichter-Entscheidung blieb positiv in Erinnerung: im Spiel Holland – Italien wusste der Schiedsrichter, dass das vermeintliche Abseitstor keines war (also kein Abseits, ein Tor war es ja sehr wohl).

Fernsehen
Schlimmer als Schiedsrichter und Deutsche waren immerhin noch die Leute, die uns den Fußball ins Haus bringen: es ging gar nichts. Nichts.

Béla Réthy, von den Printkollegen merkwürdigerweise immer über den grünen Klee gelobt, nervt nur. Er redet in einem fort, nur als im Halbfinale plötzlich das Bild ausfiel und man auf sein Gequassel angewiesen war, wurden seine Sätze knapper. Tom Bartels kann selbst Fußballkrimis zum Sandmännchen degradieren, so dass man gestern Angst haben musste, die deutschen Spieler hätten versehentlich seinen Kommentar aufs Ohr bekommen und seien deshalb so müde. Steffen Simon ist einer dieser Menschen, die beim Italiener “brusketta” und “jnokki” bestellen, weil sie mal ein Semester in der Volkshochschule waren. Besonders peinlich wurde es immer dann, wenn er einen ausländischen Namen zum gefühlt hundertsten Mal vorgeturnt hatte, und man anschließen den muttersprachlichen Stadionsprecher etwas ähnliches, aber doch ganz anderes sagen hörte. Wie wohltuend bodenständig war dagegen Wolf-Dieter Poschmann, der alles so aussprach wie man’s schreibt.

Beckmann und Kerner gehen per se nicht, in keiner Rolle und auf keinem Sender, mit Netzer und Delling sollte langsam auch mal gut sein, Jürgen Klopp ist mir unsympathisch. Urs Meyer geht, der großartige Mehmet Scholl kam bei Beckmann (s.o.) nicht wirklich zur Entfaltung. Monika Lierhaus wirkte bei den Trainerinterviews immer wie Kai Diekmann bei der Papstaudienz (außer in dem unpassenden Moment, wo sie endlich mal journalistisch wirken wollte) und Katrin Müller-Hohenstein … ach ja. Als ich es einmal nicht mehr aushielt mit Béla Réthy und im Radio weiterhören wollte, war dort grad Sabine Töpperwien am Mikrofon und relativierte wieder einiges, wenn auch nicht alles, was ich schlechts über Réthy zu sagen hätte.

Es sei an dieser Stelle nur noch einmal darauf hingewiesen: diese Kommentatoren, Moderatoren und sonstigen Sportjournalistendarsteller werden von uns allen bezahlt. Gutes Personal ist halt schwer zu finden.

Die Fans
Was soll das eigentlich mit diesem “Schland” und wann und wo hat das angefangen? An die Beflaggung von Wohnhäusern und Automobilen hat man sich zwei Jahre nach der Geburt des “positiven Patriotismus” inzwischen gewöhnt, die Reichsparteitagsverweise sind längst nur noch Brauchtum und Ironie.

Wie undogmatisch die Deutschen sind zeigte sich immer wieder, wenn die gleichen Leute, die morgens beim “Bild”-Kauf über die Benzinpreise jammerten, Abends beim Autokorso (nach dem Österreich-Spiel!) den Gegenwert eines Finaltickets in den Innenstädten verbrannten. Auch die Boulevardpresse schaffte diesen Spagat, indem sie vor dem Halbfinale gegen die Türkei gleichzeitig zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufrief und für die kommende Nacht bürgerkriegsähnliche Zustände voraussagte.

Das Coffee-And-TV-Redaktionsteam bewies seine große Fußballkompetnz, indem es sich vor dem Eröffnungsspiel mit Fahnen eindeckte, die allesamt zum Ende der Vorrunde eingeholt werden konnten: Schweden, Griechenland und die Schweiz spielten ungefähr so gut, wie wir tippten. In der familieninternen Tipprunde musste ich mich nicht nur meinem Bruder, sondern auch meinen Eltern und meiner Schwester geschlagen geben. Aber als Borussia-Mönchengladbach-Fan ist man leiden gewohnt.

So geht’s weiter …
Am 9./10. August startet der DFB-Pokal, eine Woche später die Bundesliga. Mönchengladbach ist wieder da, wo es hingehört, der MSV Duisburg auch.

Die Nationalmannschaft wird sich für die WM 2010 qualifizieren und wenn sie da plötzlich die Leistungen aus so manchen Qualifikationsspielen und dem EM-Viertelfinale wiederholen, könnte das schon was werden. Außerdem spricht 2006: 3., 2008: 2. für 2010: 1. Die einzige Alternative wäre eine goldene Generation im deutschen Team: wie die Portugiesen immer schön spielen und Favorit sein, es dann aber nie schaffen. Die Rolle des ewig erfolglosen Geheimfavoriten ist seit gestern Abend unbesetzt.

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“You can say ‘you’ to me!”

Die Anrede im Englischen öffnet Missverständnissen Tür und Tor. Da ist zum einen die Sache mit den Vornamen, die kürzlich in meinem neuen Lieblings-Blog USA Erklärt sehr anschaulich beschrieben wurde (nun ja, ‘anschaulich’ ist das falsche Wort für einen Sachverhalt, der in seiner Komplexität der Kernspaltung in nichts nachsteht – dann eben ‘gut beschrieben’). Zum anderen ist da die Sache mit dem Personalpronomen “you”, das Deutsche schon mal als “Du” verstehen, und sich deshalb freuen oder wundern, dass sich die Native Speaker des Englischen alle duzen. Die Wahrheit ist ungleich komplexer. Ganz knapp: Der englischen Sprache ist das “Du” (“thou”/”thy”) im Laufe der Jahrhunderte abhanden gekommen und existiert heute nur noch in Shakespear’schen Dramen, der Bibel und ähnlichen Texten früherer Tage.

Warum diese längliche Einleitung aus dem Bereich der Sprachwissenschaften? Zum einen habe ich vor wenigen Tagen einen Studienabschluss in Anglistik erlangt, zum zweiten muss man sich diese Situation vor Augen führen, wenn es um die schwierige Arbeit der Interview-Übersetzung in deutschsprachigen Redaktionen geht.

Dirk Peitz hat für jetzt.de ein Interview mit Fran Healy und Dougie Payne von Travis geführt. Die Musiker werden sich mit “Hi, I’m Fran” bzw. “Hello, I’m Dougie” vorgestellt haben (obwohl sie davon ausgehen können, dass ein Interviewer wenigstens die Namen seiner Gesprächspartner kennt – sie sind eben gut erzogen) und im Gespräch wird man sich, wie allgemein üblich, mit “you” angesprochen haben. Da Interviews grundsätzlich in übersetzter Form gedruckt werden, musste nun das englische Gespräch in einen deutschsprachigen Text umgewandelt werden, und irgendjemand kam bei der früheren Jugendbeilage der SZ auf die Idee, man könne doch die Musiker in der Übersetzung einfach mal siezen.

Das kann man machen, um sich so von vorneherein vom Vorwurf der Anbiederung freizumachen. Man kann es auch machen, um seinen Gesprächspartnern den nötigen Respekt zu erweisen (schon Max Goldt hat sich in seinem Text “Was man nicht sagt” dafür ausgesprochen, Musiker nicht als “Jungs” und “Mädels” zu bezeichnen – sie zu siezen wäre also auch nur konsequent). Man kann es sogar machen, um zu beweisen, dass man das mit dem “Du” und “Sie” im Englischen sehr, sehr gut verstanden hat. Aber egal, wie die Gründe gelautet haben mögen, sie werden bei den (zumeist jugendlichen) Lesern Verwirrung auslösen:

SZ: Sie haben sich fast vier Jahre Zeit gelassen, um Ihr neues Album aufzunehmen. Was haben Sie so lange getrieben?

Fran Healy: Es gibt dieses Sprichwort im Musikgeschäft: Für dein erstes Album brauchst du 23 Jahre, doch für jedes weitere geben dir die Plattenfirmen nur noch sechs Monate.

“Mutti, warum siezt der Journalist diesen verehrenswerten Musiker und dieser Rockstar-Stoffel duzt dann einfach zurück?”, werden natürlich die wenigsten Zahnspangenträgerinnen morgen am Frühstückstisch ihre Studienrätin-Mutter fragen. Täten sie es nur! Die Mutti würde erst den ganzen Sermon, den ich oben schon geschrieben habe, wiederholen, und dann erklären, dass “you” ja auch für “man” stehen kann und das Sprichwort von wirklich umsichtigen Redakteuren deshalb mit “Für sein erstes Album braucht man 23 Jahre, doch für jedes weitere geben einem die Plattenfirmen nur noch sechs Monate”, übersetzt worden wäre. Vielleicht würde sie aber auch nur sagen: “Gabriele, iss Deine Cerealien und frag das Deinen Englischlehrer, den faulen Sack!”

Absurder als das aufgeführte Beispiel ist übrigens die Angewohnheit der Redaktion des sehr guten Interviewmagazins Galore, jede aufkommende Anrede in ein “Sie” umzuwandeln. Diese automatisierte Angleichung flog spätestens auf, als Campino, der ja nun wirklich jeden duzt, den Interviewer plötzlich mit “Sie” ansprach.
Noch absurder war der Auftritt von Jan Ullrich bei Reinhold Beckmann. Aber das lag nicht nur an der Schieflage in den Anreden.