Schon immer kam alles Schlechte aus den USA: Die Meinungsfreiheit, das Frauenwahlrecht, der Rock’n’Roll und das Fast Food. Der neueste (na ja: “neueste”) Angriff auf die deutsche Kultur ist ein Fest, das von denen, die es begehen wollen, heute begangen wird: Halloween.
Eines vorab: Ich hasse es, mich zu verkleiden. Ich habe das als Kind mit großer Begeisterung getan und meinen Vorrat dabei offenbar aufgebraucht. Wer sichergehen will, dass ich nicht zu seiner Geburtstagsfeier komme, richtet einfach eine Bad-Taste- oder Mottoparty aus. Es kostet mich schon Überwindung, einen Anzug zu tragen oder Hosen, die keine Jeans sind. Als ich vor sechs Jahren den Herbst in Nordkalifornien verbrachte, fand ich mich allerdings plötzlich in einem eilig aus grünen Filzbahnen zusammengetackerten Ampelmännchen-Kostüm wieder — und hatte großen Spaß. Niemand kannte mich, alle waren sehr aufwendig kostümiert und es herrschte diese feierliche amerikanische Ernsthaftigkeit vor.
Wenn ich mir allerdings einen amerikanischen Feiertag für den Import aussuchen dürfte, wäre es – neben einem Nationalfeiertag im Sommer – Thanksgiving: Die Festlichkeit und Geselligkeit von Weihnachten ohne diesen ganzen Geschenkestress — die Amerikaner verstehen es zu feiern. Halloween ist ja doch eher was für Menschen, die sich vom Kalender vorschreiben lassen, wann sie mal ausgelassen feiern gehen können, und denen Karneval zu spießig ist. ((Mein in Rheinlandnähe aufgewachsenes Herz hätte beinahe geschrieben: die für Karneval zu feige sind.))
Aber gut, muss jeder selbst wissen, wie er seine Freizeit verbringt. Fähnchenschwenkend durch das Pressezentrum bei Eurovision Song Contest zu rennen, fällt bei den meisten Leuten sicher auch eher unter “Special Interest”. Wir sind ein freies Land. Wenn ich mir aber so anschaue, wie heute in meiner Facebook-Timeline westliche Kultur auf westliche Kultur trifft, finde ich, dass die Kontakte mit der islamischen Welt im Großen und Ganzen doch beinahe harmonisch zu nennen sind.
Auf der einen Seite stehen die Leute, die Halloween mit quasi religiösem Eifer begehen. Auf der anderen jene, die sagen, heute sei doch Reformationstag und morgen Allerheiligen. ((Kleiner Ausfallschritt zu Allerheiligen: Es kann meines Erachtens nicht sein, dass in einem Land, in dem die Trennung von Staat und Kirche im Grundgesetz garantiert wird, sogenannte Tanzverbote an kirchlichen Feiertagen ausgesprochen werden. Und auch nicht, dass ein Land an zwei aufeinanderfolgenden Tagen volkswirtschaftlich gelähmt wird, weil am einen Tag in fünf Bundesländern, am nächsten in fünf anderen kirchlicher Feiertag ist. Die Katholiken haben schon Fronleichnam (wenn auch nicht überall), also wären hier mal die Protestanten dran!)) Ja, stimmt. Heute ist auch Weltspartag (außer in Deutschland, das für einen Welt-Irgendwas-Tag natürlich wieder eine Ausnahme brauchte — übrigens wegen des Reformationstags) und morgen – für die, denen die Katholische Kirche nicht ideologisch genug ist – Weltvegantag. Die verrücktesten Geister könnten sich nicht ausdenken, welche Gedenk-, Feier- und Aktionstage es im Laufe des Jahres so gibt, aber sie werden offenbar alle begangen — manche nur von denen, die sie ausgerufen haben, manche von weiten Teilen der Menschheit, wobei durchaus Schnittmengen von Personen möglich sind, die am 15. Oktober sowohl den “Tag des weißen Stockes” als auch den “Internationalen Tag der Frau in ländlichen Gebieten” begehen. Solange niemand einen Reformationstagsgottesdienst stürmt, um “Süßes oder Saures” zu rufen, klappt das auch ganz gut.
Der durchschnittliche Deutsche, die Volksseele, der Michel, Otto Normalverbraucher oder – wie ich ihn heute aus reiner Boshaftigkeit nennen möchte – Jürgen Sixpack hat eine panische Angst davor, dass ihm seine kulturelle Identität verloren geht. Die Angst vor der “Überfremdung” ist nicht auf den Islam oder Flüchtlinge aus Nordafrika beschränkt, sie gilt auch – und ganz besonders – im Bezug auf die USA: Junggesellenabschiede (bei denen ich mir tatsächlich staatliche Intervention wünschte) statt Polterabende, “Handy” statt “Mobiltelefon”, der Weihnachtsmann statt des Christkinds — Amerikanisierung lauert überall. Oder genauer: eine lokale Interpretation davon.
Mit der kulturellen Identität ist das so: Man braucht etwas, woran man sich halten kann, weswegen der Fußball – eine Sportart, die ich liebe, die amerikanische Sportfans aber als stillos und banal betrachten – hier so schön identitätsstiftend Raum greifen kann. Ansonsten sieht’s nämlich so aus: Unsere Städte sehen fast alle gleich trübe und grau aus, so wie Städte eben aussehen, wenn sie sehr schnell und billig wieder aufgebaut werden müssen, weil sie in Schutt und Asche lagen, nachdem es Deutschland mit der kulturellen Identität wirklich auf die Spitze getrieben hatte. Unsere Einkaufsstraßen sehen gleich aus, weil sie mit den immergleichen Filialen deutscher Großbäcker, Drogerie- und Supermarktketten, britischer Körperpflegemittelhersteller, amerikanischer Fastfoodverfütterer und schwedischer Bekleidungshändler vollgestopft sind.
Wohnungen weltweit sind von der Schwedenmafia uniformiert worden und müssten theoretisch alle gleich aussehen, was sie dann aber überraschenderweise doch nicht tun, weil da eben immer noch Persönliches, Individuelles mit reinkommt. Die kulturelle Identität des Einzelnen, der gleichzeitig Stifter und Rezipient der kulturellen Identität einer Gruppe ist.
Wer die Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in London gesehen hat, erlebte dort einen bunten Reigen britischer Geschichte und – vor allem – Popkultur. Schier unendlich der Fundus an aus England stammenden Welthits, Evergreens und Meisterwerken. Bei uns, so wurde dann schnell geunkt, stünden da Pur, Nena und Xavier Naidoo. ((Na ja, oder halt Kraftwerk, die Erfinder der modernen Popmusik, aber nun gut.)) Das deutsche Fernsehprogramm besteht ja auch überwiegend aus Krimiserien und Quizshows (beides keine genuin deutschen Produkte)
Die kulturelle Identität Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg hat gleich zwei amputierte Beine: Das mit dem Traum vom großen deutschen Volk war gründlich schief gegangen, fand seine Fortsetzung aber in einer Art Light-Version in Heimatfilmen und Volkstümelndem Schlager, und die Leute, die Berlin in den 1920er Jahren zum kulturellen Hotspot gemacht hatten, waren alle vertrieben oder gleich getötet worden. Billy Wilder prägte im Kino fleißig das Amerikabild der Nachkriegszeit, in Deutschland feierte “Grün ist die Heide” unglaubliche Erfolge. Die Jugendbewegungen schwappten in der Folgezeit fast alle aus den USA oder Großbritannien nach Deutschland und mit ihnen der seither andauernde Untergang des Abendlandes — oder präziser vielleicht: des Abendbrotlandes.
Zuvor waren die einst heidnischen Gebiete des heutigen Deutschlands christianisiert worden. Die Gotik war aus Frankreich gekommen, die Renaissance und der Barock aus Italien. Ohne diese äußeren Einflüsse hätten die Bomben der Alliierten allenfalls spätmittelalterliche Fachwerkhäuser, vermutlich eher irgendwelche Steinzeithöhlen treffen können. Eine Zeitlang galt es im Bürgertum als ausgesprochen chic, Maskenbälle venezianischer Prägung abzuhalten. Gehwege nannte man “Trottoir”, ((Kein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde in einem deutschen Satz das Wort “sidewalk” benutzen.)) Aborte “Toilette”.
Überspitzt gesagt ist der Inbegriff von Kultur in Deutschland immer noch Bayreuth, dabei sind die Wagner-Festspiele auch nur eine Art gehobener Karneval: Menschen, die allenfalls den Schlusssatz von Beethovens Neunter von Mozarts “Kleiner Nachtmusik” auseinanderhalten können, verkleiden sich einen Abend als kulturinteressierte Bildungsbürger.
85 Prozent meiner eigenen kulturellen Identität sind von angelsächsischer Popkultur geprägt, der Rest von von angelsächsischer Popkultur Geprägten. Ja, ich mag keine französischen Filme und ein gut sortierter und gut gefüllter HMV löst in mir mehr Glücksgefühle aus als die Sixtinische Kapelle. Ich würde einen Urlaub im verregneten Schottland (und das dortige Pub Food) jederzeit einem Ausflug ans Mittelmeer vorziehen.
Aber ich steige nicht empört auf die Barrikaden (französische Spezialität), wenn Menschen Italienischkurse in der Volkshochschule besuchen, bei Aldi den etwas teureren Rotwein kaufen und ihren Urlaub in der Toscana verbringen wollen.