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Leben Gesellschaft

Fakin’ It

In der aktuellen Debatte um akademische und wissenschaftliche Ehre ist mir eine Geschichte wieder in den Sinn gekommen, die sich vor einiger Zeit an meinem ehemaligen Gymnasium ereignet haben soll und an deren Wahrheitsgehalt ich keinen Grund zu Zweifeln habe:

In einem Englisch-LK war eine Schülerin am Tag der Klausur krank gewesen und musste diese nachschreiben. Wie allgemein üblich wurde sie dafür alleine in einen ungenutzten Raum (ich glaube, es war der Erdkunde-Kartenraum) gesetzt, wo ihr die Aufgabenstellungen vorgelegt wurden. Entgegen der üblichen Vorgehensweise und vermutlich auch entgegen zahlreicher Vorschriften gab ihr der Lehrer exakt die gleichen Arbeitsanweisungen, die er schon dem Rest der Klasse kurz zuvor bei der “echten” Klausur ausgehändigt hatte.

Interessanterweise hatte die Schülerin in ihrem Rucksack die bereits korrigierte und zurückgegebene Klausur eines Mitschülers, die sie nun über die nächsten Stunden ausführlich abschrieb — entgegen aller schulischen Regeln und jedweder Moral, versteht sich.

Theodor-Heuss-Gymnasium

Dem Lehrer scheint das Komplett-Plagiat nicht aufgefallen zu sein, jedenfalls wertete er die Klausur nicht als Täuschungsversuch, sondern korrigierte sie ganz normal. Oder: fast, denn er hatte die Original-Arbeit des Schülers deutlich besser (die genauen Details sind niemandem mehr erinnerlich, aber die Rede war von mindestens sechs Punkten, was zwei Noten entspräche) bewertet als die der Schülerin.

Die Schülerin, die sich die ganze Zeit von dem Lehrer ungerecht behandelt gefühlt hatte, konnte natürlich nicht zum Rektor gehen, um sich über ihre Note zu beschweren. Aber eine bemerkenswerte Geschichte war es doch.

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Gesellschaft

Menschenraub

“Ein Plagiat (von lat. plagium, „Menschenraub“) ist das bewusste Aneignen fremder geistiger Leistungen.”(aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie)

“Was im wahren Leben der Mord, ist in der Wissenschaft das Plagiat!”, sagt der Dozent, für den ich vier Jahre lang an der Uni gearbeitet habe. Viele, viele Stunden meiner Tätigkeit als Studentische Hilfskraft habe ich damit zugebracht, verdutzt zu schauen, wenn ich Hausarbeiten oder Essays vorkorrigiert habe. Ob man Plagiate überhaupt erkennen könne, dachte ich. Vor vier Jahren stand ich relativ ratlos vor der Aufgabe, die mir zugeteilt wurde. “Vertrauen Sie auf ihr Gespür!”, wurde mir angeraten, und das war tatsächlich der beste Ratschlag in dieser Geschichte (wie in vielen anderen Geschichten übrigens auch). Das mit den Plagiaten verhielt sich nämlich so: Ein abgegebener Text holpert vor sich hin, und auf einmal wird er brillant. Huch? Google. Treffer.
Oder, wenn ich mich beleidigt fühlen sollte: Auf einmal änderten sich Schriftart oder gar Zeilenumbrüche. Flickarbeiten, Wikipedia-Zitate, hausarbeiten.de-Zitate; die Abgründe der Internetseiten, Seiten, die man nie besuchen würde, der wissenschaftliche Anspruch meistens mau, die Quellen, aus denen abgeschrieben wurde: kurios.

Den paar Malen, wenn ich Plagiate gefunden hatte und mich danach so schmutzig fühlte, dass ich mich am liebsten gehäutet hätte, folgten ernste Gespräche mit den Studierenden, geführt vom Dozenten selbst. Immer mit der Möglichkeit für die Studierenden, sich zu rechtfertigen, aber auch mit der Ansage, dass man diesen Fall auch an die Rechtsabteilung der Universität weiterleiten könne (was wir nie getan haben). Eben weil der Klau von Gedanken das schlimmste ist, was man in der Wissenschaft tun kann. Höchststrafe. Die Gespräche endeten immer mit Tränen auf Seiten der Studierenden, es folgte immer die Schilderung eines persönlichen Schicksals, das die Studierenden zum Plagiat getrieben hat. Auch hinter dem selbstherrlichsten, smartesten Grinsen steckten Tränen und Ratlosigkeit. Meistens war es Überforderung, die zum Plagiat getrieben hatte, das Gefühl, schlichtweg zu dumm zu sein für einen philosophischen Essay, das Gefühl, dass die eigenen Gedanken nicht ausreichten, dem Thema adäquat zu entsprechen. Und dann waren meistens noch Todesfälle und Krankheiten in der Familie aufgetreten, Scheidungen wurden angedroht und dergleichen mehr. All diese Fälle waren tragisch, all diese Fälle passieren täglich an der Universität.

Wenn nun in der Geschichte um Guttenberg abgewiegelt wird, dann empört mich das zunächst, weil ich in den letzten vier Jahren stets in die andere Richtung aufgewiegelt habe und dies für richtig hielt. Und natürlich ging es im Fall kleiner philosophischer Essays nicht um die Welt, meistens ja nicht mal um die Wahrheit, sondern um einen verdammten Schein. In Zeiten, in denen Erkenntnis durch Workload ersetzt wird, ist das Nachdenken den meisten nur lästig. Aber wenn dann ein Gespräch folgt, weil ein Plagiat gefunden wurde, dann wird den meisten auch klar, was ihnen an der Universität in dieser Zeit fehlt: Ein Sinn, warum sie ihre Zeit hier verbringen. Die meisten studieren, weil ihnen gesagt wird, dass es berufsqualifizierend ist, unter Berufsqualifizierung denken die meisten aber eher an Angebote, die (noch) eher an Berufsschulen und Volkhochschulen angeboten werden (deswegen auch die permanente Ersetzung des Wortes “Seminar” durch “Kurs” im Studenten-Jargon), es entsteht ein Loch der Sinnlosigkeit über die Zeit an der Universität, weil durch das viele Arbeiten auf 30 unterschiedlichen Baustellen keine Zeit bleibt, mal in Ruhe über ein Thema nachzudenken. Plagiate und Überforderung gab es schon immer, aber sie sind auch das, das durch die Ba/Ma-Reform befördert werden könnte.

Ich schreibe gerade meine Examensarbeit. Und ich weiß, wenn ich hier nicht Quellen korrekt angebe und dabei erwischt werde, dann kann ich mich nicht hinsetzen und weinen und sagen, dass ich mich überfordert fühle und dass es in meiner Familie einen Todesfall gab. Selbst wenn es zumindest im ersten Teil stimmten sollte: Natürlich fühle ich mich überfordert, natürlich habe ich beinahe jede Woche einen erneuten Quasi-Nervenzusammenbruch. So ist das Leben. Wenn ich bei einem Plagiat erwischt werde, folgt zumindest eine Nicht-Anerkennung meines Abschlusses, und, je nach Schwere der Tat, auch eine Strafanzeige, vielleicht die Unmöglichkeit der Verbeamtung. Das ist nicht der Hauptgrund, der gegen ein Plagiat spricht, aber von Ehre möchte ich an dieser Stelle gar nicht erst reden.

In meinem Fall geht es nur um ein Staatsexamen. Wenn Guttenberg seinen Doktor behalten darf, obwohl sich jeder selber ein Bild vom Ausmaß der Abkupferei schon in der Einleitung seiner Diss machen kann, dann ist das ungefähr das ungerechteste, was mir in meiner Zeit an der Universität untergekommen ist.

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Literatur Digital

Die Arroganz der Jungen, die Ignoranz der Alten

Wir müssen dann leider noch mal auf “Axolotl Roadkill” zurückkommen, das literarische Hype-Thema der Stunde. Nicht, dass ich das Buch inzwischen gelesen hätte, aber: Das von der Literaturkritik auf Lautstärke 11 gefeierte Werk von Helene Hegemann (17) weist in etlichen Passagen erstaunliche Ähnlichkeit mit einem anderen Buch auf.

Deef Pirmasens hat in seinem Blog Die Gefühlskonserve eine Gegenüberstellung von Textstellen aus “Axolotl Roadkill” und aus dem Buch “Strobo” des Berliner Bloggers Airen veröffentlicht, das im vergangenen Jahr erschienen war. Um es vorsichtig auszudrücken: Da kommt schon Einiges an Auffällig- und Ähnlichkeiten zusammen.

Als gelernter Literaturwissenschaftler stehe ich diesen Enthüllungen etwas schulterzuckend gegenüber: Montagen und Intertextualität gibt es seit kurz nach Erfindung der Schriftsprache — Georg Büchners Novelle “Lenz” ist knapp zur Hälfte aus Aufzeichnungen des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin übernommen, Johann Wolfgang von Goethe hat sich mehr als einmal massiv von anderen Texten inspirieren lassen. Auf den Platz in der Literaturgeschichte hatte das für die beiden Herren keine Auswirkungen, aber über den entscheidet naheliegenderweise die Nachwelt und nicht der Zeitgenosse. Überhaupt gilt ja, was Oscar Wilde zugeschrieben wird, der gemeine Pop-Konsument (also ich) aber erst seit Tocotronic weiß: “Talent borrows, genius steals”.

Als jemand, der mit dem Schreiben von Texten seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften versucht, sehe ich es naturgemäß kritischer, wenn jemand (mutmaßlich) gutes Geld mit Inhalten verdient, die zumindest zu einem nicht ganz unerheblichen Teil aus dem Werk eines Anderen stammen.

Die Grenzen zwischen Zitat und Diebstahl geistigen Eigentums sind fließend — der Unterschied zwischen den Groß-Zitierern Quentin Tarantino und Dieter Wedel besteht letztlich auch nur darin, dass Tarantinos Filme cool sind und Wedels spießig. Und dass die Übernahme bestimmter Worte oder ganzer Textpassagen noch mal ein bisschen was anderes ist als das zufällige Wieder-Erstellen einer bereits komponierten Melodie (man erinnere sich nur an die rund tausend Songs, von denen Coldplay ihr “Viva La Vida” samt und sonders abgepinnt haben sollen), lässt sich einerseits mit den unterschiedlichen Materiallagen (zehntausende Wörter vs. zwölf Töne) erklären, ist aber andererseits auch nur Geschmacks- und Definitionssache.

Man könnte also Helene Hegemann und Dieter Wedel zu Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski ins “Philosophische Quartett” setzen und eine Stunde lang über Blues-Motive und Bastardpop, Williams Shakespeare und Heiner Müller diskutieren lassen und hätte am Ende vielleicht ein bisschen Erkenntnisgewinn oder wenigstens was zum drüber aufregen. Man würde sich womöglich darauf einigen, dass Zitate, Remixe und Mashups Teil unserer (Pop-)Kultur sind, es aber nur höflich wäre, wenigstens seine Quellen zu benennen und nicht Andererleuts Gedanken als eigene auszugeben.

Aber das sind philosophische und kulturwissenschaftliche Gedanken allgemeiner Art. Der “Fall Hegemann” dagegen ist leider der Super-GAU der öffentlichen Auseinandersetzung, weil er sich genau an der (leider immer noch von vielen Menschen auf beiden Seiten imaginierten) Verwerfung zwischen analoger und digitaler Welt ereignet hat: Da hat also so eine Berliner Künstlertochter abgeschrieben — und zwar bei einem Blogger! Hurra, der Klassenkampf beginnt erneut, auf die Barrikaden!

Jetzt kriegen die Literaturkritiker, denen man sicher vieles vorwerfen kann, ernsthaft um die Ohren gehauen, sie hätten ja mal Googeln können.

Googeln. Einen Roman! Dabei erzählt Deef Pirmasens, dem die ganzen textlichen Parallelen als Erstem aufgefallen waren, im Interview mit sueddeutsche.de, dass ihm bei der Lektüre von “Axolotl Roadkill” bestimmte Worte bekannt vorgekommen seien — weil er “Strobo” gelesen hatte. Beim Erkennen von ungenannten Querverweisen hilft es also offenbar immer noch, das Original zu kennen. Dass lange Zeit niemandem aufgefallen ist, dass eine andere Textstelle aus dem Song “Fuck U” von Archive übernommen wurde, spricht dann eben leider nicht für die Popularität der Band.

Der Kampf der Welten endet in Sätzen wie diesen:

In Wirklichkeit scheint sich als Abwehrhaltung des Feuilletons herauszukristallisieren: Es ist nicht so schlimm, von einem weitgehend unbekannten Medium aus dem Web geklaut zu haben – Hegemann kann zur Not noch als Transkribistin vom Internet ins Buch gefeiert werden.

Es ist jener passiv-aggressive Ton, gepaart mit dem Hinweis, dass das Internet immer noch etwas anderes sein soll als der Rest der Welt, der den genauso verbohrten Menschen im Kulturbetrieb dann wieder als Vorlage dient, wenn es darum geht, über die Meckereien und das merkwürdige Selbstbewusstsein (bzw. offensichtlich dessen Fehlen) der Blogger zu lästern. Ich frage mich, ob die Geschichte in der deutschsprachigen Netzwelt genauso hohe Wellen geschlagen hätte, wenn der “beraubte” Autor nicht gleichzeitig Blogger wäre, und liefere mir die Antwort gleich selbst: “Vermutlich nicht”. Statt sich also auf den konkreten Vorgang zu konzentrieren, wird mal wieder das übel riechende Fass “wir Blogger gegen die Nichtsblicker bei den Totholzmedien” aufgemacht und es grenzt an ein Wunder, dass sich die “#fail”s bei Twitter bisher in Grenzen halten.

Der Verleger von “Strobo” klingt da im Gespräch mit Spreeblick wesentlich entspannter. Der gleiche Verleger übrigens, der munter erzählt, wann Vater Hegemann das Buch für seine Tochter gekauft hat:

Während Hegemann sagt, dass sie das Buch nicht kenne, kann der Verlag SuKuLTur einen Beleg vorweisen, aus dem hervorgeht, dass Carl Hegemann den Roman Airens am 28. August 2009 über Amazon Marketplace bestellt und an seine Tochter Helene hat liefern lassen.

[via otterstedt.de]

Wenn’s um die gute eigene Sache geht, ist das mit dem Datenschutz – sonst die Domäne der Netzgemeinde – offenbar auch nicht mehr ganz so wichtig.

Die Überschrift dieses Eintrags, übrigens, die stammt von Virginia Jetzt!