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Literatur Gesellschaft

Don’t party like it’s 1999

Kürz­lich blät­ter­te ich mal wie­der in „Tris­tesse Roya­le“, dem Rea­der der deutsch­spra­chi­gen Pop­li­te­ra­tur der 1990er Jah­re, dem Zeit­do­ku­ment der ers­ten Tage der Ber­li­ner Repu­blik. Und mir wur­de klar: Wer ver­ste­hen will, wie sehr sich unse­re Gesell­schaft und unse­re Welt im letz­ten Jahr­zehnt ver­än­dert haben, der muss nur die­se Pro­to­kol­le der Gesprä­che lesen, die Joa­chim Bes­sing, Chris­ti­an Kracht, Eck­hart Nickel, Alex­an­der von Schön­burg und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re im spä­ten April des Jah­res 1999 im frisch wie­der­eröff­ne­ten Ber­li­ner Hotel „Adlon“ geführt haben.

Neh­men wir nur einen kur­zen Aus­schnitt, der eigent­lich alles sagt:

JOACHIM BESSING Gibt es denn eigent­lich über­haupt noch soge­nann­te gesell­schaft­li­che Tabus?
ALEXANDER V. SCHÖNBURG Die katho­li­sche Kir­che zu ver­tei­di­gen ist zum Bei­spiel ein moder­nes Tabu. Es ist ein All­ge­mein­platz, für die Anti­ba­by­pil­le und gegen die Fami­li­en­po­li­tik des Paps­tes zu sein. Wer heu­te, wie ich, sagt: Ich bin für den Papst und gegen die „Pil­le danach“, bricht ein gesell­schaft­lich ver­ein­bar­tes Tabu. Viel­leicht ist es auch ein ähn­li­cher Tabu­bruch, wenn eine Frau sagt: Ich gehö­re hin­ter den Herd und möch­te ger­ne mei­ne Kin­der erzie­hen. Ich möch­te gar nicht in die Drei-Wet­ter-Taft-Welt ein­tre­ten.

„Tris­tesse Roya­le“, S. 118

Lesen Sie die­se Aus­füh­run­gen ruhig mehr­mals. Und ver­su­chen Sie dann, sich vor­zu­stel­len, dass es eine Welt gab, in der „wir“ noch nicht Papst waren und in der Eva Her­man nur die Nach­rich­ten vor­ge­le­sen hat. Es war eine Welt, in der alles noch so war, wie es war, bevor nichts mehr so war, wie es zuvor gewe­sen war. Eine Welt in einem ande­ren Jahr­tau­send – aber wer heu­te aufs Gym­na­si­um kommt, war damals schon gebo­ren.

Natür­lich ist „Tris­tesse Roya­le“ kein Pro­to­koll einer tat­säch­li­chen Gesell­schaft. Die welt­män­ni­schen Posen der fünf jun­gen, kon­ser­va­ti­ven Her­ren lie­ßen sich auch damals nur schwer­lich mit der Welt­sicht der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung auf eine Line brin­gen. Aber sie pass­ten sti­lis­tisch in die Eupho­rie des Auf­bruchs. Das Buch ist des­halb eine gute Erin­ne­rung an die­se ers­ten Tage der soge­nann­ten Ber­li­ner Repu­blik, als es so aus­sah, als wür­den Ger­hard Schrö­der und die rot-grü­ne Koali­ti­on Deutsch­land allei­ne aus der Kri­se füh­ren. In gewis­ser Wei­se haben sie das getan, aber das Volk hat es ihnen nicht gedankt, weil die als gro­ße „Reform“ anmo­de­rier­te Agen­da 2010 weh tat und sie zu einem nicht uner­heb­li­chen Teil auch unso­zi­al war. Nie­mand fragt, war­um es Deutsch­land unter einer Kanz­le­rin Mer­kel, die bis­her kei­ne ein­zi­ge innen­po­li­ti­sche Ent­schei­dung grö­ße­rer Trag­wei­te getrof­fen hat, plötz­lich so gut gehen soll, wie lan­ge nicht mehr. Nie­mand ist erstaunt, wenn die SPD unter dem Pfäl­zer Ted­dy Kurt Beck plötz­lich wie­der Sozi­al­de­mo­kra­tie der 1960er Jah­re betrei­ben will. Aber alle jam­mern über die­se wahn­sin­ni­gen Teue­rungs­ra­ten und über die Gefahr, schon mor­gen auf dem Koblen­zer Markt­platz Opfer einer isla­mis­ti­schen Atom­bom­be zu wer­den.

Zwi­schen April ’99 und Okto­ber ’07 lag der 11. Sep­tem­ber 2001, der natür­lich viel ver­än­dert hat und der für zwei neue gro­ße Krie­ge auf die­sem Pla­ne­ten ver­ant­wort­lich ist. Aber ich glau­be nicht, dass die­se Ter­ror­an­schlä­ge, so schlimm sie auch waren und so vie­le danach auch noch kamen, der Haupt­grund für die­se Ver­schie­bung gesell­schaft­li­cher Vor­stel­lun­gen ist.

Zwi­schen 1999 und 2007 lag näm­lich auch und vor allem ein Jahr­tau­send­wech­sel, egal ob man den am 1. Janu­ar 2000 oder erst ein Jahr spä­ter begos­sen hat. Wenn wir uns anse­hen, wel­che Aus­wir­kun­gen schon eine schlich­te Jahr­hun­dert­wen­de gehabt hat, dann müs­sen wir erstaunt sein, dass die­ser Über­gang vom zwei­ten zum drit­ten Mill­en­ni­um häu­fig so ein­fach über­gan­gen wird: Das spä­te 19. Jahr­hun­dert hat­te das Fin de siè­cle, das Zeit­al­ter des Deka­den­tis­mus, und genau das fin­den wir auch in „Tris­tesse Roya­le“ und der Gesell­schaft die­ser spä­ten 1990er Tage wie­der. Nicht weni­ge erwar­te­ten für die Sil­ves­ter­nacht 1999/​2000 den sofor­ti­gen Welt­un­ter­gang und ent­spre­chend wur­de auch gefei­ert und gelebt. Die­ser Über­schwung hielt dies­mal aber kei­ne 14 Jah­re, bis ein Ereig­nis die Welt erschüt­ter­te, son­dern die paar Mona­te bis zum Sep­tem­ber 2001.

Als Peter Scholl-Latour am Abend des 12. Sep­tem­ber 2001 in der Talk­show von Michel Fried­man das Ende der Spaß­ge­sell­schaft pos­tu­lier­te, hin­ter­ließ das zwar kei­nen all­zu blei­ben­den Ein­druck bei der Welt­be­völ­ke­rung, aber nach so einer Ansa­ge fie­len die Cham­pa­gner­bä­der in Ber­lin-Mit­te viel­leicht doch zunächst ein biss­chen klei­ner aus. Und ehe man sich’s ver­sah, war auch auf höhe­rer Ebe­ne aus einer apo­li­ti­schen Deka­denz­ge­sell­schaft eine apo­li­ti­sche Bie­der­mei­er­ge­sell­schaft gewor­den, in der man sei­nen dun­kel­haa­ri­gen Nach­barn sofort für einen poten­ti­el­len Mas­sen­mör­der hält, weil der sich drei­mal am Tag die Hän­de wäscht und betet. Ande­rer­seits wird ein alter Kir­chen­mann von Jugend­li­chen wie ein Pop­star ver­ehrt und Fern­seh­mo­de­ra­to­rin­nen erhe­ben das Gegen­teil ihres eige­nen Lebens­we­ges zum Heils­ver­spre­chen für alle Frau­en.

Damit sind wir, auf Umwe­gen, wie­der beim Aus­gangs­zi­tat ange­kom­men. Was machen eigent­lich die­se gro­ßen Män­ner der deutsch­spra­chi­gen Deka­denz heu­te? Nun: Alex­an­der von Schön­burg war kurz­zei­tig Chef­re­dak­teur des Edel­ma­ga­zins „Park Ave­nue“ und kollum­ni­ert für „Bild“; Joa­chim Bes­sing schreibt Bücher, die auf dem „Lebenshilfe“-Tisch der Buch­hand­lun­gen neben denen von Eva Her­man lie­gen; Eck­hart Nickel und Chris­ti­an Kracht grün­de­ten die sehr inter­es­san­te, lei­der aber nicht sehr erfolg­rei­che Lite­ra­tur­zeit­schrift „Der Freund“; Kracht selbst ent­schwebt in sei­nen Repor­ta­gen in immer unzu­gäng­li­che­re Sphä­ren und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war zuletzt als Rosen­ver­käu­fer im neu­en Horst-Schläm­mer-Video zu sehen.