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You were the fighter, I was the kid against the world

An einem grau­en Novem­ber­nach­mit­tag des Jah­res 2000 erreich­te mich via Use­net die Nach­richt, dass sich Ben Folds Five auf­ge­löst hät­ten – jene Band, an die ich gera­de mit vol­ler Hin­ga­be mein jugend­li­ches Herz ver­schenkt hat­te. Es war nicht die ers­te Band, die auf­hör­te, als ich sie gera­de für mich ent­deckt hat­te (da waren schon die New Radi­cals und die Smas­hing Pump­kins gewe­sen) und es war natür­lich nicht die letz­te: es folg­ten unter ande­rem Vega 4, muff pot­ter., Oasis, a‑ha und R.E.M. Und doch hat mich die Auf­lö­sung von Ben Folds Five damals schwer trau­ma­ti­siert – wohl auch, weil ich im Jahr zuvor mit 16 die Chan­ce nicht genutzt hat­te, die Band in Köln live zu sehen.

Im letz­ten Jahr haben Ben Folds Five zum ers­ten Mal seit damals wie­der einen gemein­sa­men Song auf­ge­nom­men (das schreck­lich ega­le „House“ für Ben Folds‘ Retro­spek­ti­ve), die­ser Tage erscheint ihr neu­es Album. ((Genau genom­men war­te ich stünd­lich auf die E‑Mail mit dem Down­load­link, den ich als Co-Finan­zier von „The Sound Of The Life Of The Mind“ vor­ab erhal… Oh, mein Gott: Da ist er!!!!1)) Eine güns­ti­ge Gele­gen­heit für die nächs­te Lieb­lings­band, die Büh­ne zu ver­las­sen.

Und so kün­dig­te Andrew McMa­hon dann auch pünkt­lich ges­tern an, das Kapi­tel Jack’s Man­ne­quin nach einem letz­ten Kon­zert am 11. Novem­ber zu been­den.

Vor zehn Jah­ren wäre wie­der mal eine klei­ne Welt für mich zusam­men­ge­bro­chen, doch dies­mal blieb mein Herz stark. Es zwick­te kurz, weil ich es natür­lich auch wie­der nie geschafft hat­te, die Band live zu sehen, aber dies­mal ist alles nicht so schlimm.

Das liegt vor allem dar­an, dass Jack’s Man­ne­quin schon die zwei­te Band ist, der Andrew McMa­hon vor­stand: Some­thing Cor­po­ra­te haben mich durch mei­ne Stu­di­en­zeit beglei­tet, auf Jack’s Man­ne­quin war ich merk­wür­di­ger­wei­se erst vor drei Jah­ren gesto­ßen. Ihr Zweit­werk „The Glass Pas­sen­ger“ dürf­te „The Man Who“ von Tra­vis, „Auto­ma­tic For The Peo­p­le“ von R.E.M. und „Rockin‘ The Sub­urbs“ von Ben Folds locker auf die Plät­ze der meist gehör­ten Alben ver­wie­sen haben, obwohl die einen beträcht­li­chen zeit­li­chen Vor­sprung hat­ten.

Die Songs haben mich durch die letz­ten Jah­re beglei­tet wie sonst nur mei­ne bes­ten Freun­de: Sie waren immer da, egal, ob es mir gut ging oder schlecht. Ich habe schwers­te Stun­den damit ver­bracht, die Kern­aus­sa­ge von „Swim“ – „just keep your head abo­ve“ – man­tra­ar­tig vor mich hin zu sin­gen, und bin in Momen­ten größ­ter Eupho­rie zu „The Reso­lu­ti­on“ oder „Dark Blue“ wie ein Flum­mi durch Stra­ßen und Ver­gnü­gungs­lo­ka­le gehüpft.

Es ist eigent­lich unwahr­schein­lich, dass man sich mit über 25 noch mal der­art in eine Band ver­knallt, aber bei Jack’s Man­ne­quin war es so. Oder eigent­lich: Bei bei­den Bands von Andrew McMa­hon, denn auch die Alben von Some­thing Cor­po­ra­te zäh­len zu denen, die ver­mut­lich nie von mei­nem iPod flie­gen wer­den. In den Tex­ten fin­de ich so viel von mir und mei­nem Leben wie­der, dass selbst kett­car und Tom­te dage­gen alt aus­se­hen.

Und das ist auch der Grund, war­um mich das Ende von Jack’s Man­ne­quin so wenig trifft: Ich habe bei­de Bands immer haupt­säch­lich als „Andrew McMa­hon und ein paar ande­re Typen“ wahr­ge­nom­men, auch wenn in bei­den Bands die ande­ren Mit­glie­der durch­aus Anteil am Song­wri­ting hat­ten. So wie Andrew McMa­hon es jetzt for­mu­liert, ((Und auch vor­her schon ange­deu­tet hat­te.)) wird er sogar mit den glei­chen Leu­ten wei­ter Musik machen. Viel­leicht wird er bei zukünf­ti­gen Kon­zer­ten die bes­ten Songs bei­der Bands spie­len, was für mich natür­lich ein abso­lu­ter Traum wäre. ((Die Kon­zer­te soll­ten dann aller­dings min­des­tens drei Stun­den dau­ern, damit mei­ne per­sön­li­chen Favo­ri­ten grob abge­deckt wären.))

Andrew McMa­hon hat gesagt, dass das Pro­jekt Jack’s Man­ne­quin, das eigent­lich als Neben­pro­jekt zu Some­thing Cor­po­ra­te gestar­tet war, immer sehr eng mit sei­ner Leuk­ämie-Erkran­kung ver­knüpft war, die kurz vor der geplan­ten Ver­öf­fent­li­chung des Debüt­al­bums „Ever­y­thing In Tran­sit“ fest­ge­stellt wur­de. Andrew bekam eine Stamm­zel­len­trans­plan­ta­ti­on von sei­ner Schwes­ter und ver­öf­fent­lich­te die sehr bewe­gen­de Doku­men­ta­ti­on „Dear Jack“ über sei­ne Zeit im Kran­ken­haus und sei­ne Gene­sung. Fast alle Songs auf „The Glass Pas­sen­ger“ haben etwas mit die­ser Zeit zu tun und wenn er in „The Reso­lu­ti­on“ singt: „I’m ali­ve /​ But I don’t need a wit­ness /​ To know that I sur­vi­ve“, dann hat er allen Grund dazu. Und weil es ja manch­mal etwas absei­ti­ge Grün­de braucht, um Ver­nünf­ti­ge Din­ge zu tun, war Andrew McMa­hons Geschich­te für mich einer der Grün­de, mich end­lich mal bei der Deut­schen Kno­chen­mark­spen­der­da­tei erfas­sen zu las­sen, was ich Ihnen mit eini­ger respekt­vol­ler Bestim­mung auch ans Herz legen wür­de.

Es gibt also kei­nen Grund, jetzt einen Nach­ruf auf Jack’s Man­ne­quin und die Musik von Andrew McMa­hon zu ver­fas­sen, aber es ist – nach­dem ich sei­nen 30. Geburts­tag letz­te Woche ver­passt habe – eine gute Gele­gen­heit, die­sen inspi­rie­ren­den Mann und sei­ne groß­ar­ti­gen Songs an die­ser Stel­le mal ein biss­chen zu wür­di­gen.

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I woke up to the Sound of German hip hop in my head

Es nützt ja nichts mehr, das zu leug­nen: Ich glau­be, ich mag jetzt deutsch­spra­chi­gen Hip-Hop. Zumin­dest teil­wei­se.

Alles begann mit der „Echo“-Verleihung im März, als Cas­per mit sei­nem Album „XOXO“ in der Kate­go­rie „Hip-Hop /​ Urban“ obsieg­te. „Toll: Wenigs­tens die­ser sym­pa­thi­sche Schluf­fi und nicht so homo­pho­be Hon­ks wie Bushi­do oder Sido“, dach­te ich, klick­te bei Cas­pers Face­book-Pro­fil auf „Gefällt mir“ und kauf­te „XOXO“ sofort bei iTu­nes.

Dann dau­er­te es ein biss­chen, bis ich mich in das Album rein­ge­fun­den hat­te, aber inzwi­schen haben drei Songs in mei­nem iTu­nes die Höchst­wer­tung von fünf Ster­nen. Hier ist einer davon:

Als Cas­per beim Geburts­tags­fes­ti­val vom Grand Hotel van Cleef vor­letz­ten Sonn­tag in Ham­burg als Über­ra­schungs­gast auf die Büh­ne kam, um erst bei Thees Uhl­manns „Und Jay‑Z singt uns ein Lied“ mit­zu­rap­pen und dann mit der Band sein eige­nes Uhl­mann-Duett „XOXO“ per­form­te, war das einer der groß­ar­tigs­ten Momen­te, den ich die­ses Jahr auf einem Kon­zert erlebt habe.

Über Cro hat­te ich ja neu­lich schon geschrie­ben, hier aber auch noch mal ein Fünf-Ster­ne-Song:

Seit ein paar Wochen läuft jetzt die gemein­sa­me Sin­gle von Mar­te­ria, Yasha & Miss Plat­num im Radio. Und nach ein paar Durch­gän­gen war ich mir sicher, dass mir auch „Lila Wol­ken“ gefällt:

Und irgend­wann wer­den die Plat­ten­fir­men sicher auch ver­stan­den haben, dass Hörer, denen ein Song gefällt, die­sen am Liebs­ten sofort kau­fen wür­den – und nicht erst ein paar ver­damm­te Wochen spä­ter.

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Mein Fan-Problem

Es mag so die 82. Minu­te im WM-Vier­tel­fi­nal­spiel Deutsch­land gegen Kroa­ti­en gewe­sen sein, als ich den Fern­se­her im Wohn­zim­mer mei­nes Eltern­hau­ses zurück­ließ, in den Gar­ten ging und mei­nen Fuß­ball immer wie­der gegen die Wand des Gar­ten­hau­ses drosch. „So geht das, Ihr Ver­sa­ger“, rief ich an die Adres­se der deut­schen Mann­schaft, die gera­de in Lyon 0:2 zurück­lag. Mei­ne Mut­ter trat auf die Ter­ras­se, beob­ach­te­te skep­tisch mein wüten­des Gebol­ze und ver­kün­de­te, es ste­he jetzt 0:3.

In der deut­schen Mann­schaft spiel­ten damals so klang­vol­le Namen wie Chris­ti­an Wörns, Jörg Hein­rich, Diet­mar Hamann, Micha­el Tar­nat und Olaf Mar­schall.

* * *

Ich bin jetzt seit 22 Jah­ren Fuß­ball­fan – und das hat viel mit Miss­ver­ständ­nis­sen zu tun:

Das ers­te Fuß­ball­spiel, an das ich mich erin­nern konn­te, war das Ach­tel­fi­na­le Deutsch­land gegen die Nie­der­lan­de bei der Ita­lia 90. Zuvor waren wir im Som­mer­ur­laub in den Nie­der­lan­den gewe­sen, wo damals alle der Mei­nung waren, dass ihr Team Welt­meis­ter wer­den wür­de. Alles war in Oran­je deko­riert und seit­dem bin ich Hol­land-Fan. Hol­land ver­lor gegen Deutsch­land, Deutsch­land wur­de Welt­meis­ter und ich muss­te – eben­so wie Franz Becken­bau­er – anneh­men, dass Deutsch­land auf Jah­re unbe­sieg­bar sein wer­de. Dann ver­lor Deutsch­land das EM-Fina­le 1992 gegen Däne­mark ((Das sich nicht mal regu­lär qua­li­fi­ziert hat­te und in mei­nem Pani­ni-Sam­mel­al­bum nur mit einem zwei­tei­li­gen Mann­schafts­fo­to gewür­digt wur­de, nicht mit einer Dop­pel­sei­te vol­ler Ein­zel­por­träts!)) und ich wein­te als Acht­jäh­ri­ger hei­ße Trä­nen der Ent­täu­schung.

Da mei­ne Begeis­te­rung für Sport (genau­so wie mei­ne Begeis­te­rung für den Euro­vi­si­on Song Con­test) von Anfang an vor allem von mei­ner Begeis­te­rung für Zah­len und Sta­tis­ti­ken geprägt wur­de, tipp­te ich vor der WM 1994 alle Spie­le des Tur­niers, errech­ne­te die Grup­pen­sie­ger und Ach­tel­fi­nal­paa­run­gen und kam zu dem Schluss, dass Deutsch­land sei­nen Titel ver­tei­di­gen wür­de. Dar­aus wur­de nichts, ich war wie­der ein­mal bit­ter ent­täuscht, aber der Gedan­ke, dass die­ser Final­sieg 1990 nicht die Regel, son­dern die Aus­nah­me gewe­sen sein könn­te, kam mir erst vie­le Jah­re spä­ter. Ich hat­te mich unter­des­sen in die schwe­di­sche Mann­schaft ver­liebt, die mit offen­kun­di­gen Welt­klas­se­spie­lern wie Tho­mas Ravel­li, Patrik Anders­son, Tho­mas Bro­lin, Hen­rik Lars­son, Ken­net Anders­son und Mar­tin Dah­lin WM-Drit­ter wur­de. Als ansons­ten ahnungs­lo­ser Jun­ge muss­te ich davon aus­ge­hen, dass Schwe­den eine inter­na­tio­na­le Top-Mann­schaft sei.

* * *

End­gül­tig vom Fuß­ball ange­fixt, brauch­te ich natür­lich auch eine eige­ne Bun­des­li­ga­mann­schaft. Mei­ne Wahl fiel auf Borus­sia Mön­chen­glad­bach, was nicht so will­kür­lich wahr, wie es sich im ers­ten Moment anhö­ren mag: Ste­fan Effen­berg, der wegen sei­nes Mit­tel­fin­ger-Ein­sat­zes gegen deut­sche Fans bei der WM aus dem Kader geflo­gen war, woll­te nach dem Tur­nier in die Bun­des­li­ga wech­seln. Aus irgend­ei­nem früh­pu­ber­tä­ren Grund fand ich die „Stinkefinger“-Aktion als Zehn­jäh­ri­ger cool und dach­te mir: „Hey, wo der hin­geht, das ist mein Ver­ein: Bre­men oder Mön­chen­glad­bach!“ Für Glad­bach spra­chen dann aber auch noch die schwe­di­schen Natio­nal­spie­ler Patrik Anders­son und Mar­tin Dah­lin und mein Paten­on­kel, der in Mön­chen­glad­bach wohn­te.

Vor dem Beginn der Bun­des­li­ga­sai­son 1994/​95 hat­te ich kei­ne Ahnung, wie erfolg­reich die­se Borus­sia aus Mön­chen­glad­bach sein könn­te, ein Jahr spä­ter waren „wir“ Fünf­ter in der Bun­des­li­ga und DFB-Pokal­sie­ger gewor­den. ((Das Pokal­fi­na­le in Ber­lin hat­te ich als mein zwei­tes Fuß­ball­spiel über­haupt sogar live im Ber­li­ner Olym­pia­sta­di­on ver­folgt.)) Ich muss­te wie­der ein­mal anneh­men, mich für eine Top-Mann­schaft ent­schie­den zu haben.

Am letz­ten Spiel­tag der Sai­son 1997/​98 ret­te­te sich Glad­bach ((Mit Schüt­zen­hil­fe von Han­sa Ros­tock!)) vor dem Abstieg, ein Jahr spä­ter stieg mein Ver­ein dann doch in die zwei­te Liga ab. Ich beschloss, mich eher auf Musik zu kon­zen­trie­ren, wo ich auf weni­ger Ent­täu­schun­gen hoff­te. Nach einem Jahr lös­ten sich zwei mei­ner dama­li­gen Lieb­lings­bands auf.

Als ich gera­de nach Bochum gezo­gen war, qua­li­fi­zier­te sich der VfL für den UEFA-Cup, ein Jahr spä­ter stieg er ab. Glad­bach ent­ließ 2006, nach der erfolg­reichs­ten Sai­son seit zehn Jah­ren, den Trai­ner und ging 2007 wie­der in die zwei­te Liga. Letz­tes Jahr tra­fen bei­de Mann­schaf­ten in der Rele­ga­ti­on auf­ein­an­der, ich konn­te mich kaum ent­schei­den – und ein Jahr spä­ter been­de­te Glad­bach die Sai­son in der ers­ten Liga auf Platz 4, Bochum Elf­ter in Liga Zwei.

Man lernt als Fuß­ball­fan viel fürs Leben, denn es gilt das glei­che, was Jason Lee in „Vanil­la Sky“ über die Lie­be sagt:

You can do wha­te­ver you want with your life, but one day you’ll know what love tru­ly is. It’s the sour and the sweet. And I know sour, which allows me to app­re­cia­te the sweet.

* * *

Was mei­ne Lie­be zum Fuß­ball, aber auch die zur Musik, immer etwas schwie­rig gestal­tet hat, waren die ande­ren Fans. Ich hat­te immer Schwie­rig­kei­ten damit, Teil einer Grup­pe zu sein. Ich den­ke dann immer: „Wir mögen ja gemein­sa­me Inter­es­sen haben, aber ich bin doch ganz anders als Ihr!“

Wenn ich wäh­rend der zwei Wochen Euro­vi­si­on den­ke, so lang­sam sei es aber auch mal gut, mit den Kli­scheeschwu­len, die da blon­diert und nasal flö­tend um mich rum­tu­cken, muss ich mich nur dran erin­nern, wie es im Fuß­ball­sta­di­on aus­sieht: Homo­pho­bie statt Homo­se­xua­li­tät, plum­pes Gebrüll statt ent­zück­tem Gekrei­sche und gene­rell null Takt­ge­fühl. Natür­lich: Nicht alle Fuß­ball­fans sind so, aber in der Sum­me ist es für mich dann doch schwer erträg­lich. Schon in der Knei­pe sind mir die­se Typen ein Graus, die immer hin­ter einem ste­hen und in jeder ver­damm­ten Sze­ne die Spie­ler laut­stark anbrül­len – dabei kön­nen Men­schen im Fern­se­hen einen nun wirk­lich nicht hören.

* * *

Schlim­mer als die­se Fans, die es mit ihrer Begeis­te­rung für den Sport dann viel­leicht doch ein biss­chen über­trei­ben, sind aber jene Leu­te, die sich zu inter­na­tio­na­len Tur­nie­ren in schwarz-rot-gol­de­ne Scha­le wer­fen und gemein­sam mit der Bou­le­vard­pres­se dar­auf hof­fen, dass „wir“ den Titel holen.

Natür­lich kann man inter­na­tio­na­le Fuß­ball­tur­nie­re ver­fol­gen, ohne die Abseits­re­gel oder die FIFA-Welt­rang­lis­te zu ken­nen. Auch habe ich in den letz­ten sechs Jah­ren ver­stan­den, dass die Men­schen, die ihre Häu­ser und Autos mit Deutsch­land­flag­gen schmü­cken, in den aller­we­nigs­ten Fäl­len Neo­na­zis sind. Aber die­se Schön­wet­ter­fans sind schon schwer erträg­lich.

Wenn man von den unglück­li­chen Vogts-Welt­meis­ter­schaf­ten 1994 und ’98 und den EM-Total­aus­fäl­len 2000 und 2004 absieht, zählt Deutsch­land seit 26 Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich zu den vier bes­ten Mann­schaf­ten Euro­pas bzw. der Welt. Wer Fuß­ball nur guckt, weil er auf einen Titel­ge­winn der eige­nen Mann­schaft ((Oder schlim­mer noch: der eige­nen Nati­on.)) hofft, ist kein Fan der Sport­art, son­dern ein­fach nur jemand, der sein Ver­hält­nis zu die­ser Sport­art von einem ein­zi­gen Fak­tor abhän­gig macht: dem Titel. Mit die­ser Ein­stel­lung kann man die­ser Tage nicht mal mehr Fan des FC Bay­ern Mün­chen wer­den – und sel­ber Sport trei­ben sowie­so nicht.

* * *

Das EM-Vier­tel­fi­na­le gegen Grie­chen­land war sicher kein bril­lan­tes Spiel. Die deut­sche Mann­schaft hat sich gegen eine eher dritt­klas­si­ge Mann­schaft zwei Gegen­to­re ein­ge­fan­gen, das Spiel letzt­lich inner­halb einer sehr guten Vier­tel­stun­de gewon­nen.

„Bild“ titel­te am nächs­ten Mor­gen:

Uns stoppt keiner mehr!

Die „Bild“-Schlagzeilen vor und nach dem Halb­fi­nal-Aus, die mein Kol­le­ge Mats Schö­nau­er im BILD­blog gesam­melt hat, stam­men aller­dings noch aus einer ganz ande­ren Welt: Ich fin­de es eh schwie­rig, wenn Jour­na­lis­ten (oder in die­sem Fall: „Bild“-Mitarbeiter) „wir“ sagen und damit die deut­sche Mann­schaft mei­nen. Wenn ein klei­ner Jun­ge und viel­leicht auch älte­rer Fuß­ball­fan ent­täuscht und wütend sind, ist das mensch­lich – aber Medi­en soll­ten nicht mensch­lich, son­dern sach­lich berich­ten. Was „Bild“ da macht, geht über den nor­ma­len Wahn­sinn eines ent­täusch­ten Fans hin­aus. Da arbei­tet eine gan­ze Redak­ti­on an Schlag­zei­len, die all dem ent­ge­gen­ste­hen, was sie selbst weni­ge Tage zuvor erar­bei­tet hat. Ein mensch­li­ches Gehirn müss­te eigent­lich implo­die­ren, wenn sich sein Besit­zer der­art selbst wider­spricht.

„Bild“ reagiert wie ein trot­zi­ger Drei­jäh­ri­ger, der sei­ner Mut­ter „Ich has­se Dich!“ ent­ge­gen schleu­dert, wenn sie ihm kein zwei­tes Eis mehr kau­fen mag, oder wie ein Stal­ker – in jedem Fall wie nie­mand, dem man ratio­na­les Den­ken unter­stel­len könn­te.

Die Mann­schaft sei „zu soft“ für den Titel, so urteilt „Bild“. Die neo­li­be­ra­le Moral der Cas­ting-Shows der „Bild“-Freund Die­ter Boh­len und Hei­di Klum wird so wei­ter im Bewusst­sein jun­ger Men­schen ver­an­kert: „Du musst es nur hart genug wol­len! Wenn Du es nicht schaffst, hast Du nicht hart genug gewollt!“

Hier wer­den Men­schen so behan­delt, als sei­en sie Maschi­nen, die man nur rich­tig opti­mie­ren muss, damit sie Erfolg haben. Und Erfolg heißt immer nur, Ers­ter zu sein. Es geht nie dar­um, für sich selbst das Bes­te her­aus­zu­ho­len, son­dern aus­schließ­lich dar­um, „Bes­ter“ zu sein. Alles ande­re ist immer eine Ent­täu­schung. Wer so denkt, wird fast immer ein Leben vol­ler Ent­täu­schun­gen füh­ren.

* * *

Es spricht eh wenig dafür, dass im Sport­jour­na­lis­mus irgend­je­mand arbei­tet, der Fuß­ball liebt: Spie­le wer­den in so vie­le sta­tis­ti­sche Wer­te (gelau­fe­ne Meter, gespiel­te Päs­se, gewon­ne­ne Zwei­kämp­fe, etc.) zer­legt, dass nicht mal ich als Sta­tis­tik-Freund irgend­ei­nen Sinn dar­in sehe – und ich weiß, dass Hei­ko Herr­lich und Mario Bas­ler in der Bun­des­li­ga­sai­son 1994/​95 mit jeweils 20 Tref­fern Tor­schüt­zen­kö­ni­ge der Bun­des­li­ga wur­den.

Der Sta­tis­tik­wahn der aktu­el­len Sport­be­richt­erstat­tung ist so, als ob man eine CD nach ihrer Spiel­zeit, der Beat­zah­len der ein­zel­nen Tracks und der Anzahl der Har­mo­nie­wech­sel bewer­ten wür­de. Man möch­te sich nicht vor­stel­len, wie sol­che Men­schen ihre Ehe­part­ner aus­su­chen. Wer die gan­ze Welt in angeb­lich objek­ti­ve Zah­len zer­legt, wird irgend­wann über­rascht fest­stel­len, dass er sie trotz­dem nicht ver­steht.

Und dann immer die­se Beno­tun­gen nach Fuß­ball­spie­len! Natür­lich hat Lukas Podol­ski am Don­ners­tag schlecht gespielt, aber was hat man davon, wenn man ihm dafür eine „6“ geben kann?

Wirt­schafts­ver­bän­de und Leh­rer kri­ti­sie­ren die Noten­ver­ga­be an Schu­len in ihrer aktu­el­len Form als wenig aus­sa­ge­kräf­tig. Ich habe es immer schon für Unfug gehal­ten, dass jemand, der Medi­zin stu­die­ren möch­te, dafür gute Schul­no­ten in Geschich­te, Eng­lisch, Sport und Reli­gi­on braucht. Und wenn Sie jetzt sagen: „Ja, aber irgend­wie muss man so eine Stu­di­en­platz­zu­las­sung ja regeln“, dann ent­geg­ne ich Ihnen: „Wenn unser Bil­dungs­sys­tem es nicht ein­mal auf die Ket­te bekommt, gerech­te und logi­sche Zulas­sungs­ver­fah­ren zu ent­wi­ckeln, dann brau­chen wir mit dem Ver­such, künf­ti­ge Eli­ten aus­zu­bil­den, ja gar nicht erst anzu­fan­gen!“

* * *

Im Novem­ber 2009 war aus einem Volk von 82 Mil­lio­nen poten­ti­el­len Bun­des­trai­nern kurz­zei­tig eine Nati­on von 82 Mil­lio­nen Psy­cho­lo­gen gewor­den: Nach dem Sui­zid des depres­si­ven Natio­nal­tor­hü­ters Robert Enke erklär­ten Funk­tio­nä­re, Fans und Medi­en, es müs­se ein soge­nann­tes Umden­ken ein­set­zen.

Wal­ter M. Stra­ten, damals stell­ver­tre­ten­der Sport­chef bei „Bild“, hat­te sich damals von der „Süd­deut­schen Zei­tung“ so zitie­ren las­sen:

„Wir wer­den wohl mit extre­men Noten etwas vor­sich­ti­ger sein“, sagt der stell­ver­tre­ten­de Bild-Sport­chef. Man wer­de sich ein­mal mehr über­le­gen, „ob der Spie­ler, der eine kla­re Tor­chan­ce ver­ge­ben hat, oder der Tor­wart, der den Ball hat durch­flut­schen las­sen, eine Sechs bekommt oder eine Fünf reicht“.

Schnell zeig­te sich, dass Stra­tens Aus­sa­ge exakt so ernst zu neh­men war, wie ande­re Aus­sa­gen der „Bild“-Chefredaktion.

In der Zwi­schen­zeit ist ein Bun­des­li­ga­trai­ner wegen Burn­outs zurück­ge­tre­ten, hat ein Schieds­rich­ter einen Sui­zid­ver­such unter­nom­men, wird einem Bun­des­li­ga­pro­fi vor­ge­wor­fen, sein Haus in Brand gesetzt zu haben.

Jedes Mal zei­gen sich alle ent­setzt und jedes Mal geht es danach wei­ter: Fuß­bal­ler sind ent­we­der Hel­den oder Luschen, es gibt nur hop oder top.

Als Fan fand ich den Satz „Es ist doch nur ein Spiel“, immer schlimm. Er kann nur von Men­schen kom­men, die selbst nie mit­ge­fie­bert und mit­ge­lit­ten haben. Aber an etwas ande­res soll­te man immer mal wie­der erin­nern: Die­se Göt­ter oder Ver­sa­ger, die da Tore schie­ßen oder Chan­cen ver­ge­ben, die bril­lant auf­spie­len oder gran­di­os ver­ge­ben, das sind letzt­end­lich auch nur Men­schen. Also: „nur“.

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What’s My Age Again?

Mit elf Jah­ren stand ich auf dem Neu­tor­platz in Dins­la­ken und hielt einem älte­ren Her­ren einen Kugel­schrei­ber unter die Nase. Der Mann hieß Hei­ner Geiß­ler und ich wuss­te, dass er Poli­ti­ker und irgend­wie berühmt war, also woll­te ich sei­ne Unter­schrift haben. Mei­ne Auto­gramm­samm­lung umfass­te anschlie­ßend vier Expo­na­te: Geiß­ler, Wil­ly Brandt (damals schon tot, von einem Kol­le­gen mei­nes Vaters geschenkt bekom­men), Franz Becken­bau­er (den mein Groß­va­ter gegen Unter­schrift auf dem Golf­platz hat­te vor­bei­zie­hen las­sen) und Klaus Staeck. Ich war in mei­nem Leben öfter auf Autoren­le­sun­gen und Aus­stel­lungs­er­öff­nun­gen gewe­sen als im Sta­di­on – und das nie­mals gegen mei­nen Wil­len. Man muss viel Lie­be auf­wen­den, um das irgend­wie als „nied­lich“ betrach­ten zu kön­nen. „Cool“ war es im Leben nicht.

Als ich 16 Jah­re alt war, lief in den Kinos „Ame­ri­can Pie“ an. Ich ging allei­ne ins Kino (mei­ne Freun­de hat­ten den Film schon alle gese­hen) und fand den Film maxi­mal halblus­tig. Am lau­tes­ten (und ein­sams­ten) gelacht habe ich, als in der Sze­ne, in der Stifler’s Mom Finch ver­führ­te, „Mrs. Robin­son“ erklang – dabei hat­te ich die „Rei­fe­prü­fung“ damals noch nie gese­hen, son­dern nur dar­über gele­sen. Der Sound­track zu „Ame­ri­can Pie“ wur­de trotz­dem zum Sound­track mei­ner Jugend: Ich glau­be, fast jeder die­ser 13 Songs der ers­ten elf Songs ist auf min­des­tens einem Mix­tape gelan­det. Es han­del­te sich dabei, so erfuhr ich, über­wie­gend um soge­nann­ten Fun-Punk, der nach Som­mer, Son­ne, Skate­boards und Schwach­sinn­trei­ben klang. Eine der dort ver­tre­te­nen Bands hieß Blink-182.

Ich hat­te „Ene­ma Of The Sta­te“, das Durch­bruch­s­al­bum von Blink-182 in Deutsch­land, nie selbst auf CD, aber die Hits kann­te ich, sogar mit den dazu­ge­hö­ri­gen Vide­os. Zum Bei­spiel das, in dem die Band­mit­glie­der nackt durch die Stra­ßen einer ame­ri­ka­ni­schen Stadt lie­fen. Mit 16 fand ich das pein­lich und puber­tär. „All The Small Things“ hin­ge­gen, wovon auch immer es han­deln soll­te, fand ich toll. Wir haben es sogar mal mit unse­rer „Punk­band“ „geco­vert“. ((Man kann dem Herr­gott gar nicht oft genug dan­ken, dass wir in einer Zeit auf­wach­sen dur­fen, als noch nicht jeder eine Video­ka­me­ra in sei­nem Mobil­te­le­fon hat­te. Die Video-8-Auf­nah­men, die von dem „Auf­tritt“ exis­tier­ten, sind hof­fent­lich schon lan­ge zer­fal­len.))

Am Nach­fol­ge­al­bum „Take Off Your Pants And Jacket“ stör­te mich schon der Titel (puber­tär!), wäh­rend mein damals 12jähriger Bru­der das Album rauf und run­ter lau­fen ließ. Span­nend fand ich die Band erst wie­der, als sie für ihr selbst­be­ti­tel­tes Album mit Robert Smith (kre­di­bel!) zusam­men­ar­bei­te­te. ((Als ich Thees Uhl­mann in Düs­sel­dorf zu jenem Inter­view traf, in des­sen Ver­lauf auch eine Kili­ans-Demo-CD den Besit­zer wech­seln soll­te, trug er einen Blink-182-Kapu­zen­pull­over, für den er sich zu Beginn des Gesprächs ent­schul­dig­te.))

Nach „Blink-182“, das ich über die Jah­re rich­tig lieb gewon­nen hat­te, war lan­ge erst mal Schluss mit der Band: Tom DeLon­ge mach­te mit Angels & Air­wa­ves wei­ter, Mark Hop­pus und Tra­vis Bar­ker mit +44 – bei­des gute Bands, aber trotz mei­ner eigent­lich gar nicht so engen Bezie­hung zu Blink nicht das sel­be.

Inzwi­schen habe ich mei­ne Puber­tät nach­ge­holt, habe bedeu­tend mehr Rock­mu­si­ker- als Poli­ti­ker­au­to­gram­me und bin mir für kaum einen Pim­mel­witz zu scha­de. Und weil die Pop­kul­tur beru­hi­gen­der­wei­se in Zyklen ver­läuft, kom­men alle die, die es damals nicht wirk­lich zu den Hel­den mei­ner Jugend geschafft haben, jetzt noch ein­mal vor­bei, damit wir uns gemein­sam (noch mal) jung füh­len kön­nen: Im April war ich auf einem Kon­zert, auf dem Andrew W.K. (den ich mit 18 total doof fand) sein gran­dio­ses Par­ty­epos „I Get Wet“ zur Auf­füh­rung brach­te, eine Woche spä­ter lief „Ame­ri­can Pie – Das Klas­sen­tref­fen“ in den deut­schen Kinos an, auf den ich mich tat­säch­lich mehr gefreut hat­te als auf mein eige­nes zehn­jäh­ri­ges Abitur­tref­fen. ((Das offen­sicht­lich auch nicht statt­fin­den wird.))

Und am Mon­tag dann end­lich Blink-182. Deren Come­back­al­bum „Neigh­bor­hoods“ hat­te ich zwar maxi­mal drei Mal gehört, aber dar­um ging es ja gar nicht, son­dern um die Songs von frü­her. Die Esse­ner Gru­ga­hal­le, berüch­tigt für ihre spe­zi­el­le Atmo­sphä­re, war gut gefüllt mit Men­schen Mit­te, Ende Zwan­zig, nur weni­ge waren jün­ger – das dann aber gleich gründ­lich. So vie­le T‑Shirts der auf­tre­ten­den Band sieht man ver­mut­lich sonst nur bei den Toten Hosen. Die bei­den Vor­grup­pen (Roy­al Repu­blic und The All Ame­ri­can Rejects) wur­den freund­lich emp­fan­gen, aber es war klar, wes­we­gen alle hier waren: Blink-182.

Als die dann mit „Fee­ling This“ los­leg­ten, war die Stim­mung sofort auf dem Sie­de­punkt, wie man als Lokal­jour­na­list schrei­ben wür­de. Es war wie damals in den Jugend­zen­tren und Par­ty­kel­lern – oder, in mei­nem Fall: so, wie ich anneh­me, dass es damals in den Jugend­zen­tren und Par­ty­kel­lern war. Die an ein öffent­li­ches Schwimm­bad gemah­nen­de Archi­tek­tur der Gru­ga­hal­le ver­schwand hin­ter den glück­li­chen, ver­schwitz­ten Gesich­tern wild durch die Gegend hüp­fen­der jun­ger (ja: jun­ger!) Men­schen.

Und dann: „All The Small Things“. Mit den Freun­den einen Kreis bil­den und hüp­fen. Hüp­fen, bis man das Gefühl hat, in der Luft ste­hen zu blei­ben. Die Welt und mit ihr die Hal­le mit den Tau­sen­den Men­schen dar­in, der Büh­ne und der Band, dre­hen sich wei­ter, doch die­ser Moment hier ist jetzt und für immer. Nana nana na nana­na nana, nana nana na nana­na nana. Wäre es über­trie­ben, zu behaup­ten, dass ich zwölf Jah­re dar­auf gewar­tet habe? Nein. Ich wuss­te es nur damals noch nicht.

Dann wei­ter: Minu­ten­lan­ge, atem­be­rau­ben­de Schlag­zeug­so­li von Tra­vis Bar­ker, Zuga­ben und am Ende ein Papier­schnip­sel­re­gen. Ein Fest.

Blink-182 in der Essener Grugahalle

Auf den Boden der Tat­sa­chen zurück­ge­holt wer­den wir von der EVAG, dem ver­mut­lich schlech­tes­ten Nah­ver­kehrs­an­bie­ter in einer euro­päi­schen Groß­stadt: Um Zwan­zig nach Elf fährt die letz­te U‑Bahn Rich­tung Innen­stadt und die vie­len, vie­len Kon­zert­be­su­cher ohne Auto pas­sen dort nicht hin­ein. Das heißt: Zunächst pas­sen die Aller­meis­ten doch hin­ein, aber die Bahn kann über zehn Minu­ten nicht los­fah­ren. Wir stei­gen wie­der aus, über­ir­disch fährt ein Kran­ken­wa­gen vor.

Und so gehen wir die drei Kilo­me­ter bis zum Haupt­bahn­hof zu Fuß, durch das um Vier­tel vor Zwölf schon völ­lig ver­wais­te „Sze­ne­vier­tel“ Rüt­ten­scheid. Immer­hin der Super­markt hat noch auf, wir kau­fen Bier für den wei­te­ren Weg. So wie die ande­ren Kin­der das mit 16 ver­mut­lich schon gemacht haben.

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Musik Rundfunk Digital

Not for sale

Am Sonn­tag­abend schau­te ich mir das auf DVD an, von dem ich annahm, dass es die letz­te Fol­ge „Skins“ sein wür­de: Die zehn­te Fol­ge der sechs­ten Staf­fel, die drit­te Gene­ra­ti­on der Haupt­cha­rak­te­re ist durch. Es war, nach einer schwer ent­täu­schen­den fünf­ten, eine erstaun­lich gute Staf­fel, die Zeit­an­zei­ge näher­te sich der 45-Minu­ten-Mar­ke und dann lief zur gro­ßen Abschluss­mon­ta­ge ein Lied, das ich auf Anhieb lieb­te.

Ich habe noch nicht vie­le Seri­en kom­plett durch­ge­guckt, aber ich erin­ne­re mich noch gut an das Fina­le von „Scrubs“ ((Also das eigent­li­che Fina­le von „Scrubs“, nicht die Unzu­mut­bar­kei­ten der neu­en Fol­gen.)) und wie ich danach tage­lang nur „The Book Of Love“ von Peter Gabri­el hören konn­te.

Wie auch bei „Scrubs“ wird es bei „Skins“ noch wei­ter­ge­hen: Eine fina­le Staf­fel, in der die Cha­rak­te­re aus allen drei Gene­ra­tio­nen auf­tau­chen wer­den, wird im kom­men­den Jahr lau­fen, was ich aber erst hin­ter­her gele­sen habe. Und wie auch bei „Scrubs“ hat­te ich anschlie­ßend das Pro­blem, dass ich die­sen gro­ßen, bedeu­ten­den, magi­schen Song nicht kau­fen konn­te.

„Don’t Go“ der erst 19-jäh­ri­gen Singer/​Songwriterin Rae Mor­ris ist bei War­ner Music UK erschie­nen und bis­her nur im bri­ti­schen iTu­nes-Store und bei amazon.co.uk zu kau­fen – das macht es mir als deut­schem Hörer qua­si unmög­lich, ((Ja, ich weiß: Es gibt Tricks und natür­lich hät­te ich mir bei mei­nem letz­ten Besuch im Ver­ei­nig­ten König­reich ein­fach mal einen bri­ti­schen iTu­nes-Gut­schein kau­fen kön­nen …)) die­sen Song legal zu erwer­ben.

Dabei wäre ich durch­aus bereit, mehr als die 99 bzw. 89 Pence dafür zu bezah­len, ich wür­de glatt zehn Pfund dafür hin­blät­tern, die­ses Lied end­lich auf mei­ner Fest­plat­te zu haben. Aber es geht nicht. Und so bekommt die jun­ge Frau, die die­ses für mich so bedeu­ten­de Lied geschrie­ben hat, jetzt eben kein Geld von mir – oder nur die paar Cent­bruch­stü­cke, die es abwirft, dass ich den Song seit zwei Tagen gefühl­te hun­dert Male auf ihrer Sound­cloud-Sei­te gehört habe.

Rae Mor­ris. · Don’t Go

Die­ser Ein­trag ist womög­lich ein Bei­trag zur Urhe­ber­rechts­de­bat­te.

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Musik

I’m serious, so come on

Der Früh­ling ist da: Die Son­ne scheint vom wol­ken­lo­sen Him­mel, Vögel und Mäd­chen sind aus dem Win­ter­schlaf erwacht und es ist wie­der an der Zeit, eines mei­ner abso­lu­ten Lieb­lings­al­ben zu hören.

Das war Quatsch: Es ist natür­lich immer an der Zeit, eines mei­ner abso­lu­ten Lieb­lings­al­ben zu hören, aber im Moment macht es noch viel mehr Spaß.

Das Album, um das es geht, stammt von der bri­ti­schen Band A (ein Name aus der Zeit, als Band­na­men noch nicht such­ma­schi­nen­op­ti­miert waren), heißt „Hi-Fi Serious“ und ist vor ziem­lich genau zehn Jah­ren erschie­nen. Theo­re­tisch müss­te ich die Band damals auch bei der Oster­rock­nacht in der Düs­sel­dor­fer Phil­ips­hal­le gese­hen haben, aber ich kann mich beim bes­ten Wil­len nicht dar­an erin­nern.

Damals hat­te ich zunächst aller­dings auch nur ein, zwei MP3s von dem Album, wie man das in Zei­ten von soge­nann­ten Netz­werktref­fen und Tausch­bör­sen damals eben so hat­te. Einer die­ser Songs, „Paci­fic Oce­an Blue“, war aller­dings auf mei­nem Mix­tape „05/​02“, das ich mir nach den letz­ten schrift­li­chen Abitur­prü­fun­gen auf­ge­nom­men hat­te und dann stän­dig gehört habe. Mit Zei­len wie „And the sum­mer is fore­ver /​ It’s the end­less sum­mer“ pass­te der Song aller­dings auch wie der sprich­wört­li­che Arsch auf Eimer zu den nai­ven All­machts­phan­ta­sien, die man als jun­ger Mensch eben hat, wenn man sechs bis acht Wochen kei­nen ande­ren Grund zum Auf­ste­hen hat, außer sich mit sei­nen Freun­den zu tref­fen, um wahl­wei­se Schwim­men, Gril­len oder Trin­ken zu gehen. ((Theo­re­tisch ist auch alles drei gleich­zei­tig mög­lich, aber ich bin am Nie­der­rhein auf­ge­wach­sen und der liegt – nun ja – am Rhein.))

Das gan­ze Album hat­te ich dann erst zwei Jah­re spä­ter und viel­leicht liegt es dar­an, dass auch damals grad Früh­ling war, aber „Hi-Fi Serious“ ist seit­dem mein aller­liebs­tes Son­nen­schein­al­bum. Schon bei den ers­ten Tak­ten von „Not­hing“ möch­te ich sofort los­ge­hen und mir ein Skate­board kau­fen. ((Ich habe mir mein ers­tes Skate­board mit 19 gekauft, als ich nach dem Zivil­dienst wie­der nichts zu tun hat­te. Nach eini­gen Fahr­ver­su­chen mit mei­nen gleich­alt­ri­gen, etwa gleich talen­tier­ten Freun­den, die wir alle immer­hin unver­letzt über­stan­den, hat sich mein klei­ner Bru­der das Ding gezockt und ich habe es seit­dem nicht mehr pro­biert.)) Ich könn­te über jeden ein­zel­nen Song schrei­ben, über das ver­knall­te „Something’s Going On“, die nied­li­che Kon­sum­kri­tik von „Star­bucks“ und über „Going Down“, das die letz­ten Minu­ten an Bord eines abstür­zen­den Flug­zeugs beschreibt, ((Auch kein The­ma, was man im Früh­jahr 2002 zwin­gend in einem Rock­song erwar­tet hät­te.)) oder über das wüten­de „W.D.Y.C.A.I.“, aber es ist das Album in sei­ner Gesamt­heit, das so groß­ar­tig ist.

„Hi-Fi Serious“ ist ein musik­ge­wor­de­ner Som­mer­nach­mit­tag. Ich lie­be die posi­ti­ve Ener­gie und die hör­ba­re Spiel­freu­de, die einem aus den Lie­dern ent­ge­gen­schlägt und die ich an Künst­lern wie The Hold Ste­ady, Andrew W.K. oder eben A so sehr schät­ze. Die Musik sorgt dafür, dass ich bei fast jedem Song (ein paar ruhi­ge­re sind ja auch dabei) durch die Gegend und am Liebs­ten mit einem lebens­ge­fähr­li­chen Stunt in den nächs­ten Swim­ming Pool hüp­fen möch­te.

Natür­lich sind wäh­rend mei­ner Jugend musi­ka­lisch anspruchs­vol­le­re, his­to­risch bedeut­sa­me­re Alben erschie­nen – aber kein Album die­ser Welt erin­nert mich so dar­an, wie es sich anfühlt, jung zu sein, wie „Hi-Fi Serious“ von A. In den Liner Notes schreibt Sän­ger Jason Per­ry über „Paci­fic Oce­an Blue“, für ihn hät­ten die Beach Boys den Som­mer erfun­den. Für mich waren es A.

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Rundfunk Fernsehen

Ein Abend mit Soße

Dafür, dass ich gele­gent­lich als „Medi­en­jour­na­list“ bezeich­net wer­de, kon­su­mie­re ich ver­gleichs­wei­se wenig Medi­en: Ich habe kein Abon­ne­ment einer Tages­zei­tung oder Zeit­schrift, ich höre täg­lich etwa 20 Minu­ten Radio am Früh­stücks­tisch und sehe außer­halb von Fuß­ball­über­tra­gun­gen und „Wer wird Mil­lio­när?“ eigent­lich kaum frei­wil­lig fern.

Jetzt aber hat­te ich außer­plan­mä­ßig einen beschäf­ti­gungs­frei­en Abend und weil etwa­ige Dead­lines noch viel zu weit weg waren, um mich halb­fer­ti­gen Pro­jek­ten zu wid­men, such­te ich mir eine Stel­le, an der mei­ne Couch noch nicht kom­plett durch­ge­le­gen ist, und schal­te­te den Fern­se­her ein. Das dau­ert bei mei­nem Digi­tal­re­cei­ver etwa 20 Sekun­den und erklärt viel­leicht, war­um ich so ungern fern­se­he.

Nach einer kur­zen Zap­ping-Ein­ge­wöh­nungs­pha­se lan­de­te ich beim MDR, einem für mich hoch­gra­dig rät­sel­haf­ten Sen­der. Ich geriet mit­ten hin­ein in „Echt – Das Maga­zin zum Stau­nen“, wo gera­de ein paar Feu­er­wehr­leu­te in ein Gebäu­de ein­dran­gen und sofort bewusst­los zu Boden gin­gen. Alles an die­ser Sen­dung wirk­te wie das, was ich von RTL 2 in Erin­ne­rung hat­te: Die nach­ge­stell­ten Sze­nen, die dazu­ge­hö­ri­ge Ton­spur mit dra­ma­ti­scher Musik und bedeu­tungs­schwan­ge­rem Off-Spre­cher, die Inter­views mit Betrof­fe­nen – sogar das Aus­se­hen der Bauch­bin­den, auf denen ihr Name stand. Alles schrie „Action“, und der Kon­trast zu dem bie­de­ren MDR-Logo oben rechts hät­te kaum grö­ßer sein kön­nen.

Tra­di­tio­nell spie­ßi­ges Regio­nal­fern­se­hen war Gott­sei­dank nur einen Tas­ten­druck ent­fernt, beim Hes­si­schen Rund­funk, der gera­de „Die Lieb­lings­ge­rich­te der Hes­sen“ kür­te. Dabei han­delt es sich um eine die­ser Lis­ten-Sen­dun­gen mit „pro­mi­nen­ten“ Stich­wort­ge­bern, die in den drit­ten Pro­gram­me der ARD inzwi­schen alle ande­ren For­ma­te erset­zen. Vom „Focus“ haben die Pro­gramm­ma­cher gelernt, dass sich alles in absur­den Ran­kings abbil­den lässt, und das wird jetzt gna­den­los durch­ge­zo­gen. Allein der HR hat im ver­gan­ge­nen Jahr 25 die­ser Sen­dun­gen aus­ge­strahlt, die Erst­aus­strah­lung der „Lieb­lings­ge­rich­te“ liegt immer­hin schon zwei­ein­halb Mona­te zurück. Ich kam gera­de recht­zei­tig, um u.a. den Komi­ker Bodo Bach, den ARD-Bör­sen­ex­per­ten Frank Leh­mann und ande­re, mir nicht bekann­te Hes­sen bei der Lob­prei­sung der „Grü­nen Soße“ zu beob­ach­ten. Mit gro­ßer Ernst­haf­tig­keit spra­chen sie über die Varie­tä­ten der Rezep­tur, konn­ten mir das gezeig­te Essen oder gene­rell die hes­si­sche Lebens­art dabei aber auch nicht schmack­haf­ter machen.

Auf Eins Extra erwisch­te ich im Anschluss die End­aus­läu­fer einer Wie­der­ho­lung von „Hart aber fair“, was ich eigent­lich aus Prin­zip nicht gucken kann. Im spe­zi­el­len Fall sprach aber gera­de Prof. Hell­muth Kara­sek über die Gemein­sam­kei­ten von Robert Musils „Die Ver­wir­run­gen des Zög­lings Tör­leß“ und dem Inter­net, nach­dem kurz zuvor der mir durch zahl­rei­che Tele­fon­ge­sprä­che bekann­te Medi­en­an­walt Ralf Höcker erklärt hat­te, wie man unlieb­sa­me Infor­ma­tio­nen über sich aus dem Inter­net löschen las­sen kann. „Was zum Hen­ker ist denn da das The­ma“, dach­te ich und war auch schon gefan­gen genom­men von Kara­sek, Höcker, Tho­mas Gott­schalk, Ross Ant­o­ny und Mir­jam Weich­sel­braun, die die Fra­ge ver­han­del­ten, wie viel Öffent­lich­keit der Mensch ver­tra­ge. Der­lei Fern­seh­dis­kus­sio­nen sind ja in der Regel so ergie­big wie Dis­kus­sio­nen im Inter­net, also: gar nicht, und das war doch mal eine schö­ne Erkennt­nis, dass das Inter­net, das Fern­se­hen und Robert Musil so viel gemein­sam haben. Außer­dem muss­te ich durch Zufall die ein­zi­ge Talk­show des Jah­res erwischt haben, in der weder Peter Hint­ze noch Niko­laus Blo­me saßen. Nicht mal Richard David Precht war anwe­send, dafür mach­te Kara­sek den ahnungs­lo­sen Frank Plas­berg kurz mit der Radio­theo­rie des Ber­tolt Brecht bekannt.

Zeit für den ZDF Info­ka­nal und den Mann, auf den ich schon den gan­zen Abend gewar­tet hat­te: Adolf Hit­ler. Irgend­ein His­to­ri­ker oder Medi­en­wis­sen­schaft­ler wird sicher schon her­aus­ge­fun­den haben, dass Hit­ler dank der vie­len Doku­men­ta­tio­nen auf n‑tv, N24 und eben ZDF info fast 70 Jah­re nach Kriegs­en­de pro Tag mehr Sen­de­zeit hat als zu Leb­zei­ten im staat­li­chen Rund­funk. Im kon­kre­ten Fall saß Hit­ler mal wie­der im Bun­ker. Auf einen Spoi­ler-Alert kann ich glaub ich ver­zich­ten, aber eine digi­tal ani­mier­te Kame­ra­fahrt durch den Pri­vat­raum, in dem Hit­ler und Eva Braun star­ben, hat­te ich noch nicht gese­hen. Die anschlie­ßen­de Schil­de­rung, wie ein Zeu­ge den Füh­rer auf­ge­fun­den hat­te, war dann lei­der nicht bebil­dert.

Nicht mit Ani­ma­tio­nen geiz­te auch die anschlie­ßen­de Doku­men­ta­ti­on über den Vesuv und die Gefahr, die von ihm aus­ging. Als hät­te Roland Emme­rich Pli­ni­us den Jün­ge­ren ver­filmt, konn­ten die Zuschau­er den kom­men­den Unter­gang Nea­pels beob­ach­ten, anmo­de­riert von drei armen Wis­sen­schaft­lern, die in einer Lager­hal­le Spiel­sze­nen­ar­tig die Rah­men­hand­lung geben muss­ten. Zusam­men­fas­send lässt sich wohl sagen, dass man so einem Vul­kan­aus­bruch bes­ser aus dem Weg gehen soll­te, wenn er sich denn so ereig­nen soll­te, wie er „zumin­dest nicht unwahr­schein­lich“ skiz­ziert, ach was: in Öl gemalt wur­de.

Da auch Umschal­ten bei mei­nem Recei­ver unan­stän­dig viel Zeit in Anspruch nimmt, blieb ich wei­ter beim ZDF Info­ka­nal, wo sie im Anschluss einen PKW fern­steu­er­ten. Na gut, dann viel­leicht doch noch mal von vor­ne durch­zap­pen. Im Ers­ten tra­fen sich inzwi­schen „Men­schen bei Maisch­ber­ger“ und nach dem irri­tie­ren­den „Hart aber Fair“-Erlebnis war hier wie­der alles wie erwar­tet: Da saßen fünf, sechs Leu­te in einer Sofa­land­schaft und schrie­en sich an. Puh, schnell wei­ter. Im ZDF erklär­te Harald Lesch, wir Men­schen, „Sie, ich, wir alle“, wür­den zu 92 Pro­zent aus Ster­nen­staub bestehen. Das habe auch Nova­lis schon geschrie­ben, nur anders gemeint.

Das reich­te. Ich konn­te nicht mehr.

Musik!


Moby – We Are All Made Of Stars von EMI_​Music

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Leben

Das Amt

Die aus­ge­klü­gel­te deut­sche Büro­kra­tie ist sicher nur erfun­den wor­den, damit Kolum­nis­ten und Kaba­ret­tis­ten sich dar­über auf­re­gen und Leh­rer mit Adolf-Sau­er­land-Bär­ten und Leder­wes­ten „ja, genau“ rufen kön­nen.

Anders gesagt: Ich brauch­te einen neu­en Rei­se­pass. Im Mai geht’s nach Aser­bai­dschan und der alte Pass ist im ver­gan­ge­nen Juli abge­lau­fen. Außer­dem brau­che ich einen Ort, wo ich mei­ne weit­ge­hend unge­nutz­te „Miles & More“-Karte der Luft­han­sa depo­nie­ren kann, und da hat sich der Rei­se­pass in der Ver­gan­gen­heit als guter Platz erwie­sen. Braucht man ja dann eh bei­des zusam­men.

Über Wochen habe ich mich aus zwei Grün­den um die­ses Vor­ha­ben gedrückt: Ers­tens mei­ne Abnei­gung gegen­über War­te­räu­men aller Art, zwei­tens das Pass­fo­to. „Viel­leicht doch erst zum Fri­seur“, habe ich gedacht, aber da hät­te ich unter Umstän­den wie­der war­ten müs­sen, also hab ich es gar nicht erst ver­sucht und ein­fach auf einen Good Hair Day gewar­tet. Die Son­ne schien, das Radio hat­te mich am Mor­gen mal nicht mit Nickel­back begrüßt, die Haa­re taten nach dem Duschen unge­fähr das, was ich von ihnen erwar­tet hät­te, kurz­um: Es war die Gele­gen­heit, die ver­damm­ten Fotos machen zu las­sen und den Rei­se­pass in Angriff zu neh­men.

Tat­säch­lich gelang es den Mit­ar­bei­tern im ört­li­chen Foto­gra­fie­fach­ge­schäft, ein bio­me­tri­sches Bild von mir anzu­fer­ti­gen, auf dem ich aus­nahms­wei­se nicht wie ein soeben fest­ge­nom­me­ner Seri­en­kil­ler oder Jour­na­list aus­se­he. Im Zwei­fels­fall könn­te ich die über­zäh­li­gen Pass­bil­der sogar mei­nen Groß­el­tern zu Weih­nach­ten schen­ken, wenn mir mal wie­der nichts ein­fällt. Im Prin­zip ist das aber eh egal, denn das schlimms­te Foto, das jemals von mir ange­fer­tigt wur­de, ziert eh mei­nen Füh­rer­schein, der nie erneu­ert wer­den muss.

Dann ging ich ins Rat­haus zum Bür­ger­bü­ro, zog eine Num­mer und längst ver­dräng­te Erin­ne­run­gen stie­gen in mir wie­der auf. Dar­an, wie ich vor acht Jah­ren bei mei­nem Umzug nach Bochum gefühl­te vier Stun­den hat­te war­ten müs­sen. Oder dar­an, wie ich bei der Bean­tra­gung eines neu­en Per­so­nal­aus­wei­ses nach ein­stün­di­ger War­te­zeit dar­über infor­miert wur­de, dass mein Pass­fo­to nicht den Anfor­de­run­gen ent­spre­chen wür­de. ((Ich ging am nächs­ten Tag ein­fach in eine Zweig­stel­le des Bür­ger­bü­ros, wo das sel­be Foto anstands­los akzep­tiert wur­de.)) Doch dies­mal war ich vor­be­rei­tet: Ich hat­te Buch und Kopf­hö­rer dabei und mich vor­her infor­miert, wo ich mich fuß­läu­fig mit Lebens­mit­teln, Geträn­ken und Bett­de­cken ver­sor­gen könn­te.

Ich has­se, wie gesagt, War­te­räu­me aller Art. Dabei ist es weit­ge­hend egal, ob am Ende der War­te­zeit eine zahn­ärzt­li­che Behand­lung, ein Lang­stre­cken­flug oder der Ver­such ansteht, einen Rei­se­pass zu bean­tra­gen. Beim War­ten den­ke ich die gan­ze Zeit dar­an, wie schön ich zur glei­chen Zeit zuhau­se vor mei­nem Com­pu­ter oder Fern­se­her (oder bei­dem) hocken und mei­ne Zeit nach eige­nem Ermes­sen ver­schwen­den könn­te. Außer­dem habe ich tief in mir eine laten­te Angst vor dem deut­schen Büro­kra­tie­ap­pa­rat. Ich male mir immer aus, dass ich beim letz­ten Umzug irgend­ein For­mu­lar falsch aus­ge­füllt haben könn­te und jetzt offi­zi­ell als tot gel­te, wobei auch noch eine mir unbe­kann­te Per­son Wit­wen­ren­te bezieht, weil die ihr For­mu­lar eben­falls nicht kor­rekt aus­ge­füllt hat­te und die Dame vom Amt dann noch irgend­was durch­ein­an­der­ge­bracht hat.

„Es war­ten 15 Per­so­nen vor Ihnen“, hat­te mich der Zet­tel mit mei­ner Num­mer drauf („Auf kei­nen Fall ver­lie­ren!“) infor­miert. Nach zwan­zig Minu­ten waren davon fünf auf­ge­ru­fen wor­den und ich such­te schon mal unauf­fäl­lig nach dem geeig­nets­ten Schlaf­platz in die­sem War­te­raum, der den Charme eines unter­ir­di­schen Eis­ca­fés ver­sprüh­te, des­sen Ein­rich­ter als ein­zi­ge Anwei­sung erhal­ten hat­ten, dass die Möbel auch bei einem even­tu­el­len Ein­satz als Schlag­waf­fe nicht kaputt­ge­hen und dar­über hin­aus leicht abzu­kär­chern sein soll­ten. Auf einem Flach­bild­schirm wur­den die Num­mern ange­zeigt und die Tische, an die man sich zu bege­ben hat­te, auf einem Flach­bild­schirm dane­ben lie­fen Bil­der vom schöns­ten Ort Bochums, dem West­park. Damit der Drang, sofort raus­zu­ren­nen, nicht zu groß wur­de, hat­te man die Auf­nah­men aber sicher­heits­hal­ber im Win­ter ange­fer­tigt, als die Bäu­me noch kahl waren. Gera­de als die Zufalls­wie­der­ga­be mei­nes Han­dys „Fickt das Sys­tem“ von Die Ster­ne spiel­te, leuch­te­te mei­ne Num­mer auf und ich mach­te mich unter Zuhil­fe­nah­me all mei­ner Jac­ques-Tati-Imi­ta­ti­ons­küns­te auf die Suche nach Tisch 6.

Ich trug der Sach­be­ar­bei­te­rin mein Anlie­gen vor und wäh­rend sie die nöti­gen Unter­la­gen aus­druck­te, stell­te ich wie­der mal fest, was für ein zyni­sches, men­schen­ver­ach­ten­des Kon­zept die­sen Bür­ger­bü­ros, die Ende der 1990er Jah­re über­all aus dem Boden gestampft wur­den, doch zugrun­de liegt: Wäh­rend ich in der Apo­the­ke mit Mar­kie­run­gen auf dem Boden auf­ge­for­dert wer­de, Dis­kre­ti­on zu wah­ren, sitzt hier in die­sem völ­lig offe­nen Bür­ger­bü­ro zwei Meter neben mir ein Mann, der sich in einer von Franz Kaf­ka höchselbst erson­ne­nen Logik­schlei­fe befin­det, und alle Umsit­zen­den krie­gen jedes Wort mit. Dass er sei­nen bean­trag­ten Per­so­nal­aus­weis nicht bezah­len kann, weil er kein Kon­to hat, aber kein Kon­to eröff­nen kann, weil er kei­nen gül­ti­gen Per­so­nal­aus­weis besitzt. Der dicke Sach­be­ar­bei­ter sag­te, er kön­ne da auch nichts machen, der Mann wur­de lau­ter und ver­ließ irgend­wann unter mit­tel­lau­tem Flu­chen das Bür­ger­bü­ro. Mei­ne Sach­be­ar­bei­te­rin warf mir einen viel­sa­gen­den Blick zu und ich schick­te spon­tan ein Stoß­ge­bet zum Lie­ben Gott, dass ich bit­te nie­mals eine Arbeits­agen­tur von innen sehen möge.

Dann muss­te ich For­mu­la­re aus­fül­len, wofür es unter ande­rem not­wen­dig war, dass ich mich erin­ner­te, ob ich den Streit­kräf­ten eines ande­ren Lan­des gedient hat­te. Da ich mir sicher war, den Dschun­gel-Ein­satz mit der Frem­den­le­gi­on nur geträumt zu haben, kreuz­te ich „Nein“ an. Dann muss­te ich auf einem Aus­druck unter­schrei­ben: „Sie kön­nen das gan­ze Feld nut­zen, aber nicht in den schwar­zen Bereich rein­schrei­ben!“ Zum Glück kann man das For­mu­lar offen­bar mehr­fach aus­dru­cken.

An einer Stel­le muss­te ich kurz auf mei­nem Han­dy nach­se­hen, ob wir tat­säch­lich das Jahr 2012 hat­ten, denn ich wur­de Zeu­ge eines beein­dru­cken­den Bei­spiels für die soge­nann­te Medi­en­kon­ver­genz: Die Sach­be­ar­bei­te­rin nahm das Foto, das der Mann vom Foto­la­den (nen­nen wir ihn Herrn Ärmel) zuvor mit einer Digi­tal­ka­me­ra von mir gemacht und auf Foto­pa­pier aus­ge­druckt hat­te, kleb­te es auf das Blatt Papier, auf dem ich gera­de unter­schrie­ben hat­te, und leg­te die­ses Blatt auf einen Scan­ner. Nach einer hal­ben Minu­te war mein Foto im Sys­tem, die Frau knib­bel­te es wie­der von dem Papier ab und gab es mir zurück. Ich hat­te 13 Euro für vier Fotos bezahlt, von denen ich nur eines brauch­te, und das auch nur für eine hal­be Minu­te.

Erstaun­li­cher­wei­se hol­te sie dann aber kein Stem­pel­kis­sen her­vor, um die Abdrü­cke mei­ner Zei­ge­fin­ger erst auf einem Blatt Papier zu neh­men und dann ein­zu­scan­nen – Nein! – zu ihrem Arbeits­platz gehört (wie zu mut­maß­lich allen ande­ren Arbeits­plät­zen in die­sem rie­si­gen Raum) ein Fin­ger­ab­druck­scan­ner, mit dem sie die Lini­en auf mei­nen Fin­ger­kup­pen direkt in ihr Sys­tem über­tra­gen konn­te. Die Abdrü­cke wür­den weder bei ihr noch in der Bun­des­dru­cke­rei dau­er­haft gespei­chert, spul­te sie die Daten­schutz­er­klä­rung ab, sie wür­den ledig­lich auf einem Chip im Pass gespei­chert. Ich nick­te und ver­zich­te­te auf den Scherz, dass ich mei­nen Pass als ers­tes in die Mikro­wel­le legen wür­de.

Es ging ans Zah­len und ich war froh, mir vor­ab auf der Inter­net­sei­te der Stadt Bochum die Preis­lis­te ange­schaut zu haben. ((Wie auch immer ich die gefun­den haben mag.)) 59 Euro kos­tet so ein Rei­se­pass für zehn Jah­re, dafür bekommt man in Oslo zum Bei­spiel ein Eis. In etwa drei Wochen muss ich wie­der hin und mei­nen Pass abho­len. Dafür muss ich dann „eine Sie­ben­hun­der­ter-Num­mer“ zie­hen, mit denen man direkt zur Abhol­stel­le vor darf.

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Musik

Up and coming

Din­ge, die ich nor­ma­ler­wei­se auf Pres­se­kon­fe­ren­zen mache: Käst­chen auf mei­nen Notiz­block malen; mich über die Fra­gen der anwe­sen­den Jour­na­lis­ten auf­re­gen; in den aus­ge­teil­ten Pres­se­mit­tei­lun­gen lesen, was die Leu­te gleich noch sagen wer­den; The­men­be­rei­che anspre­chen, die noch nicht ange­spro­chen wur­den (sel­ten).

Din­ge, die ich auf Pres­se­kon­fe­ren­zen eher sel­ten mache: Gro­ße Augen krie­gen; nach jemand Ver­trau­tem Aus­schau hal­ten, dem ich freu­de­strah­lend zulä­cheln kann; am Liebs­ten „Yeah!“ brül­len wol­len.

Letz­te Woche war einer die­ser sel­te­ner Fäl­le. Nach­dem für das dies­jäh­ri­ge Zelt­fes­ti­val Ruhr mit Acts wie Sta­tus Quo, Sun­ri­se Ave­nue, Tim Bendz­ko und Sil­ly schon ande­re Ziel­grup­pen ver­sorgt waren, fiel auf der Pres­se­kon­fe­renz der Name Ed Sheeran und ich hät­te am Liebs­ten „Yeah!“ gebrüllt.

Ed Sheeran hat­te ich bei mei­nen Songs und Alben des letz­ten Jah­res sehr weit oben auf der Lis­te. Ver­gan­ge­ne Woche ist sein phan­tas­ti­sches Debüt „+“ auch in Deutsch­land erschie­nen, nach­dem Kat­ja Petri schon ein paar Wochen zuvor sei­nen Song „Lego House“ bei „Unser Star für Baku“ gesun­gen hat­te.

Am 28. August wird Ed Sheeran also beim Zelt­fes­ti­val Ruhr auf­tre­ten und ich wer­de da sein. Der Vor­ver­kauf hat heu­te begon­nen.

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Rundfunk

Bretter, die die Welt bedeuten

Vor etwa vier Wochen habe ich auf Face­book ein Video ent­deckt, das ich seit­dem etwa eine Mil­li­on mal ange­schaut habe.

Hier mal die Ver­si­on von You­Tube, wo das Video seit März 2009 zu sehen ist:

Die ers­ten zwan­zig, drei­ßig Male habe ich anschlie­ßend vor Lachen kei­ne Luft mehr bekom­men, aber inzwi­schen geht’s.

So unge­fähr alles an die­sem Video ist rät­sel­haft — und damit mei­ne ich nicht ein­mal die Fra­ge, ob es irgend­je­man­den auf die­sem Pla­ne­ten gibt, der sagt: „Hey, rutsch­fes­te Küchen­bret­ter! Das hab ich mir immer gewünscht! Komisch, dass es die erst jetzt gibt.“

Ich mei­ne: Was macht der Mann da? Wer im Sport­un­ter­richt mal Gerä­te­tur­nen auf dem Lehr­plan hat­te, weiß, wie schwer es ist, über einen Kas­ten oder einen Bock zu kom­men. Jer­ry Knoll (so, haben mei­ne Recher­chen erge­ben, heißt der Mann) fliegt aus dem Stand über die hal­be The­ke und zieht sich dann, einem Rod­ler gleich, nach vor­ne.

In die­sem Clip, den QVC im ver­gan­ge­nen Dezem­ber ver­öf­fent­licht hat, sieht man es noch bes­ser:

Eine mög­li­che Erklä­rung für die­sen Move wäre die Fern­be­die­nung in der Hand von Chris­ti­ne Marks: Sekun­den, bevor Knoll abhebt, sen­det die­se Fern­be­die­nung offen­bar irgend­ein Signal aus, jeden­falls leuch­tet sie vor­ne. Was will die Frau in einer Sen­dung für Koch­ge­rä­te über­haupt mit einer Fern­be­die­nung — außer, ihren Gast mit­hil­fe eines klei­nen Kata­pults, eines Trak­tor­strahls oder irgend­ei­ner ande­ren Vor­rich­tung über die The­ke zu schleu­dern?

Und woher nimmt der Kame­ra­mann, der ja bis zu die­sem Moment eine eher behä­bi­ge Prä­sen­ta­ti­on von Küchen­uten­si­li­en ein­ge­fan­gen hat, die Geis­tes­ge­gen­wart, in die­sem Moment auf­zu­zie­hen, und den Stunt somit in vol­ler Schön­heit in die hei­mi­schen Wohn­zim­mer vol­ler Tif­fa­ny-Lam­pen, Por­zel­lan­pup­pen und Schmink­uten­si­li­en zu über­tra­gen?

All das ist merk­wür­dig, meis­ter­haft aber ist Knolls Aus­ruf: „Uargh, die Bret­ter!“, den er wäh­rend des Falls absetzt und mit einem „Da sind sie!“ abschließt, das vie­le Inter­net­kom­men­ta­to­ren an Gollum aus „Der Herr der Rin­ge“ erin­ner­te.

Ich habe einen guten Teil der letz­ten vier Wochen damit zuge­bracht, die­sen Aus­ruf in sei­ner rhei­ni­schen Fär­bung genau­es­tens zu stu­die­ren und nach­zu­ah­men. Mit ein wenig Kon­zen­tra­ti­on ist es mir auch gelun­gen, mich der­art zu kon­di­tio­nie­ren, dass ich mitt­ler­wei­le ohne nach­zu­den­ken „Uargh, die Bret­ter!“ aus­ru­fe, wann immer mir etwas run­ter­fällt — also etwa 40 Mal am Tag.

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Musik

Stay Another Day

2012 hat sich offen­bar dazu ent­schlos­sen, musi­ka­lisch „mein“ Jahr zu wer­den. Nicht nur, dass die Kili­ans ihr drit­tes Album auf­neh­men, auch Ben Folds Five haben sich nach über 12 Jah­ren wie­der zusam­men­ge­tan, um gemein­sam eine Plat­te ein­zu­spie­len, und als rei­che das alles noch nicht, erwar­tet mich auch noch ein neu­es Werk der Lieb­lings­band mei­ner Tween­ager-Jah­re.

Jawohl: East 17 sind zurück! Mal wie­der. Anders als beim letz­ten Come­back ist dies­mal Tony Mor­ti­mer wie­der an Bord, dafür fehlt Bri­an Har­vey (der es immer­hin fer­tig gebracht hat, von sei­nem eige­nen Mer­ce­des über­fah­ren zu wer­den, wäh­rend er am Steu­er saß).

Im ver­gan­ge­nen Herbst gab es schon mal eine neue Sin­gle mit Kurz­zeit-Band­mit­glied Blair Dre­e­lan, die das Aller­al­ler­al­ler­schlimms­te befürch­ten ließ, und jetzt gibt es den neu­en Song mit dem däm­li­chen Titel „I Can’t Get You Off My Mind (Cra­zy)“, der … äh … also …

Sehen Sie selbst:

East 17 mit Band! Tony Mor­ti­mer mit E‑Gitarre! Und der Song könn­te auch von Snow Pat­rol sein, ist aber noch ein biss­chen lang­wei­li­ger. (Ich kann Ihnen aber ver­spre­chen, dass Sie den Refrain ab dem vier­ten Mal Hören nur schwer wie­der los­wer­den.)

Gut, die Reak­tio­nen des Publi­kums wir­ken ein biss­chen über­trie­ben, aber dafür zeigt John Hen­dy einen inter­es­san­ten Auto­scoo­ter-Tanz­mo­ve – wobei die ange­deu­te­ten Lenk­be­we­gun­gen natür­lich auch ein Ver­weis auf Bri­an Har­veys Mer­ce­des-Zwi­schen­fall sein könn­ten.

Ins­ge­samt ist das alles weit­ge­hend ver­stö­rend, aber auch irgend­wie ein­la­dend auf ’ne Art. Ich bin jetzt jeden­falls tat­säch­lich ein klei­nes biss­chen gespannt auf „Dark Light“, das im April erschei­nen soll.

Die Song­ti­tel klin­gen jeden­falls alle schon mal sehr … viel­ver­spre­chend:

1. I Can’t Get You Off My Mind (Cra­zy)
2. Cra­zy Fool
3. Night­li­fe
4. Coun­ting Clouds
5. Break Ur Heart
6. Fri­day Night
7. Kiss Of Win­ter
8. Bro­ken Valen­ti­ne
9. Whe­re Does Love Go
10. You Must Be An Angel

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Literatur Gesellschaft

Woanders is‘ auch scheiße

Wenn ich Men­schen aus dem Aus­land erklä­ren soll, wo ich her­kom­me, höre ich mich immer noch viel zu oft mit „near Colo­gne“ ant­wor­ten. Bei den meis­ten Ame­ri­ka­nern kann man ja froh sein, wenn sie davon mal gehört haben. Bri­ten hin­ge­gen ken­nen, so sie denn mini­mal fuß­ball­in­ter­es­siert sind, natür­lich Dort­mund und Schal­ke, manch­mal sogar Bochum. Die „Ruhr Area“ aller­dings ist eher was für Leu­te, die im Erd­kun­de­un­ter­richt gut auf­ge­passt haben, aber so wür­den eh nur die Wenigs­ten über ihre Hei­mat spre­chen.

Bergbaumuseum Bochum

Das Ver­hält­nis der „Ruhr­is“ zum Ruhr­ge­biet ist ein zutiefst ambi­va­len­tes: Eine unheil­vol­le Mischung aus Lokal­pa­trio­tis­mus und Selbst­ver­ach­tung, aus Stolz und Skep­sis, Tra­di­ti­ons­be­wusst­sein und Wur­zel­lo­sig­keit führt dazu, dass sich im fünft­größ­ten Bal­lungs­raum Euro­pas nie­mand zuhau­se fühlt. Ein Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl ent­steht erst ganz lang­sam, Jahr­zehn­te nach der Blü­te­zeit der Ruhr­in­dus­trie und auch recht wider­wil­lig.

Kon­rad Lisch­ka und Frank Pata­long stam­men auch aus dem Ruhr­ge­biet. Lisch­ka ist 32 und in Essen auf­ge­wach­sen, Ptalaong 48 und aus Duis­burg-Wal­sum. Heu­te arbei­ten bei­de bei „Spie­gel Online“ in Ham­burg, aber sie haben ein Buch geschrie­ben über die „wun­der­ba­re Welt des Ruhr­potts“: „Dat Schöns­te am Wein is dat Pils­ken danach“.

Der Alters­un­ter­schied der bei­den und ihre unter­schied­li­che Her­kunft (Lisch­ka kam mit sei­nen Eltern aus Polen ins Ruhr­ge­biet, Pata­long ist Kind einer Arbei­ter­fa­mi­lie) machen den beson­de­ren Reiz des Buches aus, denn ihre Hin­ter­grün­de sind gera­de unter­schied­lich genug, um fast das gan­ze Ruhr­ge­biet an sich zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Lisch­ka ist (wie ich auch) ohne nen­nens­wer­te Schwer­indus­trie vor Augen auf­ge­wach­sen, bei Pata­long konn­te man die Wäsche tra­di­tio­nell nicht drau­ßen trock­nen las­sen, weil sie dann schwarz gewor­den wäre. Sie beschrei­ben eine Regi­on, die bin­nen kür­zes­ter Zeit von Men­schen aus halb Euro­pa besie­delt wur­de, die jetzt alle in ihren eilig hoch­ge­zo­ge­nen Sied­lun­gen hocken und fest­stel­len, dass die Gold­grä­ber­zeit lan­ge vor­bei ist. Für die meis­ten endet die Welt immer noch an der Stadt­teil­gren­ze, wofür Lisch­ka das wun­der­schö­ne Wort „Lokalst­pa­trio­tis­mus“ erson­nen hat. Ent­schul­di­gung, ich komm aus Epping­ho­ven, was soll ich da mit jeman­dem aus Hies­feld? ((Bei­des sind Stadt­tei­le von Dins­la­ken, was schon in Köln kei­ner mehr kennt.))

Das Buch ist geprägt von der so typi­schen Hass­lie­be der Ruhr­ge­biets­ein­woh­ner zu ihrer … nun ja: Hei­mat, zusam­men­ge­fasst im Aus­spruch „Woan­ders is‘ auch schei­ße“. Men­schen, die sich gott­weiß­was dar­auf ein­bil­den, aus einer bestimm­ten Stadt zu stam­men oder dort wenigs­tens „ange­kom­men“ zu sein, fin­det man viel­leicht in Düs­sel­dorf, Mün­chen oder Ham­burg, aber nicht im Ruhr­ge­biet. Wir sind nur froh, wenn man uns nicht mit Din­gen wie einem „Kul­tur­haupt­stadt­jahr“ behel­ligt, und packen alle Möch­te­gern-Hips­ter mit Röh­ren­jeans, asy­m­e­tri­schem Haar­schnitt und Jute­beu­tel in den nächs­ten ICE nach Ber­lin. Hier bit­te kei­ne Sze­ne, hier bit­te über­haupt nichts, Dan­ke! ((Ver­zei­hung, ich bin da etwas vom The­ma abge­kom­men. Aber ich woh­ne in einem soge­nann­ten „Sze­ne­vier­tel“ und wer­de da schnell emo­tio­nal.))

Emschermündung bei Dinslaken

Ich fürch­te, dass das Buch für Men­schen, die kei­ner­lei Ver­bin­dung zum Ruhr­ge­biet haben, des­halb in etwa so inter­es­sant ist wie eines über das Paa­rungs­ver­hal­ten perua­ni­scher Wald­amei­sen. Es muss von einer völ­lig frem­den Welt erzäh­len, in der Kin­der auf qual­men­de Abraum­hal­den klet­tern, die Leu­te eine Art Blut­pud­ding essen, der Pan­has heißt, und in der eine Spra­che gespro­chen wird, die im Rest der Repu­blik ein­fach als „fal­sches Deutsch“ durch­geht.

Aber wer von hier „wech kommt“, der wird an vie­len Stel­len „ja, genau!“ rufen – oder sich wun­dern, dass er die Gegend, in der er auf­ge­wach­sen ist, so ganz anders wahr­ge­nom­men hat, denn auch das ist typisch Ruhr­ge­biet. Frank Pata­long erklärt an einer Stel­le, wel­cher Ort im Ruhr­ge­biet bei ihm immer ein Gefühl von Nach­hau­se­kom­men aus­löst, und obwohl ich da noch nie drü­ber nach­ge­dacht habe, bin ich in die­sem Moment voll bei ihm: Auf der Ber­li­ner Brü­cke, der „Nord-Süd-Ach­se“, auf der die A 59 die Ruhr, den Rhein-Her­ne-Kanal und den Duis­bur­ger Hafen über­spannt. Wenn wir frü­her aus dem Hol­land-Urlaub kamen, war dies der Ort, an dem wir wuss­ten, dass wir bald wie­der zuhau­se sind, und auch heu­te ist das auf dem Weg von Bochum nach Dins­la­ken der Punkt, wo ich mei­ne Erwach­se­nen­welt des Ruhr­ge­biets ver­las­se und in die Kind­heits­welt des Nie­der­rheins zurück­keh­re.

Lisch­ka und Pata­long ver­klä­ren nichts, sie sind mit­un­ter für mei­nen Geschmack ein biss­chen zu kri­tisch mit ihrer alten Hei­mat, aber dabei spre­chen sie Punk­te an, die mir als immer noch hier Leben­dem in der Form wohl nie auf­ge­fal­len wären. Zum Bei­spiel das stän­di­ge Schimp­fen auf „die da oben“, das bei den hie­si­gen Lokal­po­li­ti­kern lei­der zu min­des­tens 80% berech­tigt ist, das aber auch zu einer gewis­sen Kul­tur- und Intel­lek­tu­el­len­feind­lich­keit geführt hat. Die Zei­ten, in denen man sich als Arbei­ter­kind in sei­ner alten Umge­bung recht­fer­ti­gen muss­te, weil man zur Uni ging, dürf­ten vor­bei sein, aber ein Blick in die Kom­men­ta­re unter einem belie­bi­gen Arti­kel beim Lokal­rum­pel­por­tal „Der Wes­ten“ zeigt, dass Muse­en, Biblio­the­ken oder Thea­ter zumin­dest für eini­ge Ein­woh­ner des Ruhr­ge­biets immer noch „über­flüs­si­ger Schnick­schnack“ sind.

Graffito an der S-Bahn-Station Bochum-Ehrenfeld

Und wäh­rend ich dar­über nach­den­ke, dass die Arbei­ter in Liver­pool, Detroit oder New Jer­sey irgend­wie sehr viel mehr für ihren Stolz berühmt sind und dann teil­wei­se auch noch Bruce Springsteen haben, fällt mir auf, dass ich zumin­dest selbst natür­lich wahn­sin­nig stolz bin auf die­se Gegend. Ja, das, was an unse­ren Städ­ten mal schön war, ist seit Welt­krieg und Wie­der­auf­bau über­wie­gend weg, aber wir haben wahn­sin­nig viel Grün in den Städ­ten ((Im Buch ver­weist Lisch­ka auf das soge­nann­te „Pan­tof­fel­grün“, ein Wort, das außer ihm und dem Pres­se­spre­cher der Stadt Dins­la­ken glau­be ich nie jemand ver­wen­det hat.)), ein schö­nes Umland und das bes­te Bier. Genau genom­men isses hier gar nicht schei­ße, son­dern eigent­lich nur woan­ders.

Und selbst wenn wir Ruhr­is inner­lich ziem­lich zer­ris­se­ne Cha­rak­te­re sind, die in ihren häss­li­chen Klein­städ­ten unter­schied­li­cher Grö­ße ste­hen und gucken, wie aus den Rui­nen unse­rer gol­de­nen Ver­gan­gen­heit irgend­et­was neu­es ent­steht: Es tut gut zu sehen, dass wir dabei nicht allei­ne sind. Will­kom­men im Pott!

Kon­rad Lisch­ka & Frank Pata­long – Dat Schöns­te am Wein is dat Pils­ken danach
Bas­tei Lüb­be, 271 Sei­ten
16,99 Euro.