2013. Ein Anfang zu zweit. Und mit Hund. „Im Schneefall auf der Straße knutschen“ auf der bucket list abhaken. Eine Grimme-Preis-Nominierung fürs Dschungelcamp. Eine Dienstreise nach Budapest: In Ungarn über Pressefreiheit sprechen fühlt sich seltsam an. Partys, Kneipen, Wochenenden. Ein herrenloser Einkaufswagen. We’re up all night ‚til the sun / We’re up all night to get some / We’re up all night for good fun / We’re up all night to get lucky. Renovierungen und Umzüge anderer Leute. Ein neuer Job beim ESC: Plötzlich sitze ich tatsächlich an der Seite von Peter Urban! Noch ein neuer Job: Plötzlich bin ich Social-Media-Hansel bei „Tagesschaum“ mit Friedrich Küppersbusch, den ich noch aus meiner Kindheit aus dem Fernsehen kenne. Ein Sommerurlaub, wie man halt Sommerurlaube macht: in Holland am Meer. Das war die schönste Zeit / Weil alles dort begann. Die Hochzeit meiner kleinen Schwester inkl. Autocorso (schon geil, wenn man Teil davon ist!) und kaum aufwendigem Hochzeitsfilm. Mein 30. Geburtstag auf dem Macklemore-Konzert und eine Party, die sich nach Abschied anfühlt. I don’t care / I love it. Mit dem Hund im Fernsehen. Ein im letzten Moment abgesagtes Travis-Konzert. Eigentlich sollten wir erwachsen werden: Die Kilians auf Abschiedstournee. Gemeinsam auf Wohnungssuche. Ein positiver Schwangerschaftstest. Mit Ansage: Zum letzten Mal Heiligabend feiern in Dinslaken.
Ein Jahr zwischen „growing up“ und „being grown up“, das sich eigentlich schon wieder nach so viel mehr anfühlt. Jede Menge Szenen für den Supercut meines Lebens. Die Erkenntnis, dass alles zu zweit noch bunter, lauter, schöner sein kann — aber auch anstrengender. Ein Tag in Amsterdam mit einer Grachtenrundfahrt in der Abenddämmerung und die Ansage der Reiseleiterin, dass man, wenn man sich unter der Magere Brug küsst, für immer zusammenbleibt. (Spoiler alert: Dies gilt offenbar nicht immer.) Und wir stehen auf unseren Brücken / Unter uns der Strom / Die Aussicht scheinbar endlos / Unser Thron.
2011. Wie viele Partys kann man in die ersten Wochen eines Jahres packen? Wir bekommen einen Preis fürs Oslog. Florian Ostertag und ich singen „Human“ von den Killers VOR einer Kölner Karaoke-Bar. Ich arbeite als Autor bei der ECHO-Verleihung (mit Ina Müller, Joko Winterscheidt, Gary Barlow und Stefan Niggemeier). Nein, Omi, die Tätowierung hat nicht wehgetan! Ein ESC in Düsseldorf, einer Stadt, die das möchte. Stefan sagt, wir haben den geilsten Job der Welt. Zwei Relegationsspiele, die ich am Liebsten gar nicht angeschaut hätte. So viele Abende hinter den CD-Spielern und vor den Boxen. Eine Jahresmitgliedschaft im Fitness-Studio (und ich bin tatsächlich regelmäßig hingegangen). Ein Haldern Pop, bei dem ich irgendwann gefahren bin, weil ich’s nicht mehr ertragen habe. Freundschaften kommen, Freundschaften gehen. My private life is an inside joke / No one will explain it to me. Auf drei Hochzeiten gewesen, auf keiner getanzt. Mein erster richtiger Urlaub als Erwachsener, so mit Flug und Hotel und so! Eine Reisetasche voller CDs. Journalisten möchten mit mir über den Bundespräsidenten sprechen. Einslive-Krone mit Aftershow-Party. I wanna wring it out / Every ounce / I wanna do the right thing, when the right thing counts. Ein Jahr, das immer noch Vollgas war, aber in dem ich den Fahrtwind kaum noch gespürt habe. Alles judgen, alles umarmen — manchmal gleichzeitig. Ein Jahr zum Vergessen (und tatsächlich musste ich mir das Allermeiste erst wieder anlesen), aber Stefan sagte: „2011, Lukas, war das Jahr, wo Du Lena endlich Dein Mixtape gegeben hast; wo Du mit Lena und mit Ina Müller gesungen hast, …“ — den Rest hab ich dann wieder vergessen, aber der Satz hat damals sehr geholfen.
Und dann war das natürlich das Jahr, wo ich im starken schottischen Wind stand, an Travis dachte und fand: „Das hier gerade jetzt ist schon ganz schön gut!“
Heute in zehn Wochen ist Silvester — und mit dem Jahr endet auch das Jahrzehnt. Vor zehn Jahren habe ich das zum Anlass genommen, hier im Blog eine zehnteilige Serie zu veröffentlichen, in der ich sehr, sehr länglich auf jedes einzelne Jahr, seine popkulturellen und persönlichen Momente zurückgeblickt habe. Ich hab nicht mehr so viel Zeit und Nerven, 10.000 Zeichen zu verballern, Ihr nicht mehr die Zeit und Aufmerksamkeitsspanne, das zu konsumieren – also gibt’s für jedes Jahr ein Foto und ein paar Stichworte. Say hello to #anotherdecadeundertheinfluence!
2010. Meine erste Wohnung, ganz für mich allein. Eine unglaublich aufwendige Renovierung (mein Papa hat mal eben neuen Estrich gegossen, bevor wir den Fußboden verlegt haben) und das Gefühl, endlich wieder ein Zuhause zu haben. So viele neue Freund*innen, so viele gute Gespräche, so viele Abende (und Nächte) im Freibeuter (wo ich nur in diesem Jahr, grob überschlagen, einen vierstelligen Betrag zurückgelassen, aber immerhin mehrere Musikquizze gewonnen habe). Zwei Winter wie auf Hoth und ein constructive summer. Ein legendäres Haldern-Festival, eine kaum minder legendäre Geburtstagsfeier, bei der die Leute auf den Tischen getanzt haben, bevor sie umfielen. (Die Tische. Und die Leute. Natürlich alles im Freibeuter.) Ein Kulturhauptstadtjahr mit gesperrter A40 und Loveparade-Katastrophe. Knutschen und Rauchen. Meine ersten Einsätze als DJ (die Leute ham getanzt, die Leute ham geschrien). Dienstreisen nach Oslo (mit Stefan Niggemeier und Lena Meyer-Landrut), London (mit meinem Onkel Thomas) und Rom. Mein neuer Job als BILDblog-Chefredakteur mit Auftritten im Fernsehen und Radio. Ein Jahr mit durchgetretenem Gaspedal (und das, obwohl ich, hahaha, vermutlich nicht mehr als 300 Kilometer mit dem Auto zurückgelegt habe) und exquisitem Soundtrack. And my head told my heart / Let love grow / But my heart told my head / This time no / This time no. You’re a beautiful girl and you’re a pretty good waitress / But Jesse I don’t think I’m the guy. Hallo, ich bin Lukas, 27, ich komme aus Bochum und das ist mein sogenanntes Leben. Ein Jahr, in dem selbst die leisen Momente laut waren. Da ist es gut, wenn man einen Platz hat, an den man sich zurückziehen kann (zum Schlafen und zum Arbeiten, denn was hab ich da wohl sonst noch gemacht?), und an dem einen keine Mitbewohner stören. Endlich wieder ein Zuhause, endlich angekommen und sofort aufgebrochen ins Leben.
Diese Serie läuft parallel hier im Blog und auf Instagram.
In „Almost Famous“ warnt der Musikjournalist Lester Bangs seinen jungen Kollegen William Miller davor, sich mit Musikern anzufreunden. Die wollten eh nur, dass man gut über sie schreibe, und wenn die Distanz weg sei, könne man auch gleich aufhören.
So gesehen habe ich meine Musikjournalisten-Karriere im Frühjahr 2006 in den Wind geschossen, als ich Thees Uhlmann nicht nur das Demo einer jungen Nachwuchsband aus meiner niederrheinischen Heimat in die Hand gedrückt habe, sondern acht Wochen später auch noch als Teil des Tomte/Kilians-Trosses durch den Süden der Republik getourt bin.
Das erste Album, das ich Anfang des Jahres bei CT das radio aus dem Berg von Bemusterungspost gefischt hatte, war die „Buchstaben über der Stadt“ gewesen, deren Songs ich dann vier Abende hintereinander live gehört habe, und als ich Anfang November im Central Park am Reservoir (ja, das aus „New York“) stand, dachte ich: Von so einem Jahr kann man sich nur erholen, wenn man beim ESC live vor Ort ist, wenn Deutschland gewinnt.
Jahrelang trafen wir uns immer wieder in den Backstageräumen nordrhein-westfälischer Indierock-Veranstaltungsorte, auf Festivals und im legendären, inzwischen natürlich geschlossenen, Dinslakener Jägerhof, wo Thees mich bei der Kilians-Releaseparty auf die Stirn küsste. (Die genaueren Details sind mir entfleucht und ich möchte diesbezüglich nur Falco paraphrasieren.)
Wie es sich für eine ordentliche Freundschaft gehört, wurde unsere aber auch auf eine harte Probe gestellt: Tomte liefen nach jede Menge Line-Up-Wechseln aus und Thees veröffentlichte 2011 ein selbstbetiteltes Soloalbum, mit dem ich auch nach gründlichem Hören irgendwie nicht warm wurde. Auf „Walter & Gail“ hatte er 2006 noch gegen das Mittelmaß angesungen, jetzt feierte er „Das Mädchen von Kasse 2“ und das Leben auf dem Dorf, obwohl doch alle Songs, die wir jemals gut gefunden hatten, davon handelten, das Scheiß-Leben auf dem Land endlich hinter sich zu lassen. Ich fühlte mich betrogen.
Thees war damals weiter als ich: Vater geworden, Beziehung zerbrochen, dabei, das Glück im Kleinen zu suchen. Nun wäre es bescheuert, zum besseren Verständnis von Pop-Platten die eigenen Pläne vom Familienleben zu sabotieren, aber ein paar Jahre stand ich da in seinen Schuhen und als Thees und seine Band vor zwei Jahren in Hamburg auf dem 15. Geburtstag seines Labels Grand Hotel van Cleef spielten, stellte ich fest, dass ich die Songs des ersten Soloalbums mit großer Hingabe und Gänsehaut mitsang („Meine Wahrheit in 17 Worten: Ich hab ein Kind zu erziehen, Dir einen Brief zu schreiben und ein Fußball Team zu supporten“). Dann kam diese Millisekunde, als inmitten dieses Sets mit Solo-Songs das Schlagzeug-Intro zu einem Tomte-Song erklang und noch ehe mein Gehirn exakt erfasst hatte, welcher das eigentlich war, war ich in der Luft und in meiner Erinnerung habe ich für die nächsten 4 Minuten und 20 Sekunden den Boden nicht mehr berührt – ich flog, während ich mir gemeinsam mit dem Text zu „Schreit den Namen meiner Mutter“ die Seele aus dem Leib brüllte, und alles war aus Gold. Fünf Tage zuvor war meine Oma gestorben und das hier war genau das, was ich in diesem Moment brauchte, die letzten drei Jahre gebraucht hätte.
Anfang August kam nun endlich das erste musikalische Lebenszeichen seit sechs Jahren: die Single „Fünf Jahre nicht gesungen“. Mein Sohn und ich waren gerade zu Besuch in Berlin, er schlief neben mir im Bett, als ich um Mitternacht Spotify öffnete und auf „Play“ drückte:
Ich würde nicht behaupten, dass ich komplett verstehe, wovon Thees da singt, aber die Stellen, die ich verstehe, fühle ich sehr hart. Drei Wochen später war ich beim Konzert in Essen, was auf den Tag zehn Jahre nach einem der letzten Tomte-Konzerte war, das ich gemeinsam mit den Kilians besucht hatte. Thees und ich sahen uns nach der Show zum ersten Mal seit Jahren wieder, ich bestellte brav Grüße von meiner Mutter („Der Thees hat mir damals beim Kilians-Konzert den Tipp gegeben, einfach Taschentücher ins Ohr zu stopfen, wenn es zu laut ist. Das ist gut!“ – wenn das nicht Rock’n’Roll ist, weiß ich es auch nicht!) und wir sabbelten über The Clash, „Paw Patrol“ und Berlin, als hätten wir uns vor ein paar Wochen zuletzt gesehen.
Eine Woche später bekam ich vom Grand Hotel das zugeschickt, was im Jahr 2019 einer gebrannten Bemusterungs-CD entspricht: Einen personalisierten Streaming-Link, unter dem ich Thees‘ neues Album „Junkies und Scientologen“ hören konnte. Ich klickte drauf, legte den Sound meines MacBooks auf meine Anlage und drückte etwas unsicher auf „Play“. Fünfzig Minuten später saß ich erschöpft (ich hatte ein paar Mal headbangend durch die Wohnung hüpfen müssen) und aufgewühlt (ich hatte ein paar Mal Tränen in den Augen gehabt) auf meiner Couch und verfluchte mich dafür, dass ich an dem Abend verabredet war und das Album jetzt nicht direkt zehn Mal hintereinander hören konnte.
Olli Schulz sagt, „Junkies und Scientologen“ sei das Beste, was Thees seit „Hinter all diesen Fenstern“ gemacht hat, was ich nur deswegen nicht unterschreiben kann, weil deren Nachfolger „Buchstaben über der Stadt“ bei mir eben so eine unglaubliche Sonderstellung einnimmt. Genauso wie kettcar die lange Pause vor „Ich vs. Wir“ so gut getan hat, dass sie mal eben ihr vielleicht bestes Album aufgenommen haben, ist auch Thees nach so langem Warten auf dem Höhepunkt seines Schaffens: Auf „Junkies und Scientologen“ sind er und seine Band musikalisch so tight wie selten, textlich ist er noch besser geworden.
Thees hat ja schon immer versucht, Denkmäler zu errichten, hier beschriftet er die Messingtafeln teilweise ganz schlicht: „Avicii“ ist tatsächlich ein völlig unironisches Loblied auf den verstorbenen DJ, den er gerne gerettet hätte; „Katy Grayson Perry“ schon ein Stück komplexer, weil er sowohl die amerikanische Sängerin als auch den britischen Künstler gemeinsam zu seinem Label holen will. In „Was wird aus Hannover“ feiert er die Stadt, die vor allem für ihre völlige Egalheit bekannt ist, und singt über deren bekannteste Band: „Du hast über die Scorpions gelacht, aber die sind in ‚Stranger Things‘ “ – da muss man die Serie nicht mal geguckt haben, um zu verstehen, wie er das meint.
Dieses Abkulten von Menschen, berühmten wie unbekannten, erreicht im Titeltrack seinen Höhepunkt: Die Strophen sind eine einzige Aneinanderreihung von Widmungen („Für das Mädchen im Ramones Shirt“, „Für jeden, der in seiner Straße Stolpersteine poliert“, „Für die Vierfaltigkeit der Bobs: Bob Marley, Bob Dylan, Bob Andrews und Bob Ross“), der Refrain ein leuchtender Bengalo im Morgengrauen:
Aber die Zukunft ist ungeschrieben
Die Zukunft ist so schön vakant
Und ich komme dich besuchen
Egal ob Stammheim oder Bundeskanzleramt
Da haben wir in vier Zeilen: Ein Joe-Strummer-Zitat, ein Fremdwort, das sonst kaum in Liedtexten auftaucht, und das Name-Checking von zwei zentralen Orten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nenn mir einen dieser jungen Deutschpop-Clowns, der etwas Ähnliches hinbekommen würde!
Natürlich konnte man Thees dieses Pathos seiner Texte auch schon immer vorwerfen. Aber es ist ein anderes Pathos als das von „Auf uns“ oder „Tage wie dieser“, denn Thees‘ Lieder taugen nicht zur Untermalung von Fußballturnier-Supercuts. Vielleicht gibt es für Außenstehende auf dem Papier auch gar keinen Unterschied, aber für mich ist es auch eine hermeneutische Kategorie, wer da spricht oder singt. Ich weiß noch, wie ich damals erst die Texte von Tomte und dann Thees selbst kennenlernte und dachte: Da ist jemand, der packt das in Worte, was ich irgendwo in mir drin gefühlt habe und niemals hätte ausdrücken können. Thees gab mir das Vokabular für Liebesbekundungen, Therapiesitzungen und Blog-Einträge.
Morgen erscheint „Junkies und Scientologen“ dann offiziell. Für mich endet damit diese Phase, in der man sich wie ein Mitverschwörer fühlen kann, weil man Songs kennt, die erst wenige Menschen gehört haben. Aber ich bin mir sicher, dass es da draußen Tausende gibt, die diese Lieder genauso lieben werden wie ich und denen sie genauso viel (und gleichzeitig etwas völlig anderes) bedeuten werden.
Im letzten Lied der Platte singt Thees:
Ich bin der Letzte mit einem Bierglas in einer Welt voller Champagner
Die Welt ist von sich selbst besoffen, aber ich bleib beim Bier
Du Astra, ich Fiege! Auf „Junkies und Scientologen“!
Die Alben hatten wir schon, kommen wir nun zu den Songs des Jahres 2018. Da ich neben meinen Hauptquellen für neue Musikentdeckungen, „All Songs Cosidered“ und Radioeins, auch wieder auf die (meist sehr guter) „Das könnte Dir gefallen“-Funktion von Spotify und diverse Zufallsfunde gesetzt habe, ist es wieder eine eher eklektische Liste, bei der ich nicht zu jedem Lied sonderlich viel sagen könnte.
Auch ist es eigentlich eine absurde Idee, diese Songs irgendwie gewichten und sortieren zu wollen – eigentlich ist spätestens ab Position 10 die Reihenfolge ziemlich willkürlich, weswegen man die Liste auch wieder sehr schön im Shuffle-Modus hören kann.
Aber ich dachte mir: Nach fünfjähriger Babypause ist mein Sohn inzwischen so alt, dass er eigene Ranglisten erstellen könnte, ((Seine Nummer 1, vermutlich: entweder „Africa“ von Weezer oder „Solo“ von Clean Bandit und Demi Lovato, was übrigens auch mein „Peinlichstes Lieblingslied des Jahres“ sein dürfte.)) und weil ich ja auch wieder beruflich viel mehr über Musik schreibe, nehme ich mir jetzt 25 Songs und erkläre die zu einer (wie immer nur 0,3 Millisekunden lang exakt gültigen) Hitparade.
Lukas, stop voting now!
25. Catch Fire – Petrifaction
Autoradio ist schwierig, weil es in NRW natürlich kaum hörbare Radiosender mit Musik gibt. Aber in weiten Teilen der Bochumer Innenstadt empfange ich halbwegs gut CT das radio, meinen Heimatsender, dem ich auf ewig verbunden sein werde. Und da lief dieser Song: Heulende Gitarrenlicks, hämmernde Drums, Geschrei und „Why does everything that I touch turn to stone?“ – ich war sofort wieder 19, die dunkel getönten Haare fielen mir in Strähnen ins Gesicht und ich wollte an irgendeinem Fluss stehen und bedeutungsschwer aufs Wasser starren. Es gibt ihn noch, den guten Emo!
24. The Fratellis – I’ve Been Blind
The Fratellis, waren das nicht diese Indie-One-Hit-Wonder zu einer Zeit, als ich noch in der Musikredaktion von CT das radio tätig war? Was wollen die denn 13 Jahre später wieder (und was haben sie in der Zwischenzeit gemacht)? Nun, warten wir bis zum Refrain, der „Knowing Me, Knowing Me“ von ABBA in eine Mitgröhlhymne für Studentenkneipen, Freitagsmorgens um halb zwei, das letzte Bier in die Luft gereckt, transferiert. Wo war dieser Song, als ich jung war?
23. Hozier feat. Mavis Staples – Nina Cried Power
Wie wirkt dieser Song wohl auf Menschen, die die ganzen Referenzen und das ganze name checking nicht verstehen? Nun: Die jungen Leute haben es millionenfach gestreamt und auf ihren Radiosendern gehört, also wohl ebenfalls gut. Aber wie soll man sich auch diesem Groove und dieser Hymne über Hymnen widersetzen? Extra-Respekt dafür, sich so durch diesen Song zu croonen und dann das Spotlight auf Mavis Staples zu richten, deren Stimme natürlich noch ungefähr zehn mal wirkmächtiger ist! (Übrigens der einzige Song, auf den Barack Obama und ich uns letztes Jahr einigen konnten.)
22. George FitzGerald – Burns
Ich gebe zu, soeben zum ersten Mal gegoogelt zu haben, wer George FitzGerald eigentlich ist (wobei die Informationen da auch nicht üppig sind). Aber dieser hypnotisch pumpende Elektro-Song hat mich seit Mitte März durch das Jahr begleitet. Sind das alles Stimmen? Synthesizer? Egal! Vor meinem geistigen Auge fahren U‑Bahnen durch nächtliche Großstädte und alles ist cool und aufregend.
21. Brand New Friend – Seatbelts For Aeroplanes
You’re like a seatbelt on an airplane with me lately
You’re more for making me feel safe than for actual safety
And for every single moment that you made me feel amazing
There were several other times that I felt kinda hazy
But I know I was never your everything, but
I hope I was something, so come on
Das ist exakt die Musik, die ich in 2:42 Minuten von einer Truppe 19-bis-23-Jähriger hören möchte, die ein Demo aufgenommen hatten, das dann „versehentlich“ zum offiziellen Album erklärt und für den Northern Ireland Music Prize nominiert wurde.
20. Oh Pep! – Truths
Bronze bei meinen Alben des Jahres und ein Song, der dieses Album wunderbar zusammenfasst: melancholisch und zerbrechlich, aber auch druckvoll und mit hintergründigem Text.
19. Ariana Grande – No Tears Left To Cry
Schon für sich genommen sind diese drei Songs, die sich hier irgendwie zu einem vereinigen, ja ein echtes Fest. Wenn man dann auch noch mitdenkt, dass hier eine Frau strahlenden Optimismus verbreitet, ein Jahr, nachdem nach Abschluss ihres Konzerts in Manchester bei einem Bombenanschlag 22 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt wurden, jagt einem das schon eine ganz schöne Gänsehaut den Rücken runter. So muss man aus so einer Geschichte erst mal wieder rauskommen! One love!
18. Childish Gambino – This Is America
„Welche Rolle spielt das Musikvideo noch im Jahr 2018, wo niemand mehr Musikfernsehen guckt und auch YouTube eher zur Hintergrundberieselung genutzt wird?“ – „Nun, lassen Sie mich so antworten:
Ein politisch-kulturelles Gesamtkunstwerk, das hermeneutisch in tausende Einzelteile zerlegt werden konnte, und bei dem man sich den Song, nachdem man das Video einmal gesehen hat, nicht mehr ohne vorstellen kann. Offene Münder, der Wahnsinn!
17. MILCK – Black Sheep
MILCK, alias Connie Lim, wurde 2017 berühmt mit „Quiet“, der inoffiziellen Hymne des „Women’s March“. „Black Sheep“ könnte man entsprechend als inoffizielle Hymne der „It Gets Better“-Bewegung bezeichnen: eine Liebeserklärung an alle, die anders sind, ausgegrenzt werden und sich alleine fühlen. „Don’t let anyone turn your unique into flaws / Yeah, you know that I love you the way that you are“. Hach!
16. Restorations – St.
Am Tag nach meiner Geburtstagsfeier ging ich, nachdem ich alles so weit aufgeräumt und gespült hatte, im strahlenden Sonnenschein dieses unendlichen Sommers spazieren und hörte bei „All Songs Considered“ diesen Song. Ich habe dann noch ein paar Umwege genommen, um direkt das ganze (24-minütige) Album zu hören. Anschließend musste meine Musikkolumne im „JWD“-Magazin noch mal geändert werden, denn „LP5000“ musste natürlich sofort mit ins Heft!
15. Janelle Monáe – I Like That
A little crazy, little sexy, little cool
Little rough around the edges, but I keep it smooth
I’m always left of center and that’s right where I belong
I’m the random minor note you hear in major songs
Wer braucht noch Musikjournalismus bei dieser Selbstbeschreibung?
14. Tocotronic – Unwiederbringlich
Zwei Wochen nach der Beerdigung meines Großvaters saß ich mit meinem Sohn in seinem sonnendurchfluteten Kinderzimmer und hörte zum ersten Mal das neue Tocotronic-Album „Die Unendlichkeit“. Nach einem langen Kammermusik-Intro sang Dirk von Lowtzow „Dein Tod war angekündigt / Das Leben ging dir aus / Unwiederbringlich / Schlich es aus dir hinaus“. Ich saß da, hörte, biss mir auf die Unterlippe und war unwiederbringlich an dieses Lied verloren. Was da lyrisch abgeht, ist intellektuell kaum zu fassen, das knallt direkt in die Magengrube!
13. Paenda – Paper-Thin
Was haben die Österreicher eigentlich im Trinkwasser, dass sie uns jetzt – obwohl nur ein Zehntel der Einwohnerzahl Deutschlands – seit Jahren vormachen, wie Popmusik noch mal geht? Und damit meine ich nicht nur Wanda und Bilderbuch (und Falco, hohoho), sondern auch weitgehend unbekannte Juwele wie die Wienerin Gabriela Horn alias Paenda, die sich mit ihrem vielschichtigen Elektropop hier irgendwo zwischen Shura, Robyn und Sia einreiht.
12. Mitski – Nobody
Bei manchen Liedern kann ich exakt erklären, warum ich sie liebe, bei anderen eher gar nicht. Aber vermutlich passt hier einfach alles exakt richtig zusammen: vom Text über die Instrumentierung und den Beat bis zur allgemeinen Anmutung, die dann im entscheidenden Moment mehr als nur einen Hauch an „Lovefool“ von den Cardigans erinnert.
11. Andrew McMahon In The Wilderness – House In The Trees
Es brauchte knapp 13 Sekunden. Andrew McMahon hatte noch gar nicht angefangen zu singen, da wusste ich schon, dass ich diesen Song lieben würde: Das Intro, das ein bisschen an „Sky High“ von Ben Folds Five erinnert, die The-War-On-Drugs-Gitarren – und dann dieser Text von Freundschaften, die irgendwann einfach nicht mehr die selben sind. Andrew McMahon hatte einmal mehr einen Song geschrieben, der direkt zu mir sprach – ja, mehr noch: der sich anfühlte, als hätte ich ihn schreiben können, wenn ich nur mehr Talent hätte und mir ein bisschen Mühe geben würde.
10. Marteria & Casper – Champion Sound
Deutschsprachiger Hiphop ist für mich wirklich schwierig: entweder so stumpf, menschen- und frauenverachtend dumm und von allen guten Geistern verlassen wie die Rapper-Karikaturen Kollegah und Cillit Bang, oder so egal gealtert wie die Überlebenden der ersten Welle in den 1990er Jahren (Fanta Vier, Fettes Brot, Beginner). Aber es gibt ja noch Casper und Marteria: Als die „Champion Sound“ vorlegten, dieses feiste Brett, das den „Wir sind die Coolsten“-Gestus mit so viel Witz, Liebe zum Detail und dickem Bläsersatz erträglich machte, dachte ich, dass sie mit ihrem gemeinsamen Album alles in den Schatten stellen würden. Ganz so übermäßig gut war „1982“ dann leider doch nicht, aber dieser Song: meine deutschsprachige Nr. 1, wie ich schon jetzt verraten möchte.
9. Metric – Now Or Never Now
Erinnert sich noch jemand an Briskeby, dieses norwegische Mini-One-Hit-Wonder, das vor … puh: 18 Jahren mal kurzzeitig als nächstes großes Ding gehandelt wurde? Nun, Metric klingen auf „Now Or Never Now“, als hätten sie der Band ein Denkmal setzen wollen – was ja nun echt absurd wäre, weil Metric ja nun wirklich genug eigenes Renommee mitbringen. Aber weil ich das Briskeby-Debüt damals mochte, hat mich dieser Song irgendwie schwer abgeholt. Und dass der Song in der Albumversion volle fünf Minuten braucht, bis er seine Hook (und Titelzeile) erreicht, macht ihn auch noch mal ein bisschen toller!
8. The Go! Team – Semicircle Song
Bläser und Drumline, die noch fetter sind als bei Marteria & Casper, Gesang, bei dem man dreimal nachgucken muss, ob man da nicht gerade die Jackson 5 hört, und Menschen, die ihre Sternzeichen aufzählen – völlig normale Zutaten für einen Song, den man eigentlich nur lieben kann. Und da: ein Glockenspiel!
7. Leoniden – Kids
„Again“, ist, wie gesagt, ein sehr, sehr Album. Und „Kids“ ist der beste unter einer ganzen Reihe sehr guter Songs. Fuck it all, we killed it tonight!
6. DJ Koze – Seeing Aliens
Die „Extended Breakthrough Listen“-Version dauert 8:17 Minuten und wird dabei an keiner Stelle langweilig. Irgendwo zwischen Burial und Underworld stapeln sich hier irgendwelche Sounds über einem treibenden Beat, der immer mal wieder ein- und ausgefadet wird, weswegen der ganze Track mehr nach einer Zug- oder Autofahrt klingt, bis sich dann der eigentliche Song hervorschält, der es schafft, gleichzeitig völlig frisch zu klingen und so, als würde man ihn bereits seit 25 Jahren kennen.
5. Christine And The Queens – 5 Dollars
Definitiv Roséwave, definitiv queer, also definitiv ein Song nach meinem Geschmack!
4. Meg Myers – Numb
Wenn man in einem Seminar erklären müsste, wie man einen Song aufbaut, empfehle ich „Numb“: vorsichtig reingrooven, langsam steigern, dann alle Tore öffnen und alles in einer finalen Refrain-Zeile kulminieren lassen, die das Festival-Publikum im Zweifelsfall auch bei 2 Promille noch mitbrüllen kann. Ach, für diesen Song müsste man das Bizarre-Festival wieder auferstehen lassen!
3. Hayley Kiyoko – Curious
Sie wolle nur wissen, ob es was Ernstes sei, singt Hayley Kiyoko und ihr „If you let him touch ya, touch ya, touch ya, touch ya, touch ya, touch ya / The way I used to, used to, used to, used to, used to, used to“ lässt ferne Erinnerungen an eine der dramatischsten Fragen der Popgeschichte wach werden: „Does it feel the same / When she calls your name?“ („The Winner Takes It All“, natürlich). Dass da eine Frau singt, der neue Partner der/des Besungenen aber ein Mann ist, verwirrt höchstens alternde Englischlehrer*innen, die bei diesem Musikvideo einen roten Kopf bekommen: It’s 20GAYTEEN, remember?
2. Big Red Machine – Hymnostic
Wir unterbrechen diese Galerie junger Frauen kurz für zwei nicht mehr gaaaanz so junge Männer (37 und 42, oh, verdammt!): Justin Vernon (Bon Iver, Volcano Choir, The Shouting Matches, usw. usf.) und Aaron Dessner (The National) haben gemeinsam ein Album aufgenommen, das die Zeit bis zu den neuen Alben von Bon Iver und The National wunderbar überbrückt. Und das mit „Hymnostic“ eine langsam vor sich hin gospelnde Single hat, die die Sonne in jeder noch so tiefen Nacht aufgehen lässt.
1. Rae Morris – Do It
Was zu erwarten war: Im März hatte ich mich in „Do It“ verliebt und seitdem nichts unversucht gelassen, den Song zum Sommerhit des Jahres 2018 zu pushen. Das hat auf offizieller Ebene nicht geklappt, aber mein Sohn singt begeistert den Refrain mit und was will man da noch mehr verlangen? Ein Song, ein Video, ein Album, wo nahezu alles stimmt und deshalb – die Statistiker unter Ihnen hatten schon aufgeregt in ihren Unterlagen gewühlt – gehen die Auszeichnungen für „Album des Jahres“ und „Song des Jahres“ erstmals seit zwölf Jahren („Buchstaben über der Stadt“ und „New York“ von Tomte – und wer mich ein bisschen kennt, weiß, welche Fußstapfen das sind!) wieder an ein und denselben Act. Herzlichen Glückwunsch, Rae Morris!
(Weiterer statistischer fun fact: Rae Morris ist damit der erste Act überhaupt in der 18-jährigen Geschichte meiner persönlichen Bestenlisten, der zum zweiten Mal den Titel „Song des Jahres“ einfahren konnte. Wow!)
Und hier sind alle 60 Songs in einer praktischen Spotify-Playlist, die sehr, sehr gut ist:
Es kommt selten genug vor, aber manchmal, da hört man einen Song zum allerersten Mal und weiß schon nach drei Tönen, dass man ihn lieben wird. „House In The Trees“ ist so ein Song. Gut, dass könnte daran liegen, dass das Intro ein bisschen an „Sky High“ von Ben Folds Five bzw. Hotel Lights erinnert. Oder daran, dass der Refrain vage Erinnerungen an „Razor Boy“ (Steely Dan) und „Follow The Light“ (Travis) wachruft. Oder einfach daran, dass der Song von Andrew McMahon, einem meiner absoluten Lieblingsmusiker stammt.
Andererseits war „Zombies On Broadway“, sein letztes Album, bei aller Liebe nur so mittel zu ertragen gewesen: zu poppig, zu gradlinig, zu cheesy, zu seelenlos. „Then we went off in different directions / Kept in touch but it never was the same“, singt Andrew jetzt in eben jenem „House In The Trees“ über Freundschaften, die den Lauf der Zeiten nicht so gut überstanden haben, und ist damit plötzlich wieder ganz nah dran an meinem Herzen.
Mit The-War-On-Drugs-mäßigen Gitarren schraubt sich der Song seinem jingle jangle Refrain entgegen und da saß ich dann beim Erstkontakt in der nächtlichen S‑Bahn und wollte sofort Bengalos anzünden:
When the last of your friends have gone
You learn a whole lot about hanging on and on
But if you crash and nobody sees
Just remember there will always be
A room for you in my house in the trees
Das ist zugegebenermaßen nah dran an jener Erbauungslyrik, mit der man von deutschsprachigen Neo-Schlager-Sängern in den letzten Jahren zugeschissen wird. Und dann singt er auch noch ständig von früher, und versprüht dabei diese Damals-mit-dem-Bier-an-der-Bushaltestelle-Nostalgie jener Popmusikanten um die 30, die sich am besten in der Band der Heimatvertrieben zusammentun sollten. Nur: Andy darf das. Er, 36, macht das mit der Musik jetzt sein halbes Leben lang, er hat mit Anfang Zwanzig eine Leukämie-Erkrankung überlebt, und er hat mit seinen Bands Something Corporate und Jack’s Mannequin so viele großartige Songs geschaffen, dass, wenn ich mir nur die wichtigsten Liedzeilen tätowieren ließe, meine gesamte Haut aufgebraucht wäre.
Eröffnet wird „Upside Down Flowers“ (der Albumtitel ist mutmaßlich eine Verneigung vor den Hängenden Gärten von Ehrenfeld – oder so) mit „Teenage Rockstars“, der offiziellen Band-Autobiographie unter all den autobiographischen Songs des Albums. Andy singt über seine Zeit mit Something Corporate, er könnte aber vermutlich auch über ungefähr jede andere junge Band singen:
We signed a deal and made some records
Sold out shows and married young
The money came, we started fighting
We partied hard and had our fun
We blew off deadlines
And forgot to call our friends
Das ist, wenn ich mich richtig erinnere, ziemlich genau die Quintessenz dessen, was Bob Geldof in der Toten-Hosen-Dokumentation „Nichts als die Wahrheit“ über die grundsätzlichen Probleme erzählt, die man als Band so hat. Damit ein Album zu eröffnen ist zumindest entwaffnend ehrlich. Und so geht es auch weiter: alles sehr persönlich, alles sehr autobiographisch. Das muss man als Hörer*in erst mal aushalten wollen.
Beim Sequencing, also der Festlegung der Songreihenfolge für ein Album, passiert es eher selten, dass in der Mitte ein Block mit den besten Songs hervorragt, aber genau so ist es hier mit den Tracks 4 bis 8:
„Monday Flowers“ dürfte der erste Andrew-McMahon-Song überhaupt sein, der ohne Lyrisches Ich auskommt: Er erzählt die Geschichte einer Frau, die von einer unglücklichen Liebschaft in die nächste stolpert, während sich musikalisch eine weiche Souldecke ausbreitet, auf der „Bill Withers, mit den Mitteln weißer Punkrock-Kids nachempfunden“ eingestickt ist.
In „Paper Rain“ träumt ein Pechvogel vom Geldregen, „This Wild Ride“ ist ein Trost-Walzer, den man gerne mit so vielen Menschen teilen würde („Sleep tight / There are dreams you have not dreamed / Doors to worlds unopened“) und in „Goodnight, Rock And Roll“ verneigt sich Andy vor den eigenen musikalischen Helden, die bereits gegangen sind: „If you find life on Mars, you’ve got to let us know“.
Und dann eben „House In The Trees“.
Das heißt nicht, dass der Rest Füllware wäre. Im Gegenteil: „Upside Down Flowers“ ist viel, viel besser, als ich befürchtet hatte. Es ist mindestens so gut wie das selbstbetitelte erste Album als Andrew McMahon In The Wilderness. Auch wenn ich mir mehr als einmal gewünscht hätte, die Musiker und der Produzent Butch Walker (Panic! At The Disco, Fall Out Boy, Pete Yorn, Weezer, Avril Lavigne, Frank Turner, …) hätten mal die Handbremsen gelöst und einen Song auch richtig rocken lassen. Aber gut: Wenigstens klingt es nicht mehr nach den Chainsmokers.
Der November, die Adventszeit und die Zeit „zwischen den Jahren“ sind wunderbare Zeitpunkte für Bestandsaufnahmen: Was ist passiert, in diesem Jahr und in meinem Leben? Wofür sollte ich dankbar sein? Genau in dieser Stimmung ist „Upside Down Flowers“ gehalten und genau diese Stimmung löst es in mir aus. Manchmal lohnt es sich eben, in Kontakt zu bleiben.
Andrew McMahon In The Wilderness – Upside Down Flowers Spotify Apple Music
Die Popkultur frisst ihre Eltern. Und Großeltern.
Beim Versuch, wirklich jeden Song, der zwischen 1963 …
Entschuldigung, ich höre gerade: es erwischt jetzt auch Werke aus dem fucking 19. Jahrhundert!
Ich komm noch mal rein!
Beim Versuch, wirklich jeden Song, der jemals geschrieben wurde, mit einem dem gleichen langweiligen Beat zu unterlegen und damit bei Spotify Millionen ein paar Mark zu verdienen, weil Ihr jungen Leute offenbar nur noch Songs hören wollt, wenn sie alle den gleichen Beat haben, hat es jetzt einen weiterenHit meiner Jugend erwischt: „Dancing In The Moonlight“.
Das … äh … Beeindruckendste an dieser Version ist gar nicht, dass man den Groove aus dem Hauptmotiv rausprügeln und durch einen anderen, zum hüftsteifen Stolperbeat passenden, ersetzen kann, – Nein! – das Beeindruckendste ist, dass es sich bei der 2000er Version von „Dancing In The Moonlight“, dem ersten, größten und (zumindest außerhalb Großbritanniens) traurigerweise auch einzigem Hit von Toploader (wir sprachen bereits darüber), auch schon um eine Coverversion handelte.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Coverversionen und Remixe sind unabdingbarer Bestandteil der Popkultur. Selbst die Beatles spielten zu Beginn ihrer Karriere andererleuts Songs nach, Matt Monros Version von „Yesterday“ wurde noch vor dem Beatles-Original als Single veröffentlicht. Es spricht ja nichts dagegen, einen Song alle 20 bis 30 Jahre einer neuen Generation zugänglich zu machen.
Diese Verfahren sind ja viel älter als die Popkultur selbst: Seit der Antike bedienten sich Kulturschaffende bekannter (oder nicht mehr ganz so bekannter) Materialien, um daraus Ähnliches, Anderes und Neues zu schaffen. Immer wieder versuchten Maler, Schriftsteller und Musiker (die meiste Zeit über leider tatsächlich nur Männer), von der Bekanntheit und dem Erfolg eines bestehenden Werkes zu partizipieren und ihm ihren eigenen Stempel aufzudrücken.
Die Betonung liegt hier auf „eigen“, denn was wir in den letzten Jahren miterleben müssen, ist die Fließbandabfertigung mit einem Stempel nach der Deutschen Industrienorm im Bundesamt für Elektronische Klangerzeugung (Abteilungsleitung: Schulz, Robin): immer zwischen 120 und 125 Beats pro Minute, immer der gleiche Rhythmus mit Bassdrum auf 1 und 3 und Snare (oder Handclap) auf 2 und 4 und vielleicht ein paar mehr oder weniger tropischen Anklängen drumherum. Junge Menschen hören das offenbar zum Entspannen, mich macht es so rasend wie vier Stunden Smooth Jazz aus den Lautsprechern eines Hotelfrühstückraums mit der Heimeligkeit eines Autohauses (aber gut: mein liebstes Lied zum Runterkommen ist „Destroy Everything“ von Hatebreed).
Das Elend lässt sich ziemlich gut zurückverfolgen zum Wankelmut-Remix von Asaf Avidans „Reckoning Song“, dem wir lustigerweise auch Julia Engelmanns „Eines Tages, Baby!“ verdanken, weswegen man seine verheerende popkulturelle Tragweite kaum hoch genug bewerten kann.
Wenn ich, weil ich ansonsten keinen Kontakt zu dieser Musik hätte, aber auf dem Laufenden bleiben möchte, die Liste der meist gespielten Lieder auf Spotify (und seit Neuestem auch die offiziellen Charts, die inzwischen ganz entscheidend von Streams und nicht mehr wirklich von Verkäufen bestimmt werden) durchhöre, fühle ich mich zunehmend wie mein Vater, wenn der mir früher erklärte, alle Lieder einer Band, die ich mochte, klängen gleich. (Was mein Großvater sicherlich auch damals schon über die Rolling Stones gesagt hat – damals zu recht, natürlich!) Wenn ich das Lied höre, kann ich kann die geometrischen Formen und bunten Farben vom Plattencover (bzw. aus dem Lyric-Video) schon sehen, und umgekehrt.
Ich wünsche den jungen Menschen von Herzen ihr eigenes Ding und ihre eigene Subkultur, aber durch die gleichzeitige weltweite Verfügbarkeit von allem ist es leider wie mit den Instagram-Streams all dieser Individualisten auf den vielen Musikfestivals: irgendwie ist es am Ende alles gleich.
So. Genug Kulturpessimismus für heute: Bleiben Sie neugierig!
Ich hatte hier ja schonmehrfach über Rae Morris geschrieben.
Mit nur viermonatiger Verspätung habe ich jetzt festgestellt, dass es zu „Someone Like You“, dem Titeltrack ihres sehr, sehr guten zweiten Albums, ein Musikvideo gibt:
Wunderschöner Song und das Video drückt bei mir natürlich auch alle Knöpfe: dieses Fotoshoot-Setup mit den „normalen“ Menschen, das Mitsingen und dann auch noch ein tanzendes altes Paar! Hach! Bis zur letzten Einstellung!
„Wo hab ich das mit diesen Leuten, die fotografiert werden sollen, denn schon mal gesehen?“, habe ich mich gefragt und mir die Frage dann auch gleich selbst beantwortet.
Zum Beispiel (deutlich patriotischer – und das vor 9/11) bei Madonna:
Oder bei „’74–‚75“, diesem unwahrscheinlichen 90er-Hit der amerikanischen Band The Connells über die Abschlussklasse von 1975 (und damit lustigerweise auch über den Abijahrgang meiner Eltern):
Bei meinen kurzen Recherchen zu „’74–‚75“ bin ich nicht nur auf einen charmanten kleinen Text über das Lied beim „Guardian“ gestoßen (verstörenderweise in der Rubrik „Old Music“ – Entschuldigung, 1995 war doch gerade erst?!), sondern auch auf dieses sehr rührende Update des Musikvideos zum 40-jährigen Abitreffen der Class of ’75:
Und weil’s thematisch so schön passt, bin ich dann gerade auch noch über einen Song gestolpert, der nach meinem Abijahrgang benannt ist: „2002“ der britischen Sängerin Anne-Marie Nicholson, der aktuell auf Platz 60 der deutschen Charts steht. (Anne-Marie war 2002 elf Jahre alt.)
Ich habe Menschen, die beruflich so etwas wie „Social-Media-Optimierung“ betreiben, schon immer für die Wunderheiler des 21. Jahrhunderts gehalten: Da sitzen sie, in ihren Loft-Büros mit Kickertisch und Fixie an der Wand, sprechen (oder noch schlimmer: schreiben in Slack) über „organische Reichweiten“ wie andere Scharlatane über „heilende Steine“, und erklären auf Facebook ungefragt jedem, wie Facebook funktioniere und wie nicht.
Seit dieser Woche wissen wir: Wenn sie sich nur genug Mühe geben und ein bisschen kriminelle Energie mitbringen, kann ihr Hokuspokus funktionieren. Und plötzlich wollen alle anderen ihre Facebook-Accounts löschen.
Facebook und Mark Zuckerberg eignen sich dabei natürlich wunderbar als James-Bond-Schurken, weil wir alle unsere Ängste auf das Unternehmen projizieren können. Niemand versteht so recht, wie das eigentlich funktioniert, was man da täglich nutzt. Das gilt auch für Flugzeuge und Kernkraftwerke, aber da gibt es Menschen, die was Ordentliches studiert haben und wissen, was sie da tun – und meistens geht ja auch alles gut. Bei Facebook bin ich mir inzwischen sehr unsicher, ob Mark Zuckerberg selbst weiß, was da eigentlich passiert. Und wenn dann weitere Schurkenroman-Motive wie russische Hacker, noch dubiosere Unternehmen mit so geil seriös-unseriösen Namen wie „Cambridge Analytica“ und die Wahl von Donald Trump ins Spiel kommen, ist die Science-Fiction-Dystopie komplett.
Dabei geht es bei Facebook eigentlich immer um zwei Fragen: die datenschutzrechtlichen Bedenken, die es immer schon gab, bisher aber gerne von den Anwender*innen ignoriert wurden, und „Was bringt mir das noch außer schlechter Laune und täglicher Volksverhetzung?“ Jetzt kommt aber beides auf unheilvolle Weise zusammen.
In meinem Facebook-Feed sind eigentlich fast nur noch Kolleg*innen, die „was mit Medien“ machen und ihre aktuellsten Arbeiten anpreisen, und entfernte Verwandte oder frühere Mitschüler*innen, die fröhlich die Persönlichkeitsrechte ihrer Kleinkinder verletzten, indem sie Fotos von denen online stellen. Freund*innen und Verwandte, die seriöse Berufe ergriffen haben, gucken da immer noch rein, was man an deren Reaktionen auf eigene Posts sehen kann, posten aber selbst nichts mehr. Das war mal anders.
Wenn man Facebook jetzt mit dem großen, roten Knopf abschalten würde, den ich mir manchmal wünsche, würden die Leute, die mit den Frühformen des Internets aufgewachsen sind, wieder in ihre IRC-Channels und zu jetzt.de zurückkehren. Die ganzen Extremisten verschiedenster Coleur, die sich dort rumtreiben, würden sicherlich auch schnell eine neue Plattform finden. Aber diese ganzen Leute zwischen 45 und 60, die sich dort angemeldet haben, um mit ihren groß gewordenen Kindern in Kontakt zu bleiben, die Profilfotos voller Rosen oder Motorräder und deutlich zu viel Tagesfreizeit haben und deshalb unter jedem Zeitungsartikel oder Fernsehbeitrag kommentieren und die Schuld für alles Elend dieser Welt bei Angela Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik suchen und finden, die würden dann vielleicht einfach nur noch „Candy Crush“ auf ihren Smartphones spielen.
Nun ist es sicherlich so, dass man in manchen Berufen, vor allem in den Medien, auf Facebook sein muss – auch, wenn man kein Schamane mit Breitband-Anschluss in der Agentur ist. Weil man den Facebook-Auftritt des Unternehmens oder der Behörde befüllt, weil man mit Kunden oder Bürgern in Kontakt treten soll, oder mal schauen können muss, „was das Netz so sagt“. Eigentlich müsste der Arbeitgeber da zusätzliches Schmerzensgeld zahlen.
Aber auch privat kann man dem Elend gar nicht so leicht entkommen: Versuchen Sie mal, ohne Facebook und/oder WhatsApp mit einer größeren Gruppe Menschen (Elternrat in der Kita, Einladung zum Osterfrühstück, Organisation von Geburtstagsgeschenken oder – gerne nicht – Junggesellenabschieden) zu kommunizieren! Das geht vielleicht, wenn alle ein iPhone haben und iMessage nutzen können, oder wenn man ausschließlich Nerd-Freunde hat, die Dienste wie Threema oder Telegram nutzen.
Und WhatsApp gehört ja genauso zu Facebook wie Instagram und Facebook selbst. Wenn man da einmal einen Haken falsch gesetzt hat, hat man der Firma die Daten all seiner Kontakte übermittelt. WhatsApp funktioniert sowieso nur noch, nachdem man das getan hat – und sich damit nach Ansicht vieler Datenschützer und Juristen strafbar gemacht hat, weil man diese Daten niemals hätte weitergeben dürfen.
Welcher Fluchtpunkt bleibt uns noch? Vor drei Wochen war Vero – ironisch gebrochen – das große Ding. Dahinter stecken ein libanesischer Milliardär, der vorher als Bauunternehmer erfolgreich wurde, indem er seine Arbeiter nicht bezahlte, und jede Menge russische Entwickler, was für viele gleich ein Alarmsignal war wegen der russischen Umtriebe bei Facebook und Twitter. Andererseits könnte man sagen: Bei Vero steht wenigstens schon „schön dubios“ dran.
Wenn Leute (gerne natürlich: Journalist*innen) jetzt auf Facebook schreiben, man könne Facebook doch nicht einfach so hinter sich lassen – die vielen Lese-Empfehlungen, die netten Kontakte -, scheinen sie vergessen zu haben, dass es mal eine Zeit gab im Internet, als wir alle noch nicht bei Facebook unterwegs waren. Sondern z.B. in Blogs.
Dieser Text besteht aus Gedanken, die ich mir gemacht habe, bevor ich mit Bremen Zwei über Facebook gesprochen habe, die aber nicht alle im Gespräch Platz fanden.
Außerdem habe ich heute (hoffentlich) sämtliche Facebook-Interaktions-Tools aus dem Blog geworfen.
Dies ist kein Abschied, denn ich war nie willkommen
Will auf und davon und nie wiederkommen
Kein Lebewohl, will euch nicht kennen
Die Stadt muss brennen
(Casper – Im Ascheregen)
Ich hab in diesem Jahr schon mehrfach Social-Media-Pausen gemacht, die „digital detox“ zu nennen ich mich scheue: Als mein Sohn Kita-Ferien hatte, wenn wir mal übers Wochenende oder etwas länger weggefahren sind, hab ich Facebook und Twitter einfach ausgelassen. Zum einen, weil die iPhones-Apps im Vergleich zur richtigen Nutzung (ich bin vermutlich der einzige Mensch Mitte Dreißig, für den ein Computer mit Bildschirm, Tastatur und Browser die „richtige“ Anwendung ist und ein Smartphone maximal eine hilfreiche Krücke für unterwegs, aber das ist mir – wie so vieles – egal) einfach noch unpraktischer sind (und das will schon was heißen), zum anderen, weil ich gemerkt habe, dass Social Media mir schlecht Laune macht.
Jetzt war ich übers Wochenende am Meer, hab gerade wieder den Laptop aufgeklappt, kurz in Facebook reingeguckt und schon wäre die ganze wunderbare Erholung (Strahlend blauer Himmel, knallende Sonne und 24 Grad Mitte Oktober! 17 Grad Wassertemperatur! In der Nordsee!) fast wieder weg gewesen.
Und dann traf mich die Erkenntnis und ich hatte endlich einen Vergleich bzw. eine Metapher für das gefunden, was mich an Social Media so sehr nervt, dass ich geradezu von „krank machen“ sprechen würde: Es ist, als säße man in der Straßenbahn und könnte die Gedanken jedes einzelnen Menschen mithören. Da sitzt ein Mann, der gerade seinen Job verloren hat und nicht weiß, wie es weitergehen soll. Dort ist eine Frau, die gerade auf dem Weg in die Klinik ist: Ihre Mutter hat Krebs im Endstadium. Hier sitzt ein 16-jähriges Mädchen, dessen Freund, ihre erste große Liebe, gerade Schluss gemacht hat und schon mit einer anderen zusammen ist. Und da drüben ein kleiner Junge, dessen Hamster gestern gestorben ist.
Natürlich sitzen da auch welche, denen es gut geht: Eine Familie auf dem Weg in den Zoo. Ein alter Mann, der gerade seinen neugeborenen Urenkel besucht hat und sich gleich eine Dose Linsensuppe warmmachen wird, sein Leibgericht. Eine junge Frau auf dem Weg zum ersten Date – sie weiß es noch nicht, aber sie wird den Mann später heiraten und eine glückliche Familie mit ihm gründen. Doch ihre Gedanken sind nicht so laut, weil sie nicht immer nur um das eine schlechte Ding kreisen, sondern sie entspannt und glücklich in sich ruhen. Eher das Schnurren einer zufriedenen Katze – und damit unhörbar im Vergleich zu dem Geschrei einer Metallstange, die sich in einem sehr großen Getriebe verkantet hat.
Aber mehr noch: Nicht nur ich kann all diese Gedanken hören – alle können einander hören. Und die, die selbst schon völlig durch sind, schreien dann die anderen an: „Sie sind eh unfähig, völlig klar, dass Sie entlassen wurden!“, „Interessiert mich nicht mit Deiner Mutter, jeder muss mal sterben!“, „Dumme Schlampe! Was lässt Du Dich auch mit so einem Typen ein? Schlechter Männergeschmack und keinerlei Menschenkenntnis!“, „Hamster sind eh hässlich und dumm!“
Das ist kein Ort, an dem ich gerne wäre. Da möchte ich nicht mal fehlen.
Und doch setze ich mich dem regelmäßig freiwillig aus – oder glaube, es tun zu müssen. Weil ich beruflich wissen muss, „was das Netz so sagt“. Bei Facebook sieht die Wahrheit eher so aus: Journalistenkollegen berichten Journalistenkollegen, was in der Welt so Schlechtes los ist. „Normale“ Menschen aus meinem Umfeld posten schon kaum noch bei Facebook. Und, klar: Es ist die Aufgabe von Journalisten, zu berichten – auch und vor allem über Schlechtes. Aber dann doch vielleicht in einem Medium? Facebook war mal als digitales Wohnzimmer gestartet, inzwischen weiß niemand mehr, was es genau sein soll/will, nur, dass es so gefährlich ist, dass es mutmaßlich durch externe Manipulation die US-Wahl mit entschieden haben könnte. Die wenigsten Dinge starten als leicht schrammelige Wohnzimmer-Couch und landen als Atombombe.
Und natürlich: Es sind extreme Zeiten. Der Brexit, die US-Wahl, der Aufstieg der AfD, jetzt die Wahl in Österreich – wenn die Offenbarung von der Redaktion des „Economist“ geschrieben worden wäre, kämen darin vermutlich weniger Schafe und Siegel vor und mehr von solchen Schlagzeilen. Die letzten Tage waren geprägt von immer neuen Enthüllungen über den ehemaligen Filmproduzenten und hoffentlich angehenden Strafgefangenen Harvey Weinstein, dessen Umgangsformen gegenüber Frauen allenfalls mit denen des amtierenden US-Präsidenten zu vergleichen sind. Nach zahlreichen Frauen, die von Weinstein belästigt oder gar vergewaltigt wurden, melden sich jetzt auch viele zu Wort, die in anderen Situationen Opfer von beschissenem Verhalten widerlicher Männer geworden sind. Und, Spoiler-Alert: Es sind viele. Verdammt viele. Mutmaßlich einfach alle.
Auftritt weitere Arschlöcher: „PR-Aktion!“, „Dich würde doch eh niemand anpacken!“, „Habt Ihr doch vor vier Jahren schon gepostet, #aufschrei!“ Und während man sich mit der Hoffnung retten kann, dass sich diesmal vielleicht wirklich etwas ändern könnte (einiges deutet darauf hin, dass Harvey Weinstein tatsächlich von jener Hollywood-Gesellschaft ausgeschlossen werden könnte, die sich allzulang in seinem Licht gesonnt hatte), kommen die nächsten Kommentare rein und man zweifelt daran, ob da überhaupt noch irgendwo irgendwas zu retten ist.
Nimm einen ganz normalen Typen, so wie er im Buche steht
Gib diesem Typen Anonymität
Gib ihm Publikum, das nicht weiß, wer er ist
Du kriegst das dümmste Arschloch, das man nicht vergisst
(Marcus Wiebusch – Haters Gonna Hate)
Es gibt verdiente Kollegen wie Sebastian Dalkowski, die sich wirklich die Mühe machen, denen, die sich nicht für Fakten interessieren, weiterhin Fakten entgegenzusetzen. Die all den kleinen und großen Scheiß, den die so apostrophierten Besorgten Bürger und ihre medialen Fürsprecher so von sich geben, gegenchecken – und dafür wieder nur Hass und Spott ernten. Für Menschen wie ihn haben kettcar „Den Revolver entsichern“ geschrieben, den klugen Schlusssong des grandiosen neuen Albums „Ich vs. Wir“, in dem sie auch die vielleicht zentralste Frage unserer Zeit stellen: „What’s so funny about peace, love, and understanding?“
Aber selbst, wenn Sebastian ein oder zwei Menschen überzeugen sollte (was ich, so viel Optimismus ist durchaus noch da, einfach mal hoffe), muss ich jeden Morgen bei ihm lesen, welche Sau jene Leute, die Vokabeln wie „Gutmenschen“ und „Banhofsklatscher“ verwenden, um damit Menschen zu bezeichnen, die noch nicht ganz so viel Welthass, Pessimismus und Misanthropentum in ihren Herzen tragen wie sie selbst, jetzt wieder durchs Dorf getrieben haben. Und ich weiß, dass man es als „ignorant“ und „unprofessionell“ abtun kann, wenn ich all das nicht mehr hören und lesen will, aber: krank und verbittert nütze ich der Welt noch weniger. Ich hab sechs Jahre BILDblog gemacht – wenn ich heute wissen will, was in Julian Reichelts Kopf wieder schief gelaufen ist, kann ich das bei den Kollegen nachlesen, die unsere Arbeit dankenswerterweise immer noch weiterführen. Ich muss das nicht zwischen den vereinzelten Kinderfotos entfernter Bekannter in meinem Facebook-Feed haben. Das gute Leben findet inzwischen eh bei Instagram statt.
Ich wollte nie große Ansagen machen wie „Ich hab mich jetzt bei Twitter abgemeldet“ – muss ja jeder selbst wissen, kann ja jeder halten, wie er/sie will, wirkt auch immer ein bisschen eitel. Nur: Facebook und Twitter haben mittlerweile eine Macht, die ihren Erfindern kaum klar ist. Sie kommen nicht mehr klar mit dem Irrsinn, der dort abgeht. Und dazu kommt noch der ganze Quatsch, dass richtige Medien ihre Inhalte dort abkippen, um wenigstens ein paar Krümel abzubekommen. Natürlich interessiert es Facebook und Twitter kein bisschen, wenn ihnen ein unbedeutender Blogger aus Bochum alle verfügbaren Mittelfinger zeigt, aber: Hey, immerhin bin ich Blogger! Immerhin hab ich hier ein Zuhause im Internet. Und wenn mir einer auf den Teppich pisst, kann ich ihn achtkantig rauswerfen.
Ich weiß, dass Teile der Welt immer schlecht waren, sind und sein werden – ich brauche nicht die tägliche Bestätigung. Wie können es uns hier so gemütlich machen, wie es in dieser Welt (die übrigens auch ganz viele wundervolle Teile hat) eben geht. Und dann hab ich ja auch noch meinen Newsletter.
Ich hab ein Kind zu erzieh’n,
Dir einen Brief zu schreiben
Und ein Fußball Team zu supporten.
(Thees Uhlmann – 17 Worte)
PS: Am Meer war es übrigens wirklich wunderschön, das kriegt kein Social Media dieser Welt kaputt!
Ich schreibe jetzt seit über 25 Jahren: Schulaufsätze, Liedtexte, Drehbücher, Rezensionen, Artikel, Seminararbeiten, Blogeinträge, Vorträge, Witze, Moderationen, Newsletter, Tweets, …
Letzte Woche gab es eine Premiere, auf die ich auch noch ein paar Jahre hätte verzichten können: Ich habe meine erste Trauerrede geschrieben und gehalten – auf meine Oma, die heute vor einem Monat im Alter von 84 Jahren gestorben ist.
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich darüber etwas schreiben soll, weil es ja nicht nur um mein Privatleben geht, sondern auch um das meiner Oma und meiner Familie, deswegen will ich nicht ins Detail gehen, aber andererseits war meine Oma medial bis zuletzt fit, hat mein Blog (und andere) gelesen, „Lucky & Fred“ gehört (weswegen ich ihren Tod auch in der letzten Folge thematisiert habe) und mit uns Enkeln per Telegram kommuniziert (WhatsApp lief nicht auf ihrem iPad). Außerdem gab es ja sonst keine Nachrufe auf sie und mutmaßlich wird man auch keine Straßen nach ihr benennen oder ihr Statuen errichten.
Renate Erichsen, die für uns nur Omi Nate war, wurde 1932 in Berlin geboren, während des Krieges floh ihre Familie nach Fehmarn und ließ sich dann später in Dinslaken (of all places) nieder. Sie war, wohl auch deshalb, politisch und gesellschaftlich sehr interessiert und wollte von ihren Enkelinnen und Enkeln immer wissen, wie wir über bestimmte Dinge denken.
Die Renationalisierungen, die in der EU – aber nicht nur dort – in den letzten Jahren zu beobachten waren, bereiteten ihr große Sorgen, politische Strömungen wie AfD und Donald Trump auch. „Das habe ich alles schon mal erlebt“, sagte sie dann und es gab keine Zweifel daran, dass sie das nicht noch mal haben musste — und auch niemandem sonst wünschte.
Bei einem unserer Telefongespräche nach dem Brexit-Referendum im vergangenen Jahr beklagte sie sich darüber, dass so wenige junge Menschen zur Wahl gegangen waren — aber auch und vor allem, dass so viele alte Menschen über die Zukunft der Jungen abgestimmt und ihnen damit die Zukunft verbaut hätten. Obwohl sie, wie sie oft erwähnte, eine kleine Rente hatte, stimmte sie bei Wahlen lieber so ab, wie sie es für „die jungen Leute“ (also: uns) für richtig hielt.
All das und einige andere Dinge habe ich versucht, in meine Rede einzubauen und dabei festgestellt, dass das auf ein paar Seiten Text gar nicht so einfach ist. Klar: Auch in meinen journalistischen Arbeiten ist nie Platz für alles, aber die fühlen sich nicht an, als müssten sie ein Thema (oder in diesem Fall: ein Leben) quasi „abschließend“ verhandeln.
Vor der Trauerfeier war es auch so, dass ich hauptsächlich an meine Rede gedacht habe, was sich einerseits total egoistisch und fehl am Platze anfühlte, andererseits aber eine ganz gute emotionale Ablenkung war — und ich wollte ja auch, dass die Rede einigermaßen gut und vor allem angemessen wird.
Ich habe deshalb auch noch mal die Rede gegoogelt, die Thees Uhlmann von Tomte im Februar 2004 (Wahnsinn, wie lang das schon wieder her ist!) auf der Beerdigung von Rocco Clein gehalten hat — für meine Zwecke nur bedingt hilfreich, aber auch all die Jahre später immer noch groß, gewaltig und tröstend. Und bei der Suche bin ich auch auf ein Doppelinterview mit Thees und Benjamin von Stuckrad-Barre gestoßen, das letztes Jahr im „Musikexpress“ erschienen ist. Die beiden liegen mir ja eh sehr am Herzen (im Sinne von: ich würde ohne die beiden vermutlich gar nicht schreiben — oder zumindest nicht so, wie ich es jetzt – auch hier, gerade in diesem Moment – tue), aber es ist auch so ein schönes Gespräch, in dem es auch um besondere Menschen geht.
Und so erschien mir der Rückweg aus Dinslaken nach Trauerfeier, Urnenbeisetzung, Kaffeetrinken und sehr engem familiären Beisammensein dann auch der richtig Zeitpunkt, um nach Jahren mal wieder „Hinter all diesen Fenstern“ zu hören, das Album mit dem Tomte damals in mein Leben gekracht waren und das ich damals ganz oft im Zug von Dinslaken nach Bochum und zurück gehört hatte.
Es war sicherlich auch den besonderen Umständen geschuldet, dass mich das Album noch einmal mitten ins Herz traf: „Schreit den Namen meiner Mutter, die mich hielt“, „Das war ich, der den wegbrachte, den Du am längsten kennst“, „Es könnte Trost geben, den es gilt zu sehen, zu erkennen, zu buchstabieren“, „Von den Menschen berührt, die an dem Friedhof standen, am Ende eines Lebens“ — ich hätte mir sofort das gesamte Album tätowieren lassen können.
Dieses Gefühl, dass da jemand vor inzwischen 15 Jahren ein paar Texte geschrieben hat, die etwas mit seinem damaligen Leben zu tun hatten, und dass diese Texte dann zu verschiedenen Zeitpunkten im eigenen Leben in einem genau die wunden Stellen treffen und gleichzeitig wehtun und beim Heilen helfen: Wahnsinn! Immer wieder aufs Neue!
Und dann noch mal die liner notes zum Album lesen und immer wieder nicken und sich verstanden fühlen. Meine Oma hat Zeit ihres Lebens alle Literatur verschlungen, derer sie habhaft werden konnte — „ich habe mehr durch Musik gelernt, als durch Bibliotheken“, sang wiederum Thees Uhlmann auf der finalen Tomte-Platte.
Im Übrigen hat sich herausgestellt, dass so ein Tod (zumindest, wenn er nach einem langen und erfüllten Leben kam und die Verstorbene sich angemessen verabschieden konnte) ein vielleicht etwas abseitiger, aber zuverlässiger Gesprächsmotor ist. Ich habe jedenfalls in den letzten Wochen viele sehr gute Gespräche mit engen Freunden, aber auch ganz anderen Menschen geführt.
Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter „Post vom Einheinser“, für den man sich hier anmelden kann.
mein Name ist Lukas und ich sollte eigentlich längst schlafen. Aber dann hab ich bei YouTube ein Video entdeckt:
Einer meiner Lieblingsmusiker covert einen meiner Lieblingssongs von einer meiner Lieblingsbands! Das muss ich natürlich noch gucken und dann …
Okay: Frank Turner covert noch einen Song von The Hold Steady, aber diesmal mit einem Bandmitglied von The Hold Steady! Aber danach kann ich ja …
Okay: „Constructive Summer“ mag ich aus persönlichen Gründen noch ein bisschen mehr, aber danach sollte ich …
What the … ? Frank Turner covert einen Song einer meiner anderen Lieblingsbands!
Und noch einen! („Plea From A Cat Named Virtute“ halte ich persönlich ja für einen der besten Texte, der je geschrieben wurde – was um so bemerkenswerter ist, wenn man bedenkt, was mit anderen Menschen passiert ist, die Texte aus der Sicht einer Katze geschrieben haben.)
ARGH! Gibt es irgendeinen meiner Lieblingssongs, den Frank Turner nicht gecovert hat?
Ich muss jetzt wirklich ausmachen, aber weil sich der Kreis hier so wunderbar schließt:
Noch ein Song von The Postal Service, gecovert von einem noch absoluteren Lieblingsmusiker.
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