Ich habe diesen Text wochenlang vor mir hergeschoben, aus einem einzigen Grund: Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich einen Disclosure setzen soll oder nicht.
Wenn ich schriebe, dass ich schon seit längerem riesiger Tomte-Fan bin, mit Tomte-Sänger Thees Uhlmann schon einige Male verschiedene Alkoholika zu mir genommen habe, und ihm eine Demo der Kilians zugesteckt habe, woraufhin er die Band ganz groß rausgebracht hat, könnte mir das leicht als eitle Protzerei ausgelegt werden.
Wenn ich es nicht schriebe, käme aber garantiert jemand an, der mir noch engere Beziehungen zu Band, Sänger und Label unterstellen und mich als Beispiel für die Verlogenheit und den Inzest im Musikjournalismus hinstellen würde.
Suchen Sie sich also aus, ob Sie die nun folgende Track-by-track-Analyse des neuen Tomte-Albums “Heureka” mit oder ohne Disclosure im Hinterkopf lesen wollen.
Wenn Ihnen die Textzeilen
Und wir heben unser Glas in Demut
Ich erinner’ mich an alles und jeden
Such Dir jemanden, der Dir nicht wehtut
Du nennst das Pathos, und ich nenn’ es Leben
allerdings schon Zuviel des Guten sind, sollten Sie aber sowieso nicht weiterlesen.
Und jetzt fange ich endlich an:
Heureka
Einen Titeltrack auf einem Tomte-Album gab es zuletzt auf “Eine sonnige Nacht”, aber diese Information hat allenfalls statistischen Wert, denn “Heureka” beginnt mit einem Klavier. Thees Uhlmann singt Zeilen, die ausschließlich aus Vokalen bestehen, und hört damit in den nächsten 51 Minuten nicht mehr auf. “Du bist nicht gestorben: Heureka!”, jubiliert er im Refrain und schließt mit “Man vermisst, was einen jeden Tag umgibt”. Die küchenpsychologische Deutung: trotz aller Widrigkeiten und Umbesetzungen sind Tomte immer noch da und jetzt wollen sie weitermachen.
Wie ein Planet
Iggy Pops “Passenger” klopft sehr deutlich an, ehe Herr Uhlmann erstmal leiden darf. Im Refrain schwingt es im Vier-Viertel-Takt Sixties-mäßig vor sich hin. “Das ist die Zeit, das Leben sei schön”, heißt es im Refrain und aus dieser Jetzt-erst-Recht- und Das-passt-schon-alles-Umarmung kommt der Hörer auch nicht mehr raus.
Der letzte große Wal
Die Single. Nach einer Eingewöhnungsphase ein unglaublich großer Song. Der letzte Überlebende in einer Welt, in der sich alles geändert hat: Thees Uhlmann? Vielen Musikern würde ich so viel Selbstvertrauen und Ich-Bezogenheit übel nehmen, bei Uhlmann passt das einfach: man weiß, dass er ungeschützt hinter jedem “Ich” steht, dass er meint, was er singt. Andererseits ist spätestens jetzt die Gelegenheit, das erste Mal Dennis Becker zu loben, den vermutlich besten Gitarristen des Landes.
Wie sieht’s aus in Hamburg?
Auf “Buchstaben über der Stadt” ging es noch um “New York”, jetzt ist’s eine Nummer kleiner: Der zurückgelassene Freund in Hamburg bekommt das Denkmal gebaut, das er verdient hat. Der Refrain schrammt mit Akustikgitarre, Klavier und Satzgesang haarscharf an der Cheesyness vorbei, dann kommt ein zweistimmiges Gitarrensolo. Das wird ja über Uhlmann und seine Texte gern vergessen: wie gut die alle als Musiker sind.
Voran voran
Orgel. Bedeutungsschwere. Coldplay-Gefühl. Und dann plötzlich Elektrobeats. Spätestens jetzt wird klar, dass Tobias Kuhn (Ex-Miles, Monta) als neuer Produzent genau den frischen Wind gebracht hat, den eine Band auf dem fünften Album braucht. Der Refrain ist so sehr Stadionhymne, dass man die geschwenkten Feuerzeuge förmlich riechen kann. “Ich ziehe das durch”, singt Uhlmann und wer hätte das Recht, das in Frage zu stellen.
Küss mich wach Gloria
Musikalisch ist es England zwischen den Siebzigern und Achtzigern, trotzdem braucht das Lied gut zweieinhalb Minuten, um aus dem Quark zu kommen. Das oben aufgeführte Pathos-Zitat stammt hierher und ich kann mir gut vorstellen, dass man dieses Lied unglaublich schlimm und prätentiös finden kann. Nur: ich mag es. Uhlmann braucht halt seine persönlichen “Live Forevers”.
Es ist so dass Du fehlst
Akustikgitarren, Dreivierteltakt, Einsamkeit. Irgendwie klingt auch das nach Coldplay, aber nach deren Debüt. Melancholie und Zuflucht, “Du bist das Beil, ich bin der Wald”. Schön, aber ein bisschen was fehlt dann doch.
Und ich wander
“Du schlägst Dich durch Dein Leben wie ein Kolibri fliegt” ist natürlich auch wieder so ein Zitat, bei dem es sehr darauf ankommt, von wem es stammt. Die Musik klingt genauso wie die besungene Wanderung (“durch die warme Nacht”) und wenn man dieses Lied unterwegs auf dem MP3-Player hört, fühlt man sich so verstanden und beschützt.
Du bringst die Stories (Ich bring den Wein)
Schon musikalisch ist es Lied unglaublich _uplifting_. Dass Uhlmann offenbar einmal mehr eine Männerfreundschaft besingt, wirft die Frage auf, ob Frauen Tomte eigentlich genauso schätzen. “Wenn Du nichts mehr hast, hast Du immer noch mich, denn ich plane zu bleiben, mein Freund!” — Was müssen das für glückliche Menschen sein, die solche Lieder geschrieben bekommen?
Das Orchester spielt einen Walzer
Als ich “Heureka” zum ersten Mal hörte, ging ich zu Fuß durch die niederrheinische Landschaft. Bei diesem Lied saß ich unten am Fluss und starrte auf das Wasser. Insofern ist das Lied für mich vielleicht mit etwas zu viel Dramatik und Bedeutung aufgeladen, und ehrlich gesagt ist es das schwächste Lied auf dem Album. Trotzdem kommt hier die zentrale Zeile des Albums vor: “Mein Gott, ist das Leben schön”. Wenigstens für einen Moment sollte die Frage erlaubt sein, ob glückliche Künstler nicht unerträglich sind.
Nichts ist so schön auf der Welt wie betrunken traurige Musik zu hören!
Ja, die Songtitel auf diesem Album sind mitunter etwas überambitioniert. Und mit den Tomte-Liedern über Musik könnte man ein eigenes Album füllen. Und überhaupt: sechs Minuten! Wir befinden uns halt mitten in dem Teil der Platte, den ich objektiv als eher mäßig gelungen bezeichnen würde. Wie das Lied allerdings in der Mitte plötzlich loslegt und sich um sich selbst windet, das ist schon sehr Seattle in den frühen Neunzigern. Man weiß, wie es gemeint ist.
Dein Herz sei wild
Irgendwann zwischendurch hatten Tomte auch mal die Back-to-the-roots-Parole ausgegeben. Sie manifestiert sich in diesem Viereinhalb-Minuten-Stück, das auch auf den ersten beiden Alben hätte sein können. Irgendwie auch mehr ein “Pfffffff!”- als ein “Wow!”-Lied.
Voran voran (Laut)
Nochmal “Voran voran”, diesmal The Clash statt Coldplay. Das macht es natürlich anders, aber auch gut. Als Rausschmeißer ist dieser Bonustrack deutlich besser geeignet als “Dein Herz sei wild”, denn er macht die vorherigen Hänger wieder wett.
Fazit
So großartig das Album zu Beginn ist, so sehr baut es doch nach hinten hinaus ab. Zehn Songs statt 13 hätten es auch getan, denn dann stünde es “Hinter all diesen Fenstern” und “Buchstaben über der Stadt” in nichts nach.
Man muss “Heureka” aber wohl als Selbstfindungsprozess und Standortbestimmung hören. Immerhin hat man es hier mit einer Band zu tun, die im Vergleich zum Vorgängeralbum quasi zur Hälfte umgestellt wurde (Timo Bodenstein und Olli Koch raus; Max Martin Schröder am Schlagzeug, statt an den Keyboards; Simon Frontzek an den Keyboards), und die sich gleichzeitig weiterentwickeln und auf ihre Wurzeln besinnen will. Gemessen daran ist “Heureka” erstaunlich rund und stimmig geworden.
Die Hymnen sind noch ein bisschen größer geworden, die Rocker wieder ein bisschen wütender. Tomte sind immer noch da und sie planen zu bleiben. Und Thees Uhlmann ist der letzte große Wal.
Tomte – Heureka
VÖ: 10.10.2008
Label: Grand Hotel van Cleef
Vertrieb: Indigo