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Der blutige Weg in die Unsterblichkeit

Wäh­rend ich die­se Zei­len tip­pe, ste­hen irgend­wo in Süd­deutsch­land Poli­zis­ten vor Haus­tü­ren und üben Sät­ze, die begin­nen mit „Wir müs­sen Ihnen lei­der mit­tei­len …“. Gerichts­me­di­zi­ner bese­hen sich Ein­schuss­lö­cher an toten Kör­pern und ein Eltern­paar wird von der Kri­mi­nal­po­li­zei ver­hört. Vie­le Men­schen machen sich Sor­gen, eini­ge Vor­wür­fe und über all das könn­te ich bes­tens – oder wenigs­tens höchst spe­ku­la­tiv – infor­miert sein, wenn ich nicht vor­hin alle Nach­rich­ten­ka­nä­le gekappt hät­te.

Auf das, was die Bou­le­vard­pres­se „Tra­gö­die“ nennt, reagie­re ich ent­we­der mit doku­men­ta­ri­scher Obses­si­on (dann ver­brin­ge ich Stun­den vor dem Fern­se­her) oder mit für mich selbst merk­wür­dig anmu­ten­der Gleich­gül­tig­keit. Heu­te will ich nichts wis­sen. Der Fern­se­her ging aus, als ein Repor­ter auf n‑tv sal­ba­der­te, der Nach­bar des Amok­läu­fers habe ihm gesagt, der Täter habe oft „Bal­ler­spie­le“. twit­ter hat­te ich da schon lan­ge abge­stellt. Das ist zum einen mei­ner sehr kind­li­chen Ein­stel­lung geschul­det, wonach Din­ge, von denen ich nichts mit­be­kom­me, nie pas­siert sind; zum ande­ren weiß ich, dass der media­le Over­kill mich wahn­sin­nig und wütend zurück­lie­ße.

Ich kann also nur mut­ma­ßen, dass „Bild“ gera­de das MySpace-Pro­fil des Täters ent­deckt hat; dass irgend­ein CDU-Poli­ti­ker gera­de wie­der ein Ver­bot von irgend­et­was, was er nicht ver­steht, for­dert und dass in irgend­ei­ner Redak­ti­on gera­de Bil­der von wei­nen­den Jugend­li­chen, Ker­zen und Blu­men mit der Musik von Moby oder Enya unter­legt wer­den. Den Men­schen, die das mut­maß­lich gera­de tun, kann ich nur raten, sich einen ordent­li­chen Job zu suchen. Die Städ­te sind voll von Müll und mei­ne Schu­he müss­ten drin­gend geputzt wer­den.

Vor allem fra­ge ich mich aber, ob wir irgend­et­was über den Täter wis­sen müs­sen. Amok­läu­fe sind – auch das könn­te ich sicher wie­der über­all nach­le­sen – zumeist die Taten von Men­schen, die an ihrer Umwelt geschei­tert sind. Das (wahl­lo­se) Töten von Men­schen ist die letz­te und ein­zi­ge Domi­nanz­ges­te, zu der sie fähig sind. Und genau die­se Domi­nanz­ges­te, die Selbst­er­he­bung zum Rich­ter über Leben und Tod, wird von den Medi­en ins Uner­mess­li­che über­höht und für die Ewig­keit fest­ge­hal­ten.

Ohne nach­zu­se­hen könn­te ich Ihnen die berühm­tes­ten Schul-Amok­läu­fer der letz­ten zehn Jah­re nen­nen: Dylan Kle­bold, Eric Har­ris, Robert Stein­häu­ser. Gemein­sam haben sie (das muss­te ich jetzt doch nach­gu­cken) 28 Men­schen und sich selbst getö­tet, aber auch nach lan­gem Grü­beln wäre mir kein ein­zi­ger Name auch nur eines Opfers ein­ge­fal­len.

Dass wir Namen wie Mark Chap­man (erschoss John Len­non), Sir­han Sir­han (erschoss Robert F. Ken­ne­dy) und John Wil­kes Booth (erschoss Abra­ham Lin­coln) ken­nen, ist bei Licht bese­hen schon merk­wür­dig genug. Ihre ein­zi­ge „Leis­tung“ bestand dar­aus, einen berühm­ten Men­schen aus dem Leben zu schie­ßen. Amok­läu­fer trei­ben die­ses Phä­no­men auf die Spit­ze, denn ihr Bekannt­heits­grad rich­tet sich nicht zuletzt nach der Zahl ihrer Opfer. (Von Bas­ti­an B., der vor zwei­ein­halb Jah­ren an einer Schu­le in Ems­det­ten Amok lief, dabei aber nur sich selbst töte­te, habe ich bei­spiels­wei­se nie den Nach­na­men gele­sen.)

Die Täter blei­ben im Gedächt­nis, sie wer­den ger­ne mal – so grau­sam ist die Welt – zu Pop­kul­tur-Iko­nen. Wir wis­sen fast alles über sie, aber das hilft uns weder zu ver­ste­hen, noch kann es ver­hin­dern, dass wei­te­re Schü­ler-Gehir­ne auf over­load umstel­len (ein Bild, das dem Boom­town-Rats-Song „I Don’t Like Mon­days“ ent­stammt, der – natür­lich – von einem Schul­mas­sa­ker han­delt). Ver­mut­lich wüss­te nie­mand mehr den Namen von Sil­ke Bisch­off, die beim Gei­sel­dra­ma von Glad­beck ums Leben kam, wenn sich nicht eine Band nach ihr benannt hät­te. Die Täter? Klar: Rös­ner und Degow­ski.

Der klei­ne, aus­ge­sto­ße­ne Teen­ager, der von der Gesell­schaft igno­riert wird (und ver­mut­lich Mari­lyn Man­son hört und „Coun­terstrike“ spielt), sieht die Fotos von Har­ris, Kle­bold, Stein­häu­ser und wha­te­ver­his­na­me­may­be auf den Zei­tun­gen und nach jedem wei­te­ren Amok­lauf im Fern­se­hen. Wenn genug äuße­re Umstän­de und frei zugäng­li­che Waf­fen zusam­men­kom­men, könn­te es die Aus­sicht auf genau die­se post­hu­me Hall of Fame der durch­ge­dreh­ten Schü­ler sein, die ihn letzt­lich zur Tat schrei­ten lässt.

Soll das hei­ßen, die Medi­en soll­ten sich selbst zen­sie­ren? Viel­leicht.

Soll das hei­ßen, die Medi­en soll­ten man ein bis zwei Gän­ge run­ter­schal­ten? Auf jeden Fall!

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Von der Attraktivität deutscher TV-Nachrichten

Sie wer­den es mitt­ler­wei­le alle mit­be­kom­men haben: Ges­tern Nach­mit­tag (Orts­zeit) fie­len bei einem Air­bus A320 kurz nach dem Start am La Guar­dia Air­port bei­de Trieb­wer­ke aus und der Pilot muss­te die Maschi­ne auf dem Hud­son River not­lan­den.

Dass alle 155 Insas­sen über­lebt haben, darf man wohl getrost als ziem­li­ches Glück bezeich­nen: zwar ist der Hud­son eini­ger­ma­ßen breit und frei von Brü­cken und damit – im Gegen­satz zum East River auf der ande­ren Sei­te Man­hat­tans – durch­aus für Not­was­se­run­gen geeig­net, aber ein Flug­zeug auf einem viel befah­re­nen Fluss auf­zu­set­zen und es anschlie­ßend zu eva­ku­ie­ren, wäh­rend es lang­sam im eis­kal­ten Was­ser unter­geht, das zählt schon zu den außer­ge­wöhn­li­che­ren Auf­ga­ben eines Lini­en­pi­lo­ten.

Wer ges­tern Abend unse­rer Zeit beim Micro­blog­ging-Dienst twit­ter rein­ge­schaut hat, wur­de über die Lage bes­tens infor­miert: als eine der ers­ten Mel­dun­gen gab es ein Foto, das Janis Krums, der zufäl­lig auf einer der Fäh­ren im Hud­son und damit direkt am Unfall­ort war, mit sei­nem iPho­ne gemacht hat­te. twitpic.com brach zeit­wei­se unter dem Ansturm zusam­men und ziem­lich vie­le Nach­rich­ten­sei­ten berich­te­ten dar­über.

Wer mit einem Live­ti­cker von Augen­zeu­gen und eben­falls twit­tern­den Nach­rich­ten­agen­tu­ren ver­sorgt wur­de, für den waren die Infor­ma­tio­nen, mit denen das deut­sche Fern­se­hen sei­ne Zuschau­er zu beglü­cken ver­such­te, natür­lich ein Desas­ter. Statt ein­fach „ins Inter­net“ zu gucken, griff man lie­ber auf dün­ne Agen­tur­mel­dun­gen und Repor­ter vor Ort zurück.

Dabei ist es ein über­hol­ter Irr­glau­be der Nach­rich­ten­ma­cher, bei einem Ereig­nis erst mal an den Ort des Gesche­hens schal­ten zu müs­sen. Dort steht dann ein über­for­der­ter Repor­ter den Ret­tern im Weg rum und kann sei­ne Ein­drü­cke schil­dern – wobei er sich natür­lich gera­de gar kei­ne eige­nen Ein­drü­cke ver­schaf­fen kann, weil er ja in einer zwar atmo­sphä­ri­schen, aber weit­ge­hend Infor­ma­ti­ons­lo­sen Schal­te mit einem wiss­be­gie­ri­gen Repor­ter gefan­gen ist. Wenn er Glück hat, hat er vor­her einen Pas­san­ten fra­gen kön­nen, ob der einen lau­ten Knall gehört habe.

Nun wür­de ich nicht so weit gehen und sagen, das Inter­net kön­ne schon jetzt das Fern­se­hen erset­zen. Wenn sich mei­ne Groß­el­tern, Eltern und vie­le mei­ner Freun­de über der­ar­ti­ge Ereig­nis­se infor­mie­ren wol­len, schal­ten sie natür­lich irgend­ei­nen Nach­rich­ten­sen­der ein und auch ich hat­te zwi­schen­durch CNN lau­fen, wo Wolf Blit­zer einen der Pas­sa­gie­re gera­de tele­fo­nisch der­art mit Fra­gen löcher­te, als müs­se er selbst noch in die­ser Nacht den Unter­su­chungs­be­richt der Luft­auf­sichts­be­hör­de ver­fas­sen.

Aber was die deut­schen Nach­rich­ten­sen­dun­gen da über den Äther schi­cken, war eine dump­fe Mischung aus Kaf­fee­satz­le­sen mit Tan­te Mimi, Onkel Heinz erzählt vom Angeln und Klein-Fritz­chen erzählt sei­ner Mut­ti, wie es in der Kir­che war, obwohl er wäh­rend­des­sen Fuß­ball­spie­len war.

„Zahl­rei­che Fähr­schif­fe ver­su­chen, Über­le­ben­de zu ret­ten“, teaser­te RTL sein „Nacht­jour­nal“ an, was wohl eben­so rich­tig, aber weit weni­ger dra­ma­tisch war als das „Es gibt kei­ne Anzei­chen für einen Ter­ror­an­schlag“, mit dem Gabi Bau­er die ARD-Nach­rich­ten­at­trap­pe „Nacht­ma­ga­zin“ eröff­ne­te, bevor sie eine Vier­tel­stun­de spä­ter Thors­ten Schä­fer-Güm­bel mit der Fra­ge, wie wich­tig Sex im Wahl­kampf sei (gemeint war wohl eher „Sex­ap­peal“), völ­lig aus der Fas­sung brach­te.

Den beson­de­ren Ernst der Lage konn­te man dar­an erken­nen, dass n‑tv sei­ne geplan­ten „Natio­nal Geographic“-Reportagen kipp­te und live auf Sen­dung ging. Wäh­rend CNN, Fox News, MSNBC und BBC World ziem­lich beein­dru­cken­de Live-Bewegt­bil­der aus New York hat­ten (die Hub­schrau­ber der gro­ßen Net­works schwe­ben ja eh die gan­ze Zeit über der Stadt), hat­te n‑tv einen Mode­ra­tor im Stu­dio, meh­re­re „Brea­king News“-Laufbänder, ein paar Fotos und einen Repor­ter am Tele­fon. Und der sag­te, wenn ich ihn nicht völ­lig falsch ver­stan­den habe, dass es wohl „bald“ die ers­ten Han­dy-Fotos und ‑Vide­os im Inter­net zu sehen geben wür­de. Zu die­sem Zeit­punkt war twit­pic bereits down und bei flickr gab es jede Men­ge Foto­stre­cken und Ein­zel­bil­der zu sehen. Sogar ers­te Wit­ze.

Es geht mir gar nicht dar­um, Inter­net und Fern­se­hen gegen­ein­an­der aus­spie­len zu wol­len – und die Zei­tun­gen von heu­te waren schon gedruckt, bevor das Flug­zeug über­haupt abge­ho­ben hat­te. Aber ich den­ke, dass auch die Men­schen, die nicht bei twit­ter, flickr und Face­book unter­wegs sind, ein Anrecht auf aktu­el­le Infor­ma­tio­nen haben. Und die bekommt man heu­te nun wirk­lich so ein­fach und bil­lig wie noch nie. Auch als Nach­rich­ten­re­dak­teur des deut­schen Fern­se­hens.

Nach­trag, 20:20 Uhr: Auch mei­ne Freun­de von „RP Online“ berich­ten über die Fotos bei twit­ter und bei flickr.

Das Sen­sa­tio­nel­le dar­an: Sie schaf­fen das ohne einen ein­zi­gen Link!

Nach­trag, 17. Janu­ar, 00:23 Uhr: Zwei Tweets spä­ter hat „RP Online“ alles ver­linkt.