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Leben Gesellschaft

Möbeltransport im ÖPNV – Eine Fallstudie

Menschen mit entsprechenden Erfahrungen erklären gerne, ein Kind zu bekommen würde die Sichtweise auf die Welt völlig verändern. Ich bin weit davon entfernt, dem widersprechen zu wollen (oder zu können), aber ich kann diesen Menschen zurufen: “Für einen Perspektivwechsel braucht’s keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr. Es reicht auch, mit vier Aluminiumstühlen unterm Arm U-Bahn zu fahren.”

Und das kam so:

Ich hatte kurz vor meinem Umzug in einem Geschäft in der Bochumer Innenstadt meine Traumsitzmöbel entdeckt: Nachbauten des Designklassikers “Navy Chair”, herabgesetzt auf einen Preis, der nahezu unanständig niedrig war. Als mein Vater meiner neuen Einrichtungsgegenstände ansichtig wurde (und den dazugehörigen Preis erfuhr), rief er aus: “Sohn, gehe hin und hole mir davon, so viel Du tragen kannst!”

Das ganze Prozedere dauerte etwas länger, die Stühle mussten erst bestellt werden, aber dann waren sie da: Schön, stabil, leicht und unfassbar billig. Problem: Meine Fuhre hatte ich bequem mit einem Auto abholen können, das zum Zwecke der Umzugsvorbereitungen gerade bei mir auf dem Parkplatz rumgestanden hatte. Aber das war jetzt weg.

Da zu den oben aufgeführten hervorstechenden Eigenschaften der Möbel auch das geringe Gewicht zählt, war ich aber unbesorgt, die Situation trotzdem meistern zu können. Kurz bevor Bochum zum siebenundneunzigsten Mal in dieser Saison unter einer geschlossenen Schneedecke versank, machte ich mich also auf den Weg, kaufte die bestellten Stühle und klemmte sie mir unter dem angsterfüllten Blick der Mitarbeiter unter den Arm. Würde ich es schaffen, das Geschäft zu verlassen, ohne andere Teile der Produktpalette in Mitleidenschaft zu ziehen? Ich schaffte es. Eine freundliche Kundin hielt mir sogar die Tür auf.

Der Weg hinab in die U-Bahn-Station war kurz und soweit kein Problem. Zwar nahm ich auf der Rolltreppe einigen Platz ein, aber die wenigen Menschen, die vorbei wollten, beschieden mir geradezu ausufernd, dass das schon passe.

Die U35 stellte kein Problem dar: Die Wagen sind groß und geräumig, und da ich eh nur eine Haltestelle fahren und auf der gegenüberliegenden Seite aussteigen musste, konnte ich mich direkt vor die Tür stellen. Heikel wurde es, als sich eine Kontrolleurin näherte und die Fahrausweise sehen wollte. Auf keinen Fall wollte ich die genau ausbalancierten Sitzelemente abstellen müssen, um mein Portemonnaie zu zücken. Es war wie bei Hitchcock: Sie kam immer näher, während die Bahn schon für den Halt am Hauptbahnhof abbremste. Glücklicherweise schaffte ich es, den Zug zu verlassen, bevor ich mein Ticket vorzeigen musste.

Im Bahnhof kämpfte ich mich – etwas in Wendigkeit und Tempo gehemmt – zur unterirdischen Straßenbahnhaltestelle vor. Dort traf mich die Erkenntnis mit der Wucht einer auf dem Bühnenboden des New Yorker Palladiums zertrümmerten Bassgitarre: Die Rush Hour ist nicht der ideale Zeitpunkt, um den öffentlichen Personennahverkehr als Möbeltransporter zu missbrauchen.

Mehrere Hunderttausend Menschen (Schätzung von mir) standen am Gleis und scharrten mit den Füßen, auf dass sie sich in eben jene Straßenbahn des Todes zwängen können würden, um möglichst schnell bei Familie, Abendbrot und/oder TV-Unterhaltung zu sein. Das würde ein harter, brutaler Kampf werden.

Innerlich bereitete ich mich schon darauf vor, Galle geifernde Texte über zu kleine Verkehrsmittel, dumm glotzende Mitmenschen und die generelle Schlechtigkeit der Welt ins Internet zu kotzen. Dann kam die Bahn, eine stark gegen unendlich tendierende Anzahl Menschen stieg aus und eine ebensolche ein. Ich auch.

Es war mir etwas unangenehm und ich hatte auch Angst, Menschen mit den Leichtmetallmöbeln zu verletzen. Aber zum Glück ist ja immer noch Polarwinter und alle Menschen sind gut verpackt. Entschuldigend murmelte ich in die Runde, ich hätte halt kein Auto und die Stoßzeiten außer acht gelassen. “Ach, Sie haben sich dazu entschieden, jetzt und hier mit der Bahn zu fahren und damit ist es gut”, erklärte mir eine Frau mittleren Alters zu meiner eigenen Verwunderung meine momentane Situation.

Erstaunlicherweise waren alle Menschen in einem Maße hilfsbereit, dass mich sofort das schlechte Gewissen überkam, vorher jemals etwas anderes erwartet zu haben: Soll ich Ihnen das mal abnehmen? Wo müssen Sie denn raus? Wissen Sie, auf welcher Seite der Ausstieg ist?

An meiner Haltestelle trug mir ein junger Mann zwei zwischenzeitlich doch mal abgestellte Stühle auf den Bahnsteig und fragte, ob er mir tragen helfen solle, er wohne hier ja auch in der Gegend. Vielen Dank, sagte ich, geht schon.

Auf der Rolltreppe nach oben starrte mich eine junge Frau mit einer Mischung aus Mitleid und Entsetzen an und fragte, ob ich Hilfe brauche. Nein, sagt ich, kein Problem, wiegt ja nix.

Drei Minuten später war ich zuhause. Ich hatte nicht nur meine Heimatstadt mit ganz neuen Augen gesehen, sondern auch die Menschen dort.

Nächste Woche bringe ich meine alte Ledercouch mit der Bahn von Dinslaken nach Bochum.

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Musik

Domino Dancing

Wer sich mit pubertären Abgrenzungssorgen trägt, tut gut daran, Popkonzerte oder Fußballspiele zu besuchen. Die Erkenntnis “Ja, auch mit diesen Menschen habe ich offenbar etwas gemeinsam”, kann gleichermaßen befreiend wie verstörend wirken. Aber ist es nicht beruhigend zu wissen, dass auch Menschen, die Ed-Hardy-T-Shirts tragen, die gleiche Musik gut finden dürfen wie man selbst?

Gestern stand ich also als einer der jüngsten Besucher ohne elterliche Begleitung im Kölner Palladium (das dringend auf meine imaginäre Liste der unbrauchbarsten Konzerthallen NRWs gehört) und guckte mir die Pet Shop Boys an. Dass ich satte 50 Euro Eintritt gelatzt hatte – und das Konzert daher in jedem Fall gut finden müsste -, kam mir am Abend ungefähr ein Mal in den Sinn. Der Gedanke lautete vollständig: “Doch, die 50 Ocken ham’ sich gelohnt”.

Pet Shop Boys live

Bei der Bühne hatten sich der studierte Architekt Chris Lowe und der ehemalige Musikjournalist Neil Tennant (sowie deren Mitarbeiter) sichtlich Mühe gegeben, den feuilletonistisch angehauchten Besuchern Steilvorlagen zu liefern: Aus großen weißen Würfeln wurden immer wieder neue Wände zusammengepuzzelt, die dann als Projektionsflächen für Videos dienten — fast genau so, wie die Musiker auch ihr eigenes Werk immer wieder neu zusammenpuzzelten: “Pandemonium” wurde mit “Can You Forgive Her?” gekreuzt, “Building A Wall” mit “Integral” und “Domino Dancing” ging schnell in Coldplays “Viva La Vida” über, dessen “Oh-oh-ooh-ooooooh-oh”-Chöre sich übrigens als nächstes “Seven Nation Army” empfehlen.

Gemeinsam mit den Tänzern (drei Frauen und ein Mann in unterschiedlichsten Kostümierungen) erinnerte die Show mitunter schon ein wenig an ein Musical — aber das geht schon in Ordnung, denn auch sowas haben die Pet Shop Boys in ihrer langen Karriere ja schon gemacht. Und nur Neil Tennant beim Wechseln von Jacken und Hüten und Chris Lowe beim Bedienen verschiedenster elektronischer Instrumente zuzusehen, wäre ja auch irgendwie langweilig gewesen.

Das Bühnenbild bei den Pet Shop Boys (nachgestellt)

Dass die Setlist für mich zwischendurch ein paar Hänger aufwies (ich bin halt erst seit “Very” dabei), kann man schwerlich der Band anlasten. Die älteren Fans (also ungefähr alle anderen in der Halle) haben sich sichtlich gefreut, dass neben einigen unvermeidlichen Hits auch ein paar nicht so Formatradio-erprobte Klassiker dabei waren. Neben dem alten Material lag der Schwerpunkt dann vor allem auf dem phantastischen neuen Album “Yes” — Stücke von “Release” fehlten im Set völlig, “Fundamental” und “Bilingual” waren auch deutlich unterrepräsentiert und selbst von “Very” kam nur “Go West” vollständig zum Einsatz.

Von dieser ganzen Exegese ab war das Konzert aber auch einfach eine gelungene Party, bei der lediglich die etwas zu leise Stimme und das mitunter unschön dröhnende Keyboard negativ auffielen. Und die Preise fürs Merchandising natürlich …