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Die „Eichmannisierung“ der Akademiker

– Ein Gast­bei­trag von Dr. Mat­thi­as Bur­chardt im Rah­men des Bil­dungs­streiks 2010 –

Ich schä­me mich vor mei­nen Stu­die­ren­den. Ich schä­me mich, wenn ich Anwe­sen­heits­lis­ten her­um­ge­be, dann füh­le ich mich wie ein Block­wart. Ich schä­me mich, wenn ich ihnen die vie­len Leis­tun­gen des BA/­MA-Stu­di­ums auf­er­le­ge, die Port­fo­li­os, Pro­to­kol­le, Aus­ar­bei­tun­gen, weil ich genau weiß, dass ich sie nur ober­fläch­lich kor­ri­gie­ren kann, dass ich ihre Mühe und die kost­ba­ren Gedan­ken kaum wür­di­gen kann, im Andrang der unend­li­chen Doku­men­ta­ti­ons­auf­ga­ben. Ich wer­de wütend, wenn ich die vie­len begab­ten jun­gen Men­schen sehe, die durch die Modu­le gehetzt wer­den, so dass sie kei­ne Zeit haben, eine Sache, für die sie sich lei­den­schaft­lich inter­es­sie­ren, ver­tieft zu stu­die­ren. Die neu­en Stu­di­en­gän­ge sind ein Ver­bre­chen an die­ser Gene­ra­ti­on von Stu­die­ren­den, und im Grun­de weiß das jeder. Die wenigs­ten Abschlüs­se der über 10.000 neu­en Stu­di­en­gän­ge sind tat­säch­lich berufs­qua­li­fi­zie­rend. Sie bie­ten auch kei­nen Raum zur per­sön­li­chen Bil­dung oder Per­spek­ti­ven für gesell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung. Sie über­for­dern in der Quan­ti­tät und unter­for­dern in der Qua­li­tät, falls es so etwas noch geben soll­te, in Zei­ten, in denen Cre­dit Points zur Maß­ein­heit des Stu­di­en­erfolgs gewor­den sind. Was soll aus der „Gene­ra­ti­on Bolo­gna“ wer­den? Fle­xi­ble Pro­jekt­no­ma­den, Bil­dungs­pre­ka­ri­at in befris­te­ten Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­sen?

Ich schä­me mich für mich selbst und mei­ne Kol­le­gen, dass wir so will­fäh­rig bereit waren, alle Fach­an­sprü­che zu ver­leug­nen und gehor­sam, die­se bil­dungs­frei­en Stu­di­en­gän­ge zu erar­bei­ten – immer mit einem Blick auf die Akkre­di­tie­rungs­agen­tur, die wir noch dafür bezah­len muss­ten, dass sie uns in unse­rer Zustän­dig­keit und Exper­ti­se ent­mün­digt hat. Wie konn­ten wir Modul­hand­bü­cher schrei­ben, in denen der völ­lig unan­ge­mes­se­ne Kom­pe­tenz­be­griff aus allen Zei­len wucher­te? Wel­che jäm­mer­li­chen Sprach­ge­bil­de flos­sen aus unse­ren Federn, wo wir doch bis­lang immer so gro­ßen Wert, auf eine sach­an­ge­mes­sen Dik­ti­on gelegt hat­ten, wo wir die „Arbeit des Begriffs“ zu unserm Lebens­zweck machen woll­ten?

Jetzt pro­du­zier­ten wir ver­quas­te Angli­zis­men, um durch Eti­ket­ten­schwin­del zu ret­ten, was nicht mehr zu ret­ten war. So sehr wir uns ein­re­de­ten, in die­sen schlim­men Zei­ten, zumin­dest ein wenig der Fach­- und Bil­dungs­kul­tur zu ret­ten, konn­ten wir doch nicht ver­mei­den, zu tri­via­len Mit­läu­fern des Bolo­gna-­Re­gimes zu wer­den, zu Toten­grä­bern der Bil­dung. Ein Kol­le­ge sprach von der „Eich­man­ni­sie­rung“ der Aka­de­mi­ker. Ein dras­ti­scher Ver­gleich, dem man ent­schie­den wider­spre­chen muss, doch woher die Argu­men­te neh­men? Wie konn­ten wir die Ein­füh­rung der Hoch­schul­rä­te, die Eta­blie­rung von Top-Down-Struk­tu­ren, die öko­no­mis­ti­sche Trans­for­ma­ti­on der Hoch­schu­len zulas­sen? Jetzt heißt es Wett­be­werb, wenn den Ver­lie­rern eine Wurst hin­ge­hal­ten wird, nach der sie sich alle stre­cken, sofort bereit, alle Soli­da­ri­tät fah­ren zu las­sen, in der Hoff­nung als Sie­ger aus der Kri­se des Aka­de­mi­schen her­vor­zu­ge­hen. Über­le­bens­kämp­fe­rIn­nen, inne­re Emi­gran­ten­In­nen, Kri­sen­ge­winn­le­rIn­nen, Salon­re­vo­luz­ze­rIn­nen und natür­lich die­je­ni­gen, die im neu­en Ungeist ihre Bestim­mung ent­de­cken – die deut­sche Intel­li­genz fin­det vie­le Wege, an Bolo­gna zu schei­tern …

Es ist Zeit, dass wir unse­re Stim­me erhe­ben. Was wir jetzt preis­ge­ben, haben wir auf Jahr­zehn­te ver­lo­ren! Die „Köl­ner Erklä­rung“ ist ein Ver­such, den Dis­kurs über das Selbst­ver­ständ­nis der Uni­ver­si­tät anzu­sto­ßen. Über 1300 Unter­zeich­ner unter­stüt­zen das Anlie­gen einer Neu­be­sin­nung auf aka­de­mi­sche Bil­dung. Als Initia­tor geht es mir nicht dar­um, mei­ne eige­nen Vor­stel­lun­gen zu rea­li­sie­ren. Ich weiß, dass die Erklä­rung vor dem Hin­ter­grund einer huma­nis­ti­schen Her­kunft geschrie­ben ist, so dass Begrün­dungs­fi­gu­ren und sprach­li­che Wen­dun­gen mög­li­cher­wei­se anstö­ßig klin­gen in den Ohren von Ver­tre­te­rIn­nen einer ande­ren Tra­di­ti­ons­li­nie. Ich lade jedoch alle Mit­glie­der der Hoch­schu­len ein, sich in einer gemein­sa­men poli­ti­schen Rich­tung zusam­men­zu­fin­den. Damit wir über­haupt den pro­duk­ti­ven Streit der viel­fäl­ti­gen Theo­rien um Erkennt­nis und Bil­dung in sozia­ler Ver­ant­wor­tung füh­ren kön­nen, brau­chen wir einen Ort, der dies ermög­licht. Die­sen Ort müs­sen wir zurück­er­obern, indem wir Bolo­gna grund­sätz­lich als Irr­weg zurück­wei­sen!

Gegen Bolo­gna stim­men! http://www.bildungsstreik-­koeln.de/koelner‐erklaerung

Dr. Mat­thi­as Bur­chardt ist Aka­de­mi­scher Rat am Insti­tut für Bil­dungs­phi­lo­so­phie, Anthro­po­lo­gie und Päd­ago­gik der Lebens­span­ne der Human­wis­sen­schaft­li­chen Fakul­tät der Uni­ver­si­tät zu Köln.