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Literatur

Vogelschwatzgebiet

Eier

In der Roman­li­te­ra­tur sind Orni­tho­lo­gen eher unter­re­prä­sen­tiert. Zau­be­rer, Agen­ten, ja selbst Leh­rer sind häu­fi­ger Hel­den eines Buches als Vogel­kund­ler. Gut also, dass Mar­cel Bey­er die­ser Unge­rech­tig­keit ent­ge­gen­tritt und in sei­nem neu­en Roman „Kal­ten­burg“ gleich zwei Orni­tho­lo­gen in wich­ti­gen Rol­len prä­sen­tiert.

Der eine ist der titel­ge­ben­de Lud­wig Kal­ten­burg, renom­mier­ter Exper­te der Vogel‑, ach: der gan­zen Tier­welt, der ande­re Her­mann Funk, sein lang­jäh­ri­ger Schü­ler und Mit­ar­bei­ter und Erzäh­ler des Romans. Die bei­den ler­nen sich Anfang der 1940er Jah­re ken­nen, als Funk noch ein Kind ist und mit sei­nen Eltern in Posen wohnt, wo der Pro­fes­sor lehrt. Ähn­lich einem frisch geschlüpf­ten Vogel wird Funk in die­ser Zeit auf Kal­ten­burg geprägt und bleibt es sein Leben lang.

Aus­ge­löst durch Gesprä­che mit einer Dol­met­sche­rin in der Rah­men­hand­lung erin­nert sich Funk an Kal­ten­burg und des­sen Insti­tut in Losch­witz, an die gemein­sa­men Freun­de, den Künst­ler Mar­tin Speng­ler und den Tier­fil­mer Knut Sie­ver­ding. Die­se vier Leben sind untrenn­bar mit­ein­an­der ver­wo­ben, immer wie­der lau­fen sich die Män­ner über den Weg und beein­flus­sen sich gegen­sei­tig. Die Angst, zen­tra­ler Gegen­stand von Kal­ten­burgs Tier­ver­hal­tens­for­schung, taucht auch im Umgang der Men­schen mit­ein­an­der immer wie­der auf, die Tier­welt fun­giert als offen­sicht­li­che Pro­jek­ti­ons­flä­che für das Mensch­li­che.

Die Jah­re kom­men und gehen, so wie die ver­schie­dens­ten Per­so­nen im Dresd­ner Insti­tut ein- und aus­ge­hen. Im Mit­tel­punkt steht immer Lud­wig Kal­ten­burg, der dem Erzäh­ler nach dem Ver­lust sei­ner Eltern bei der Bom­bar­die­rung Dres­dens eine Art Ersatz­va­ter wird, ohne dass dies je aus­for­mu­liert wür­de. Die gan­ze Zeit bleibt der Erzäh­ler selt­sam eigen­schafts­los: obwohl der Leser fast sei­ne gan­ze Lebens­ge­schich­te erzählt bekommt, erfährt er doch kaum etwas über ihn. Sogar sein Name erscheint eher zufäl­lig im Text – aller­dings so betont neben­säch­lich, dass es nur all­zu bemüht wirkt.

Bey­ers Inter­es­se an der Orni­tho­lo­gie scheint auf­rich­tig, sei­ne Beschrei­bun­gen und Aus­füh­run­gen fun­diert. Lei­der haf­tet dafür vie­len ande­ren Sze­nen, in denen der 42-jäh­ri­ge Autor etwa über die fünf­zi­ger Jah­re in der DDR schreibt, um so mehr der Makel des Ange­le­se­nen an. Den leben­di­gen Schil­de­run­gen des Insti­tuts­all­tags steht eine farb­lo­se, sche­ma­ti­sche Außen­welt gegen­über, was sich mit etwas gutem Wil­len natür­lich auch als Stil­mit­tel sehen lie­ße: es gibt eben kaum eine Welt außer­halb des Insti­tuts. Dass der Erzäh­ler ver­hei­ra­tet ist, erfah­ren wir eben­so bei­läu­fig wie sei­nen Namen, Kal­ten­burg selbst ist der Poli­tik gegen­über macht­los, durch­schaut die Manö­ver sei­ner Fein­de nicht und muss sei­ner eige­nen Demon­ta­ge zuse­hen, als er sich ab 1964 in fach­frem­de Gefil­de wagt und sei­ne NS-Ver­gan­gen­heit ans Licht kommt.

Die Haupt­fi­gu­ren, die sehr eng an Kon­rad Lorenz, Joseph Beuys und Heinz Siel­mann ange­lehnt sind, sind aus­führ­lich beschrie­ben und wer­den doch nicht greif­bar. Sie sol­len Cha­rak­te­re sein und Platz­hal­ter für eine Ver­hand­lung deut­scher Geschich­te, aber sowohl für die eine, als auch für die ande­re Rol­le fehlt ihnen der Tief­gang. Im letz­ten Teil des Romans wird die Ehe­frau des Erzäh­lers über ihre Vor­lie­be für die Wer­ke Mar­cel Prousts cha­rak­te­ri­siert und es scheint, als ver­su­che Bey­er plötz­lich auch noch das Vor­bild für den eige­nen Erzähl­stil mit ein­zu­bau­en. Die Dol­met­sche­rin in der Rah­men­hand­lung ist dabei nicht mehr als eine Stich­wort­ge­be­rin für die Erin­ne­rungs­mo­no­lo­ge des Erzäh­lers, sie selbst bleibt eigen­schafts­lo­ser als so man­ches Tier im Roman.

Das Ärger­lichs­te aber: der Pro­log zu „Kal­ten­burg“ baut eine Erwar­tungs­hal­tung auf, die das Buch anschlie­ßend nicht ein­lö­sen kann. Der unglaub­lich packen­de Ein­stieg läuft ins Lee­re, die fol­gen­den 380 Sei­ten haben nichts mehr mit den gewal­ti­gen Bil­dern des Beginns zu tun. Bey­ers Roman erweist sich als nett geschrie­be­ne Nach­er­zäh­lung, die sich um die Auf­la­dung mit Bedeu­tung bemüht: gro­ße The­men wie Schuld, Kon­se­quen­zen des eige­nen Han­delns und auch per­sön­li­che Abhän­gig­kei­ten wer­den immer nur ange­deu­tet und dann wie­der lie­gen­ge­las­sen. Eine ziem­li­che Bruch­lan­dung.

Mar­cel Bey­er – Kal­ten­burg
Suhr­kamp, 394 Sei­ten
19,80 Euro