Nachahmung sei die ehrlichste Form der Bewunderung, soll Antoine de Saint-Exupery einmal gesagt haben. Im Zweifelsfalle war es Max Goldt, der entgegnete, die ehrlichste Form der Bewunderung sei immer noch Bewunderung. Nachahmung hingegen (zumindest die allzu offensichtliche) – das beanspruche ich jetzt einfach mal für mich, falls sich kein Widerspruch regt -, ist die ehrlichste Form auszudrücken, dass man selbst weder Ideen noch das Geld für das Koks hatte, um diese zu evozieren.
Man kann das seit Monaten an den drei Wörtern „Yes“, „We“ und „Can“ ablesen (wobei man meines Erachtens für Ideen wie diese hier zumindest in der Vergangenheit mal einige Kilogramm Koks konsumiert haben muss, mit voll funktionstüchtigen Denkorganen ist das ja nicht mehr zu erklären). Und der Barack Obama der deutschsprachigen Literatur heißt „Feuchtgebiete“.
Vor allem für die letztgenannte Albernheit sollte sich der Carlsen-Verlag schämen. Das Traditionshaus hat immerhin auch den ganzen Vampir-Tand von Stephenie Meyer im Angebot – und da hätte sich doch eine Fusion gut gemacht. „Bis(s) zur Schamgrenze“ vielleicht. Oder direkt „Blut“. Aber der Titel war schon weg. Stephen King, Sie ahnten es bereits.
„Also, Shakespeare hatte auf alle Fälle ’n paar krasse Probleme. Der war bestimmt schwul!“, diagnostizierte ein pickliger 16-Jähriger, der mit seiner ganzen Klasse zum Theaterbesuch genötigt worden war, beim Herausgehen. Was war geschehen?
Als Lehrer – gerade als einer, der sich für seine Schüler interessiert – ist es nicht die schlechteste Idee, mit ihnen eine Inszenierung von David Bösch zu besuchen. Der gerade 30-jährige Regisseur, dessen „Romeo und Julia“ am Bochumer Schauspielhaus mir vor vier Jahren sehr gefallen hat, hat die Popkultur mit so großen Löffeln gefressen, dass auch die angestaubtesten Klassiker bei ihm zu einem bunten, lauten Reigen werden, der gerade die jüngeren Besucher anspricht.
Die allerdings werden bei seinem „Was Ihr wollt“ auch nicht mehr so ganz mitgekommen sein, denn heutige Schüler erkennen weder ein Roy-Black-Medley noch die größten Hits des Jahres 1993, wenn sie ihnen vorgesungen werden. Für sie ist die Jugend ihrer älteren Geschwister (wenn überhaupt) ungefähr so weit weg wie Shakespeares Zeit selbst. Und somit stehen sie doch wieder weitgehend ungebrochen vor dem Werk des Schwans von Avon.
Und damit vor Viola und ihrem Zwillingsbruder Sebastian, die bei einem Schiffbruch getrennt werden. Viola wird in Illyrien angespült, wo der Herzog Orsino seit Jahren der Gräfin Olivia den Hof macht, die wiederum von ihrem Onkel Sir Toby mit dessen Saufkumpan Andrew verkuppelt werden soll und darüber hinaus von ihrem Haushofmeister Malvolio begehrt wird. Viola verkleidet sich mit Hilfe eines Narren als Mann und wird als Cesario Diener bei Orsino, woraufhin sich Olivia in Cesario (also Viola) verliebt.
Wenn man es so aufschreibt, klingt die Geschichte deutlich mehr nach einer Vorabendserie im deutschen Fernsehen als nach Shakespeare, und in der Tat wirkt es auf der Bühne des Essener Grillo-Theaters auch so. Es ist ein unübersichtliches Wirrwarr, bei dem die einzelnen Charaktere am allerwenigsten wissen, was um sie herum passiert. Ob sie deshalb gleich wie Sir Toby und Andrew, die direkt der White-Trash-Hölle eines Hooliganblocks zu entstammen scheinen, betrunken herumkaspern müssen, ist eine gute Frage. Aber Konflikte scheinen im modernen Theater eh daraus zu bestehen, dass Menschen auf einer riesigen Bühne aneinander vorbeirennen.
David Bösch hat viele Details in seine Inszenierung eingebaut. Manche wirken durchdacht, andere nur aufgepfropft. Warum zum Beispiel singt das Dienstmädchen Maria an einer zentralen Stelle ausgerechnet „New England“ (in dem es ja eben nicht um eine gesellschaftliche Utopie wie Illyrien, sondern „just“ um das Finden einer neuen Liebe geht)? Wirklich nur, weil Karsten Riedel, seit längerem Böschs treuer Musikant am Bühnenrand, so ein großer Billy-Bragg-Fan ist? Auch der Umstand, dass Nicola Mastroberardino als Sir Andrew eins zu eins aussieht wie Matt Dillon in Cameron Crowes Kultkomödie „Singles“, kann eine Bedeutung haben. Aber welche?
„Was Ihr wollt“ wirkt wie eine lose Ansammlung von Zitaten, bei der sich der Regisseur nicht so recht entscheiden konnte, was er damit eigentlich bezwecken wollte. Malvolio (Roland Riebeling) ist die groteske Karikatur einer tragischen Figur, die irgendwann nur noch nervt. Inmitten dieser ganzen Überzeichnungen sticht ausgerechnet die Hauptfigur Viola mit einer Unauffälligkeit hervor, die man Sarah Viktoria Frick angesichts der Über-Performance ihrer Kollegen hoch anrechnen muss.
Und so schlingert die Inszenierung an der Zielgruppe vorbei. Dass die Schüler den Kuss zweier Männer mit lautem Ekel kommentieren, während kurz zuvor der Kuss zweier Frauen geräuschlos über die Bühne ging, sagt vielleicht etwas über die jugendlichen Zuschauer aus, aber nichts über das Stück. Aus dem Kreise der Schüler kam dann auch das Todesurteil, dem man sich freilich nicht vollumfänglich anschließen muss: „Ich find das nicht komisch, da guck ich mir lieber Mario Barth an!“
„Was Ihr wollt“ im Schauspiel Essen
Nächste Termine: 13. Februar, 21. März, 4. April
Den traurigsten Moment meiner akademischen Laufbahn erlebte ich eines Freitagsmorgens in einem Popliteratur-Seminar. Eine Gruppe von Kommilitonen hielt ein Referat über Benjamin von Stuckrad-Barre und an einer Stelle (in „Blackbox“) gibt es neben einer ganzen Reihe anderer Zitate auch eines von Heiner Müller: „Alles ist Material.“
Und was sagte dieser Germanistik-Student im durchaus nicht mehr ersten Semester?
„Heiner Müller, also der Mann vom ‚RTL Nachtjournal‘ …“
Familiensagen haben in Deutschland eine lange Tradition: von den Nibelungen bis zu den Beimers führt ein direkter Weg (wenn auch ein verschlungener) von Geschichten, die den Menschen das Gefühl geben sollen, ihre eigene Familie sei dann vielleicht doch gar nicht so kaputt. Den unbestrittenen Höhepunkt bilden wohl die „Buddenbrooks“, jener „Jahrhundertroman“, den Thomas Mann mit 25 Jahren veröffentlichte und der ihm Weltruhm und Literaturnobelpreis sicherte.
Heinrich Breloer, der 2001 mit „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“ die nicht minder spannende Familiengeschichte der Manns selbst dokumentiert hatte, hat sich in seinem Spielfilmdebüt nun den 750-Seiten-Klassiker vorgenommen und auf kurzweilige zweieinhalb Stunden heruntergebrochen. Der Einfachheit halber lässt Breloer mindestens eine Generation (die von Johann Buddenbrook dem Älteren) und zwei Kinder (Clara Buddenbrook und Erika Grünlich) außen vor und konzentriert sich direkt auf Jean und Bethsy Buddenbrook und ihre (jetzt nur noch drei) Kinder. Das reduziert das unübersichtliche Charakterensemble auf eine beinahe nachvollziehbare Größe, führt aber auch dazu, dass Familientradition und ‑ehre nicht mehr direkt erzählt, sondern maximal berichtet werden.
Der „Verfall einer Familie“, so der Untertitel des Romans, wird in dieser vierten Verfilmung teils pointiert, teils hektisch abgehandelt. So ziemlich alles, was in Manns Roman über die Lübecker Kaufmannsfamilie Buddenbrook spannend und außergewöhnlich ist, ist bei Breloer banal geraten. Das liegt möglicherweise daran, dass der Regisseur ein erklärter Fan des Romans und seines Autors ist – sowas geht selten gut und es funktioniert auch hier nur bedingt. Wenn man die inneren Kämpfe, die der Drehbuchautor und Regisseur zwischen Werktreue und behutsamer Neuinterpretation ausgestanden hat, hinterher auf der Leinwand sehen kann, ist etwas gewaltig schief gelaufen.
Den Schauspielern kann man das nicht wirklich anlasten: Armin Mueller-Stahl könnte man als Konsul Jean Buddenbrook leicht mit seinem Thomas Mann in „Die Manns“ verwechseln, aber Iris Berben überrascht als seine Gattin Bethsy dadurch, dass sie auch mal mehr sein kann als immer nur Iris Berben. Mark Waschke hat etwas damit zu kämpfen, dass seine Rolle des Firmenerben Thomas Buddenbrook nur in wenigen Momenten zum Sympathieträger taugt, aber die Bürde der familiären Pflicht und die zunehmenden Anstrengungen, die Fassade aufrecht zu erhalten, sind bei ihm stets glaubwürdig. Auch Jessica Schwarz, deren Tony Buddenbrook als einzige Person im Film überhaupt nicht zu altern scheint, steht die Zerrissenheit ins Gesicht geschrieben – zumindest solange, bis sich die Todesfälle in einem derart albernen Rhythmus häufen, dass man dieses Gesicht hinter dem schwarzen Schleier sowieso kaum noch zu sehen bekommt. Und August Diehl spielt den zunehmend wahnsinnigeren Christian Buddenbrook mit so viel Verve, dass man am Ende leider von Beiden genervt ist.
Die Ausstattung ist durchaus gelungen, mit großem Aufwand wurden Lübeck und Amsterdam des 19. Jahrhundert auf die Leinwand gezaubert. Dafür ist die Kameraarbeit von Gernot Roll, der bereits die TV-Version von 1979 fotografiert hatte, bis auf wenige Ausnahmen langweilig oder gar schlecht. Für die Weichzeichner beim großen Ball zu Beginn des Films gehören Kameramann und Regisseur gleichermaßen gescholten und mitunter wird allzu deutlich, dass ein bestimmter Blickwinkel nur gewählt wurde, weil sonst irgendetwas anachronistisches zu sehen gewesen wäre. Über die Musik wollen wir an dieser Stelle den Mantel des Schweigens breiten, der auch dem Komponisten Hans Peter Ströer gut zu Gesicht gestanden hätte.
Im Großen und Ganzen haben Breloers „Buddenbrooks“ viel mit Uli Edels „Baader Meinhof Komplex“ gemein, dem anderen großen deutschen Film von 2008: mit beachtlichem Aufwand, aber ohne eigene Haltung, werden die wichtigsten Stationen einer altbekannten Vorlage abgehechelt. Beide Male ist dabei solides Popcornkino entstanden, das sich als Einstieg in die jeweilige Materie eignet.
Dass ein Film dem Roman gerecht werden könnte, hat hoffentlich sowieso nie jemand geglaubt.
In meiner kleinen Stadt passieren ab und zu doch erstaunlich tolle Dinge. Denn meine kleine Stadt besitzt ein kleines Kulturkino und macht die kleine Stadt etwas weniger provinzialisch als mache (also ich) immer denken.
Meine kleine Stadt ist bekannt in der Szene, in der Szene namens Poetryslam. Poetrywhat? Poetryslam, oder zu deutsch: Gedichteschlacht.
Poetryslams sind Dichterwettkämpfe, die es schon seit dem Mittelalter und in moderner Form seit 1984 gibt. Meist finden sie auf kleinen Bühnen in kleinen oder großen Städten statt. Die Slammer tragen ihre eigenen Texte vor und aus dem Publikum wird die Jury gemacht. Zack Bum!
Die Jury kann Punkte von 0 – 10 für den Slammer geben und daraus ergibt sich dann die Punktzahl der jeweiligen Runde. Die Punktzahl entscheidet, wer eine Runde weiter ist. Wer eine Runde weiter ist, ist meistens im Finale, bei dem das gesamte Publikum schließlich durch ohrenbetäubenden Applaus und Jubel den Sieger bestimmt.
Der Sieger verdient nicht nur Ruhm und Dichterehre, nein, er gewinnt auch traditionell eine Flasche Whisky und in Zeiten der Rezession so viel Geld, dass die Heimreise gesichert ist.
Das Prinzip ist einfach, der Weg zum Sieg aber nicht. Das schöne bei einem Slam ist: man wird 3 Stunden lang mit Kopfkino vom feinsten unterhalten. Das schlechte daran: nicht jeder Kopfkinofilm ist auch ein Hit!
Es gibt Slammer, die sich vorzüglich darauf verstehen, ihr Publikum mit ihrem Text an die Hand und auf eine Reise mitzunehmen, ihnen neuen Welten zeigen und sie hinterher am Ausgang wieder unbeschadet, aber glücklich zurückzugeben. Sie können mit Wörter spielen, Sätze auseinander klauben, alle Wortwitze finden und so verpacken, dass man nicht denkt „Kenn ich schon, nächster bitte!“
Nein, manchen Slammern gelingt es ganz oft, Sprachgefühl, Rhythmus und Wortakrobatik so in eine Geschichte zu verpacken, dass man ganz gebannt einem Menschen sieben Minuten lang ins Gesicht glotzt und das einen ganzen Abend lang.
Doch bei einigen Slammern kommt man schon ins Zweifeln, denn Texte über seinen „Lieblingsdönerfritzen“ in schwäbischer Mundart kann bei so manchem dann schon eine runzelnde Stirn hervorrufen. Man könnte an dieser Stelle diesen Texte „Lieblingsdönerfritzen“ zitieren, worauf ich aber zu Gunsten der Leserschaft besser verzichte.
Aber hier gilt, wie in so vielen Bereichen: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen und die meisten Slammer wachsen an ihren Wettkämpfen. Zumal auch der Poetryslam nur durch ein demokratisches System funktioniert, was jedem die Chance bietet, sich der Jury/dem Publikum zu stellen. Mit oder mit ganz viel Talent.
Sollte in Eurer kleinen oder großen Stadt ein Poetryslam stattfinden, dann kann ich Euch nur empfehlen, dieses Ereignis zu besuchen. Denn es macht wirklich Spaß, einfach mal zu zuzuhören und sich auf einen Kopfkinofilm einzulassen.
Wer nicht gern aus dem Haus geht, kann sich in regelmäßigen Abständen im WDR am Sonntagabend nach „Zimmer frei!“ mit Kopfkino, Dichterwettkämpfen und sonstigen Wortspielereien vergnügen.
Wer nicht gern fernsieht, aber im Internet surft, findet auf Youtube die schönsten Poetryslam-Perlen.
Reimemonster 1: Sebastian Krämer
Reimemonster 2: Phibi Reichling (der Gewinner in meiner kleinen Stadt)
Man kann aus einem 330-Seiten-Roman eine elfstündige Fernsehserie machen, so wie es mit „Wiedersehen mit Brideshead“ von Evelyn Waugh 1981 geschehen ist. Man kann aus dem gleichen 330-Seiten-Roman auch einen 133-minütigen Kinofilm machen – dass dabei einiges auf der Strecke bleiben muss, ist klar.
Die Sprünge sind mitunter verwirrend. Manches erklärt sich hinterher in der Rückschau, manches nie. Was klar ist: Im Zentrum steht der junge Student Charles Ryder (Matthew Goode), der – 1923 kaum in Oxford angekommen – die Bekanntschaft des schwulen Adligen Sebastian Flyte (Ben Whishaw) macht. Die beiden weichen einander nicht mehr von der Seite, bis Charles in Venedig Sebastians Schwester Julia (Hayley Atwell) küsst. Jahre später ist Charles ein aufstrebender und verheirateter Künstler, der beim ersten zufälligen Wiedersehen über die ebenfalls verheiratete Julia herfällt, während Sebastian alkoholkrank in Marokko verschwunden ist. Charles und Julia wollen heiraten, aber dann kommt ihnen das Ableben von Julias Vater dazwischen, der auf dem Sterbebett das Christentum wieder für sich entdeckt. Plötzlich ist erst die Beziehung vorbei und kurz darauf (aber erst nachdem England mit Deutschland im Krieg ist) auch der Film.
Irgendwie haben es die Macher der Neuverfilmung geschafft, aus Evelyn Waughs (Wichtiger Cocktailparty-Smalltalk-Hinweis: Evelyn war ein Mann) gefeiertem Roman eine Melange aus Jane-Austen-Fließbandverfilmung und Rosamunde-Pilcher-Fernsehspiel herauszudestillieren. Die Handlung wurde bis zur Sinnlosigkeit verflacht, dafür wurde jede einzelne Szene mit einer opulenten Scheinbedeutungsschwere aufgeladen, damit auch jeder begreift, was Charles schon in der Eröffnungsszene aus dem Off gesagt hatte: Hier geht es um Schuld.
Außerdem geht es um Religion, soziale Unterschiede und immer wieder um das titelgebende Anwesen Brideshead, das Charles wichtiger ist als jeder Mensch. Als er zum ersten Mal einen Sommer dort verbringt, ist die sonst großartige Emma Thompson als Mutter von Julia und Sebastian damit beschäftigt, wie eine Lady zu wirken, der die ganze Schwere der Welt auf den Schultern unterhalb ihres Migräne-geplagten Hauptes lastet. Immerhin macht sie damit mehr als alle anderen Schauspieler zusammen – die stehen einfach nur an unfassbar pittoresken Sets herum und sagen das auf, was die Drehbuchautoren Andrew Davies und Jeremy Brock ihren holzschnittartigen und so gut wie nie nachvollziehbaren Charakteren an Text zugeschustert haben. Und weil das alleine noch nicht barock genug wirkt, liegt unter den Szenen, in denen es besonders dramatisch und/oder bedeutsam wird (also in nahezu jedem Moment) eine unglaublich schwülstige Filmmusik.
„Wiedersehen mit Brideshead“ ist eine Art Telenovela im Panavision-Format, bei der man minütlich darauf wartet, dass Lord und Lady Hesketh-Fortescue mit Gwyneth Molesworth im Schlepptau um die Ecke kommen. Man wird das Gefühl nicht los, dass Regisseur Julian Jarrold selbst nicht so genau wusste, was er mit dem Stoff anfangen sollte. Sein Film kippt von der Schwulenromanze in eine Dreiecksbeziehung, macht dann einige irritierende Sprünge durch Raum und Zeit, um sich in einer oberflächlichen Meditation über Religion und Glaube zu verlieren. Das wirklich Erstaunliche ist, dass sich der Film bei allen Sprüngen und verlorenen Fäden auch noch so zieht wie eine elfstündige Fernsehserie.
Gut, dass ich in Deutschland geboren wurde, denn so kann ich nie als US-Präsident kandidieren. Denn selbst wenn ich Parteiinterne Grabenkämpfe und Fernsehdebatten überstünde und wider Erwarten genug Geld für meine Kampagne gesammelt bekäme, an einer Stelle würde ich furios scheitern: bei der Nennung meiner Lieblingsbücher.
Denn was sagt es über mich als Menschen aus, wenn ich in diesem Zusammenhang „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams, „High Fidelity“ von Nick Hornby und „Gegen den Strich“ von Joris-Karl Huysmans nenne? Eben: Dass ich ein soziopathischer Nerd bin, dem seine CD-Sammlung wichtiger ist als alles andere. Die einzigen Stimmen, die ich bekäme, kämen aus Staatsgefängnissen, Platten- und Rollenspielläden.
Ich habe von all diesen Büchern nur „Im Westen nichts Neues“ gelesen und weiß so ungefähr, was bei Hemingway und Melville passiert, von daher kann ich zu den literarischen Favoriten der Präsidentschaftskandidaten wenig sagen – aber dafür gibt es ja den „San Francisco Chronicle“, der eine Reihe von Literaturwissenschaftlern, Schriftstellern und sonstigen Experten befragt hat. Sie erklären unter anderem, dass es ein wenig überrasche, dass McCain gleich zwei Anti-Kriegsromane nenne, es im Gegensatz dazu aber ziemlich naheliegend sei, dass Obama das Buch von Toni Morrison mag, in dem sich ein junger, schwarzer Mann auf die Suche nach seiner Identität begibt.
Wo sie schon mal dabei sind, geben die gleichen Leute auch noch Tipps, was der zukünftige Präsident unbedingt lesen sollte. Und da ist vielleicht auch was für Leser dabei, die nie US-Präsident werden wollten.
Es gibt ja so Sachen, die nimmt man sich immer mal wieder vor, macht sie dann aber doch nie: zum Zahnarzt gehen, rechtzeitig Weihnachtsgeschenke kaufen, „Spiegel Online“ aus dem Feedreader schmeißen. Ich habe mir seit einigen Jahren vorgenommen, endlich mal zu „Scudetto“ zu gehen, einer in Bochum schon legendären Veranstaltungsreihe in Sachen Fußballliteratur.
Ausgerichtet wird sie von Ben Redelings, der nicht nur mehrere Bücher über Fußball und das Leben als Fan geschrieben, sondern auch drei Filme über den VfL Bochum gedreht hat. Seit einiger Zeit verfolge ich sein Scudettoblog, in dem ich auch endlich die Gelegenheit witterte, „Scudetto“ einmal live zu erleben.
Und obwohl ich im Moment eher ungern mit Fußball beschäftige, ging ich trotzdem gespannt ins Bochumer Riff, wo mich „Far Away In America“ begrüßte, das vielleicht beknackteste Stück Fußballmusik aller Zeiten. Nach diesem Duett mit Village People (!!!) und der desaströsen WM 1994 hat sich die deutsche Fußballnationalmannschaft anschließend nie wieder an ein Mottolied herangewagt.
Dann ging’s los und es gab Tondokumente, Fotos, Videos (YouTube und eigene, s.a. „Scudetto-TV“, jetzt auch bei „Spiegel Online“), eigene Texte von Ben Redelings und Rezitationen wie die des grandiosen Peter-Neururer-Interviews aus der „Zeit“. Also all das, was man „Fußballkultur“ nennt.
Irgendwann zwischen Lese-Teilen und Videos gab es das (offensichtlich traditionelle) Fußballer-Zitate-Quiz, bei dem man Redelings‘ Fußball-Zitate-Buch gewinnen konnte (wer es einmal gewonnen und auswendig gelernt hat, hat beim nächsten Mal bessere Chancen) und bei dem ich gerade mal anderthalb Antworten gewusst hätte. Ben Redelings‘ eigene Texte sind kurzweilig, sehr gut beobachtet und aus der Perspektive eines echten Fans geschrieben. Dass sie nicht unbedingt auf Pointen hinauslaufen, lässt sie im auf Lacher ausgerichteten Livevortrag mitunter ein bisschen wie Angriffe von Mario Gomez wirken, macht sie aber kein Stück schlechter.
Der nächste „Scudetto“-Termin steht auch schon fest: am 16. Oktober, dann mit einem Gast, auf den das Wort „Legende“ noch zutrifft: Willi „Ente“ Lippens. Und am Abend drauf spielt der VfL Bochum gegen Borussia Mönchengladbach.
Bochum ist mit dem gesamten Ruhrgebiet Teil der Kulturhauptstadt 2010. Eine kleine Gruppe von Sprachakrobaten möchte sich daran mit ihrem Literaturprojekt beteiligen, das sie „Überschriften“ nennt.
Erste Kostproben ihres Könnens werden derzeit im Kunstmagazin „WAZ (Lokalteil Bochum)“ abgedruckt und sollen auch hier angemessen gewürdigt werden:
Da gibt es informative Kurzprosa mit verstörenden Satzanfängen, die nur wenig länger ist als ein Artikel in der Regionalpresse zum selben Thema:
Es gibt humoristische Spielereien mit Präpositionen:
Und es gibt (über der Metahpern- und Vergleichereichen Parodie auf das journalistische Genre des Kommentars) Kleinode, die in der Tradition der japanischen Haikus stehen:
Halten Sie die Augen offen für weitere Arbeiten des Künstlerkollektivs „Lokalredaktion Bochum“. Unvorstellbar, was passieren würde, wenn diese kreativen Köpfe auch noch die Möglichkeiten des Internets für sich entdeckten!
In der Romanliteratur sind Ornithologen eher unterrepräsentiert. Zauberer, Agenten, ja selbst Lehrer sind häufiger Helden eines Buches als Vogelkundler. Gut also, dass Marcel Beyer dieser Ungerechtigkeit entgegentritt und in seinem neuen Roman „Kaltenburg“ gleich zwei Ornithologen in wichtigen Rollen präsentiert.
Der eine ist der titelgebende Ludwig Kaltenburg, renommierter Experte der Vogel‑, ach: der ganzen Tierwelt, der andere Hermann Funk, sein langjähriger Schüler und Mitarbeiter und Erzähler des Romans. Die beiden lernen sich Anfang der 1940er Jahre kennen, als Funk noch ein Kind ist und mit seinen Eltern in Posen wohnt, wo der Professor lehrt. Ähnlich einem frisch geschlüpften Vogel wird Funk in dieser Zeit auf Kaltenburg geprägt und bleibt es sein Leben lang.
Ausgelöst durch Gespräche mit einer Dolmetscherin in der Rahmenhandlung erinnert sich Funk an Kaltenburg und dessen Institut in Loschwitz, an die gemeinsamen Freunde, den Künstler Martin Spengler und den Tierfilmer Knut Sieverding. Diese vier Leben sind untrennbar miteinander verwoben, immer wieder laufen sich die Männer über den Weg und beeinflussen sich gegenseitig. Die Angst, zentraler Gegenstand von Kaltenburgs Tierverhaltensforschung, taucht auch im Umgang der Menschen miteinander immer wieder auf, die Tierwelt fungiert als offensichtliche Projektionsfläche für das Menschliche.
Die Jahre kommen und gehen, so wie die verschiedensten Personen im Dresdner Institut ein- und ausgehen. Im Mittelpunkt steht immer Ludwig Kaltenburg, der dem Erzähler nach dem Verlust seiner Eltern bei der Bombardierung Dresdens eine Art Ersatzvater wird, ohne dass dies je ausformuliert würde. Die ganze Zeit bleibt der Erzähler seltsam eigenschaftslos: obwohl der Leser fast seine ganze Lebensgeschichte erzählt bekommt, erfährt er doch kaum etwas über ihn. Sogar sein Name erscheint eher zufällig im Text – allerdings so betont nebensächlich, dass es nur allzu bemüht wirkt.
Beyers Interesse an der Ornithologie scheint aufrichtig, seine Beschreibungen und Ausführungen fundiert. Leider haftet dafür vielen anderen Szenen, in denen der 42-jährige Autor etwa über die fünfziger Jahre in der DDR schreibt, um so mehr der Makel des Angelesenen an. Den lebendigen Schilderungen des Institutsalltags steht eine farblose, schematische Außenwelt gegenüber, was sich mit etwas gutem Willen natürlich auch als Stilmittel sehen ließe: es gibt eben kaum eine Welt außerhalb des Instituts. Dass der Erzähler verheiratet ist, erfahren wir ebenso beiläufig wie seinen Namen, Kaltenburg selbst ist der Politik gegenüber machtlos, durchschaut die Manöver seiner Feinde nicht und muss seiner eigenen Demontage zusehen, als er sich ab 1964 in fachfremde Gefilde wagt und seine NS-Vergangenheit ans Licht kommt.
Die Hauptfiguren, die sehr eng an Konrad Lorenz, Joseph Beuys und Heinz Sielmann angelehnt sind, sind ausführlich beschrieben und werden doch nicht greifbar. Sie sollen Charaktere sein und Platzhalter für eine Verhandlung deutscher Geschichte, aber sowohl für die eine, als auch für die andere Rolle fehlt ihnen der Tiefgang. Im letzten Teil des Romans wird die Ehefrau des Erzählers über ihre Vorliebe für die Werke Marcel Prousts charakterisiert und es scheint, als versuche Beyer plötzlich auch noch das Vorbild für den eigenen Erzählstil mit einzubauen. Die Dolmetscherin in der Rahmenhandlung ist dabei nicht mehr als eine Stichwortgeberin für die Erinnerungsmonologe des Erzählers, sie selbst bleibt eigenschaftsloser als so manches Tier im Roman.
Das Ärgerlichste aber: der Prolog zu „Kaltenburg“ baut eine Erwartungshaltung auf, die das Buch anschließend nicht einlösen kann. Der unglaublich packende Einstieg läuft ins Leere, die folgenden 380 Seiten haben nichts mehr mit den gewaltigen Bildern des Beginns zu tun. Beyers Roman erweist sich als nett geschriebene Nacherzählung, die sich um die Aufladung mit Bedeutung bemüht: große Themen wie Schuld, Konsequenzen des eigenen Handelns und auch persönliche Abhängigkeiten werden immer nur angedeutet und dann wieder liegengelassen. Eine ziemliche Bruchlandung.
Marcel Beyer – Kaltenburg
Suhrkamp, 394 Seiten
19,80 Euro
Völlig überraschend hat Oskar Lafontaine, Vorsitzender von Die Linke, im „Handelsblatt“ erklärt, dass seine Partei die Unterstützung bei der Wahl zum Bundespräsidenten vom Literatur-Geschmack der Bewerber abhängig machen werde:
Weil’s in den Kommentaren ja doch wieder untergehen könnte:
Am morgigen Montag, 3. März findet im Bistro „Mittelpunkt“ in der Stadthalle der Dinslakener Poetry Slam statt.
Alles Wissenswerte dazu findet man unter slam-dinslaken.de.vu, darunter auch die Regeln, von denen mir folgende besonders gut gefällt:
Mobiltelefone müssen während der Veranstaltung lautlos bzw. ausgeschaltet werden. Beim Klingeln während einer Lesung muss der Besitzer des Handys ein Lied aus der „Mundorgel“ vor gesamtem Publikum vortragen.
Ich selbst bin am Montag leider nicht in der Stadt, werde mir das Spektakel aber bestimmt bei einem der nächsten Termine (7. April, 5. Mai) mal ansehen.
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