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Musik Literatur

And through it all

Frü­her waren Leu­te berühmt, weil sie etwas (z.B. malen, sin­gen, schrei­ben, Krie­ge gewin­nen) beson­ders gut konn­ten. Heu­te sind sie berühmt, weil sie das Eine gut konn­ten und jetzt etwas ganz ande­res machen (z.B. Fern­seh­kö­che, Lena Mey­er-Land­rut, Donald Trump – wobei: was kann der schon?). Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war vor fast 20 Jah­ren der gefei­er­te Jung- bzw. Pop­li­te­rat („Pop­jungli­te­rat“ ging wohl irgend­wie nicht), vor zwei Jah­ren der geläu­ter­te Held sei­ner Auto­bio­gra­phie und ist jetzt bin­nen weni­ger Mona­te zum König von Insta­gram gewor­den. Gut: Über 18.000 Fol­lower lachen ech­te Influen­cer natür­lich, aber was er da in kur­zer Zeit für eine (uh, ah) Com­mu­ni­ty auf­ge­baut hat, ist schon beein­dru­ckend. Erwach­se­ne Leu­te, die sich wei­gern wür­den, einer Par­tei oder auch nur einem Sport­ver­ein bei­zu­tre­ten, fil­men sich dabei, wie sie den (wirk­lich extrem cat­c­hy­gen) Titel sei­nes neu­en Buchs in die Kame­ra sagen: „Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgend­wo hin­le­gen – Remix 3“.

Und so ist die­ser Abend hier in der Bochu­mer Zeche ein biss­chen wie die „Glow“ im Klei­nen. Für Leu­te, die mehr Bücher als Make­up zuhau­se haben. Erst­mal den Back­drop (auf dem dann doch nur Platz für „Remix 3“ war) bei Ins­ta pos­ten! In der Rei­he hin­ter mir sagen Män­ner den Satz, den Män­ner im Jahr 2018 so sagen, wenn sie das mit der Rock­star-Kar­rie­re wirk­lich auf­ge­ge­ben haben und die E‑Gitarren als Deko im Pin­te­rest-Wohn­zim­mer ver­stau­ben: „Lass mal ’nen Pod­cast zusam­men machen!“

Um kurz nach Acht geht das Saal­licht aus, ein pop­kul­tu­rel­les Maxi­mal-Mas­hup erklingt und dann, als Auf­marsch­mu­sik: „The Hea­vy Enter­tain­ment Show“ von Rob­bie Wil­liams. Das lief aber beim letz­ten Mal vor zwei Jah­ren auch schon! Der Pop­li­te­rat ist von Anfang an voll da und muss erst­mal umständ­lich eine Noel-Gal­lag­her-Fah­ne am Tisch befes­ti­gen („Es ist halt schon ein­fa­cher, wenn man Joko und Klaas ist!“). Die hat er beim Kon­zert in Ham­burg gekauft, von dem er aus­führ­lich via Insta­gram-Sto­ry berich­tet hat­te – und ich lag im Bett, sah das auf mei­nem iPho­ne und fühl­te mich ein biss­chen, als wäre ich selbst dabei gewe­sen.

Das Wort „Lesung“ hat es bei Stuck­rad-Bar­re noch nie so rich­tig getrof­fen, fast wich­ti­ger als die Tex­te ist das Drum­her­um, das Rum­hib­beln und das Abschwei­fen. Als er dann trotz­dem liest, steigt er direkt mit dem stärks­ten Text des Buches ein, einem Por­trät über Jür­gen Flie­ge, das ich schon bei Erst­ver­öf­fent­li­chung in der „Welt“ gele­sen und gefei­ert, danach aber für sechs­ein­halb Jah­re ver­ges­sen hat­te. Es ist ein Text der Sor­te „Unsag­bar gut, muss ich jetzt täg­lich drei Mal lesen, um mir zu mer­ken, wie man eigent­lich schreibt!“

Über­haupt: „Remix“ (das eine wil­de Samm­lung von zuvor ver­öf­fent­lich­ten Tex­ten ent­hielt und damals gegen den aus­drück­li­chen Wunsch des Autors nicht „Remix 1“ hieß) war im Som­mer vor 18 Jah­ren das Buch, bei dem es bei mir „Klick“ gemacht hat, und nach dem ich ange­fan­gen habe, eige­ne, sehr mei­nungs­freu­di­ge Tex­te zu schrei­ben und ins Inter­net zu stel­len (wo sie hof­fent­lich weni­ger Leser*innen hat­ten als ich heu­te Fol­lower auf Insta­gram). An „Fest­wert­spei­cher der Kon­troll­ge­sell­schaft: Remix 2“ kann ich mich kaum erin­nern (und dem Autor geht es da ver­mut­lich genau­so), die Bril­lanz kam dann erst wie­der mit „Auch Deut­sche unter den Opfern“ zum Vor­schein.

All die­sen Büchern ist gemein, dass es sich um Text­samm­lun­gen han­delt, die The­men und vor allem die Qua­li­tät also etwas schwan­ken. Nach dem gran­dio­sen Besuch beim TV-Pfar­rer folgt also in der Live-Dar­bie­tung ein Text dar­über, wie sich Stuck­rad und sei­ne Freun­din Part­ner­tat­toos ste­chen las­sen, weil sie so ver­liebt sind. Das ist im Buch schon einer der schwächs­ten Tex­te (die Faust­re­gel, wonach glück­li­che Künst­ler kei­ne gute Kunst erschaf­fen kön­nen, hat lei­der wei­ter­hin Bestand), wird in der Gegen­wart aber auch nur bedingt dadurch auf­ge­wer­tet, dass Bezie­hung und Tat­toos inzwi­schen schon wie­der Geschich­te sind.

Zur Auf­lo­cke­rung sol­len danach alle, die auch bei Insta­gram sind, auf die Büh­ne, damit er uns foto­gra­fie­ren und hin­ter­her tag­gen kann. Wir kom­men der Auf­for­de­rung brav nach, in die­sem Moment ist völ­lig unklar, ob das hier die Grün­dungs­ver­an­stal­tung einer neu­en Sek­te ist und wie viel das noch (wenn über­haupt) mit Iro­nie zu tun hat. Wir stel­len uns also zum ers­ten Klas­sen­fo­to seit 15, 20 Jah­ren auf und nach­dem wir end­lich rich­tig ste­hen und Stuck­rad-Bar­re sein Foto gemacht hat, bedankt er sich so über­schwäng­lich, dass lang­sam klar wird: der meint das ernst. Er macht sich stän­dig über die­sen Insta­gram-Kram und sei­ne Rol­le dar­in lus­tig, aber er genießt es wirk­lich, die­se Stim­mung in die ech­te Welt zu holen: „Auf Insta­gram gibt’s kei­ne Nazis, da gibt’s nur Her­zen!“ Hach.

Die Idee, im Früh­jahr 2018 einen Text über die Fuß­ball-WM 2010 zu lesen, ist dann gera­de­zu absurd, aber drum­her­um kom­men wie­der so vie­le Aus­schwei­fun­gen, dass Jogi Löws baby­blau­er Baby­kash­mir-Pull­ove­ra jetzt wirk­lich kaum noch was zur Sache tut. Dafür gibt es Geschich­ten aus dem Cha­teau Mar­mont, „in dem ich aus Image-Grün­den lebe – zumin­dest so lan­ge, bis die gan­ze Koh­le auf­ge­braucht ist und ich wie­der auf Lese­rei­se gehen muss“, und eine Dis­kus­si­on mit einer Zuschaue­rin über Toco­tro­nic (inkl. Hör­pro­be und Aus­füh­run­gen dar­über, dass man als Fan die Schuld für das Nicht-mehr-Ver­ste­hen eines Idols bei sich selbst suchen soll­te). Als Zuga­be, für die er aber gar nicht erst von der Büh­ne geht, dann den wie­der­um sehr guten Text über ein Madon­na-Kon­zert, bei dem das mit dem stän­di­gen „Remix“ jetzt end­lich mal Sinn ergibt (oder so ähn­lich), weil Stuck­rad den Namen „Madon­na“ (bei­na­he) kon­se­quent durch „Bet­ti­na Böt­tin­ger“ ersetzt.

Ein Lied habe er noch für uns, sagt er schließ­lich und aus der augen­zwin­kern­den Pop­kul­tur­re­fe­renz wird plötz­lich Ernst, denn vom Band (sagt man noch „Band“?) läuft jetzt plötz­lich eine Live-Ver­si­on von Rob­bie Wil­liams‘ „Angels“ und der Pop­li­te­rat wird zum Sän­ger (und das nicht mal schlecht):

Das ist nun plötz­lich no sur­face, all fee­ling: Anders als nie­de­re Unter­hal­tungs­künst­ler wie Jan Böh­mer­mann es viel­leicht machen wür­den, ist das hier kei­ne Pose mit Flucht­mög­lich­keit auf die Iro­nie-Ebe­ne. Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re meint das hier alles völ­lig ernst: Er singt ein Lied, das er liebt, und ist umge­ben von Men­schen, die sich freu­en, hier zu sein. Um das jetzt doof zu fin­den, muss man ent­we­der sehr kalt­her­zig sein oder mit Pop­kul­tur so gar nichts anfan­gen kön­nen (was aufs Sel­be raus­kommt).

Am Bücher­stand dür­fen wir uns alle sel­ber auf dem Grup­pen­fo­to mar­kie­ren, der Autor signiert und posiert lan­ge für Fotos, die natür­lich alle auf Insta­gram lan­den. Falls es so etwas gibt, fühlt es sich an wie die denk­bar posi­tivs­te Ver­si­on eines Klas­sen­tref­fens. Auch wenn wir da alle natür­lich eigent­lich nie hin­ge­hen wür­den.

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Literatur

Hinter dem Horizont geht’s weiter

„lit.COLOGNE zählt nicht: Da ist über­all aus­ver­kauft!“

Ist das Koket­te­rie, Under­state­ment oder ech­ter Selbst­zwei­fel? Bei Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re weiß man ja nie. Ver­mut­lich hät­ten die Mit­ar­bei­ter vom Ver­lag und vom WDR allei­ne den Sen­de­saal („Ist das eigent­lich der gro­ße?“) voll­ge­macht, aber es gibt wohl auch genug zah­len­de Gäs­te und auch noch genug zah­lungs­wil­li­ge, für die dann aber lei­der echt kein Platz mehr ist. Qua­si-Heim­spiel, Come­back, jetzt aber wirk­lich!

Stuck­rad-Bar­re hat, das war in den letz­ten Tagen viel­leicht gele­gent­lich mal in den Feuil­le­tons und Kul­tur­sen­dun­gen ange­klun­gen, ein neu­es Buch geschrie­ben, das „Panik­herz“ heißt, von ihm selbst kon­se­quent als „Memoir“ bezeich­net wird und eine Bestands­auf­nah­me der ers­ten vier­zig Jah­re Leben ist, die auch Stoff für acht­zig Jah­re gebo­ten hät­ten. Jetzt sind’s eben 564 Sei­ten gewor­den.

Im ers­ten Kapi­tel, das hier heu­te Abend live vor­ge­le­sen wird, geht es um die Zeit in der Redak­ti­on der kurz­le­bi­gen ARD-Sen­dung „Pri­vat­fern­se­hen“ mit Fried­rich Küp­pers­busch. Das ist inso­fern lus­tig, weil Fried­rich selbst auf der Büh­ne sitzt und vor­liest, was da über ihn, Küp­pers­busch, in der drit­ten Per­son geschrie­ben steht. Ich habe mehr als 15 Jah­re spä­ter in der Redak­ti­on sei­ner (von vorn­her­ein als kurz­le­big geplan­ten) WDR-Sen­dung „Tages­schaum“ gear­bei­tet und neben mir sitzt der Redak­ti­ons­lei­ter bei­der Sen­dun­gen und ich ver­su­che, alle sei­ne Reak­tio­nen zu deu­ten. Hal­lo, Her­me­neu­tik!

Es geht dann aber recht schnell auch um das, was „Panik­herz“ für die etwas bou­le­var­desker ein­ge­stell­ten Jour­na­lis­ten inter­es­sant macht: um Dro­gen, Abstür­ze und Selbst­zwei­fel. In einer lan­gen, aber gran­dio­sen Pas­sa­ge erklärt Stuck­rad-Bar­re, war­um er unter kei­nen Umstän­den zu sei­nem 20-jäh­ri­gen Abi­tref­fen gehen konn­te – dass jeder sei­nen Auf­stieg und Fall, wenn schon nicht live medi­al mit­er­lebt, in der Wiki­pe­dia nach­le­sen kann, spielt dabei kei­ne Rol­le, er fin­det genug ande­re Grün­de.

In den vor­ge­le­se­nen Kapi­teln sind Selbst­zwei­fel und Maxi­mal­ab­stür­ze mit­un­ter schon auf Poin­te gebürs­tet, das hilft hier natür­lich, denn über zwei Stun­den Elends­beich­te wären dann – lit.COLOGNE hin oder her – viel­leicht doch ein biss­chen zu viel. Kann man ja dann zuhau­se noch mal nach­le­sen und fest­stel­len, dass es eigent­lich gar nicht lus­tig ist. Und ohne Stuck­rads Udo-Lin­den­berg-Imi­ta­tio­nen (es geht in dem Buch viel um Udo Lin­den­berg, den Hel­den seit Kind­heits­ta­gen und Ret­ter in den dun­kels­ten Stun­den) fehlt bei der Lek­tü­re im Lehn­stuhl dann auch was.

Zwi­schen­durch den­ke ich: Da sit­zen jetzt echt der Mann, des­sent­we­gen ich schon als Kind zum Fern­se­hen woll­te, und mit dem ich heu­te ab und zu Pod­casts pro­du­zie­re, und der Mann, des­sent­we­gen ich als Teen­ager mit dem Schrei­ben ange­fan­gen habe, auf einer Büh­ne und lesen aus einem Buch, das zwar eigent­lich eine Auto­bio­gra­phie – Ver­zei­hung: ein Memoir! – ist, das aber auch super als Atlas der Pop­kul­tur der letz­ten 20 Jah­re taugt. Tell me more, tell me more!

Zwi­schen dem Auf­tritt mit Rock­star­ges­te zu „Sub­ur­bia“ von – natür­lich! – den Pet Shop Boys und der Ver­ab­schie­dung mit völ­lig auf­rich­tig wir­ken­der Dank­bar­keit lie­gen vie­le Sei­ten des Buches und eini­ges an Geplän­kel zwi­schen den bei­den Vor­tra­gen­den. Wer alles deu­ten und inter­pre­tie­ren will, sieht das geal­ter­te ADHS-Kind wäh­rend die­ser Zeit siche­rer – und damit weni­ger albern – wer­den. Wer bei der lan­gen Umar­mung, bevor Fried­rich Ben­ja­min die Büh­ne zur Zuga­be über­lässt, nicht schlu­cken muss, hat ein frit­tier­tes Herz.

Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re ist wie­der da und es sieht aus, als pla­ne er zu blei­ben. Aber jetzt ent­schul­di­gen Sie mich bit­te: ich hab noch über 400 Sei­ten vor mir.

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Radio Rundfunk Literatur

Pop revisited

von Katha­ri­na Schliebs und Lukas Hein­ser

Eins­li­ve jeden­falls, die „Jugend­wel­le“ des West­deut­schen Rund­funks, fei­er­te am Frei­tag ihren 15. Geburts­tag.

Wir ver­brach­ten den gan­zen Nach­mit­tag in einer Köln-Ehren­fel­der Woh­nung, lie­ßen uns beko­chen und hör­ten dabei Eins­li­ve. Zumin­dest letz­te­res gehört zu den Din­gen, die Men­schen in unse­rem Alter sonst eher ver­mei­den. Doch dies­mal war es etwas ande­res: Wir hör­ten regel­recht gebannt zu und ver­an­stal­te­ten ein pri­va­tes Pop­quiz, denn gefei­ert wur­de mit einem eigent­lich nur bril­lant zu nen­nen­den Sen­de-Mara­thon, in dem zwi­schen 6 und 21 Uhr jede Stun­de einem ande­ren Jahr gewid­met war. Los ging es mit dem Jahr 2009 und dann immer wei­ter vor­wärts in die Ver­gan­gen­heit.

So saßen wir zu dritt vor dem Radio und hör­ten die Jah­re 1998, 1997, 1996, 1995 und wur­den dabei immer alber­ner und über­tra­fen und gegen­sei­tig mit Nerd­wis­sen aus 100 Jah­ren Pop­mu­sik. Dabei sind per­sön­li­che Musik­hör-Bio­gra­fien natür­lich irgend­wann stark abwei­chend zu dem, was im Radio an Musik läuft. Den­noch darf man nicht unter­schät­zen, wie viel Radio man dann aber doch gehört hat und wie vie­le Lie­der man kennt, auch wenn man sie eigent­lich schlimm oder belang­los fin­det (Wer um alles in der Welt kann ernst­haft auf die Idee kom­men, ein so völ­lig ega­les Lied wie „Got ‚Til It’s Gone“ von Janet Jack­son irgend­wie gut zu fin­den oder sogar die Sin­gle zu kau­fen? Ein Rie­sen­hit den­noch!), und wie vie­le Erin­ne­run­gen ver­bun­den sind mit die­sen Radio­pop­songs und den Radio­co­me­dys. Und sogar mit den Bet­ten, Drops und Jin­gles! Nie­mals hät­te man „Eins­li­ve macht hörig“ raus­schmei­ßen dür­fen.

Exkurs „Nerd­wis­sen über Eins­li­ve“: Frü­her kam direkt nach den Nach­rich­ten eine Begrü­ßung. Mit dem Relaunch 2007 lief nach den Nach­rich­ten erst ein Lied und dann sag­te der Mode­ra­tor Hal­lo. Sogar die­sen Relaunch hat Eins­li­ve für eini­ge Stun­den zurück­ge­nom­men und die Mode­ra­to­ren haben wie­der direkt nach den Nach­rich­ten eine Begrü­ßung gespro­chen! Mit dem Ori­gi­nal-Bett von frü­her! Und wenn das nie­man­dem sonst auf der gan­zen Welt auf­ge­fal­len sein soll­te: In der Ehren­fel­der Küche wur­de es bemerkt. Und beju­belt. Exkurs Ende.

Je näher der Rück­blick dem Grün­dungs­jahr 1995 kam, des­to deut­li­cher wur­de die Rol­le, die Eins Live bei der eige­nen Ado­les­zenz gespielt hat­te: Nahe­zu jeden Song konn­ten wir noch mit­sin­gen – nicht bei jedem kann­te man Titel und Inter­pret, aber wir hat­ten alles unzäh­li­ge Male gehört. Damals tat­säch­lich noch aus­schließ­lich über Radio, denn wir hat­ten ja nichts. Die Ziel­grup­pe, die jetzt zuhau­se vor dem Web­stream saß und damals noch gar nicht gebo­ren war, wird in 15 Jah­ren kaum so vie­le gemein­sa­me Erin­ne­run­gen an ein Medi­um ihrer Jugend haben.

Wir fühl­ten uns natür­lich alt und spra­chen dar­über, dass das Kon­ser­va­ti­ve manch­mal auch sei­ne guten Sei­ten habe, der Gast­ge­ber brach­te Bier – und das war der Moment, in dem wir ent­deck­ten, dass die „Beck’s“-Flaschen neue Eti­ket­ten haben. Unse­re Reak­ti­on dar­auf darf man ruhig hys­te­risch nen­nen.

Was ja auch nur in einer Medi­en­me­tro­po­le wie Köln geht: Den Beginn einer lan­des­weit aus­ge­strahl­ten Sen­dung am hei­mi­schen Radio ver­fol­gen und eine Stun­de spä­ter selbst in der Sen­dung sit­zen und applau­die­ren. Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re war zu Gast in der Sen­dung „Klub­bing“ und das pass­te irgend­wie ganz wun­der­bar zur Pop­kul­tur-Nost­al­gie an die­sem Kar­frei­tag: Stuck­rad-Bar­re ver­kör­pert die spä­ten 1990er Jah­re fast noch bes­ser als Eins Live. Aber wäh­rend der Sen­der mit sei­nem immer pro­fil­är­me­ren Pro­gramm gera­de die größ­te Hörer­schaft sei­ner Geschich­te fei­ert, hat es der Lite­rat mit sei­nem durch­aus famo­sen neu­en Buch „Auch Deut­sche unter den Opfern“ nicht mehr auf die sicht­ba­ren Plät­ze irgend­wel­cher Best­sell­ler-Charts geschafft. In gro­ßen Buch­hand­lun­gen lie­gen zwar genug Exem­pla­re von „Axolotl Road­kill“ aus, um damit die gan­ze Ober­stu­fe eines Gym­na­si­ums zu ver­sor­gen, aber den neu­en Stuck­rad-Bar­re müss­te man bestel­len. Wenn einem das jemand vor zehn Jah­ren erzählt hät­te, als man am Tag der Ver­öf­fent­li­chung von „Black­box“ klei­ne Buch­lä­den in Dins­la­ken und Göt­tin­gen gestürmt hat …

Wenigs­tens sei­ne Lesun­gen (zuletzt ger­ne mit Chris­ti­an Ulmen) sind immer noch aus­ver­kauft. Und auch hier im drit­ten Stock über dem nächt­li­chen Media­park ist der Eins­li­ve Salon gut besucht. Außen an der Tür hängt immer noch ein Schild, das den Raum als „Kult­kom­plex­ca­fé“ bezeich­net, die­ser selt­sam absur­de Name, der in sei­ner Eigen­ar­tig­keit unbe­dingt erhal­tens­wert gewe­sen wäre, denn „Salon“ ist ja nun doch, mit Ver­laub, immer noch das, wo man zum Haa­re­schnei­den hin­geht.

Das ers­te Gespräch, das Sabi­ne Hein­rich mit Stuck­rad-Bar­re noch ohne Publi­kum im Stu­dio führ­te, ließ zwar nicht das Schlimms­te, aber doch Ungu­tes befürch­ten: Nach einem etwas umständ­li­chen „Sie oder Du“-Einstieg waren die bei­den unge­fähr eine Minu­te beim sehr uner­gie­bi­gen The­ma „Oster­mär­sche“ hän­gen geblie­ben, wobei Stuck­rads Ant­wor­ten zuse­hends knap­per und generv­ter klan­gen.

Doch dann steht sie vor einem und man ist sofort ver­zau­bert: Sabi­ne Hein­rich hört sich bes­ser an und sieht bes­ser aus als im Fern­se­hen, wie sie da auf der Büh­ne des Eins­li­ve Salons steht und dem Publi­kum erklärt, dass es die Han­dys nach der Lesung ger­ne wie­der anstel­len darf. Eins ihrer Hosen­bei­ne ist aus den Stie­feln gerutscht und hängt jetzt über dem Schuh, sie trägt ein wei­ßes T‑Shirt und einen Pfer­de­schwanz, und wenn sie so die Echo-Ver­lei­hung mode­riert hät­te, dann wäre das mit Rob­bie Wil­liams viel­leicht was gewor­den.

Jetzt aber betritt erst mal Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re die Büh­ne. Er sitzt nicht ein­fach schon da rum wie vie­le ande­re Autoren vor ihm, er braucht den Auf­tritt – und wenn es nur einer durch eine ganz nor­ma­le Zim­mer­tür ist. Hat er nicht frü­her sei­ne Lesun­gen auch mit „Let Me Enter­tain You“ eröff­net?

Benjamin von Stuckrad-Barre

DJ Lar­se legt irgend­wel­che Elek­tro-Musik auf, dann wird abwech­selnd gele­sen und getalkt, wobei sich zwei Din­ge abzeich­nen: Stuck­rad-Bar­re ist ein sehr guter Autor, aber ein noch bes­se­rer Per­for­mer, und Sabi­ne Hein­rich ist zwar eine wahn­sin­nig char­man­te Mode­ra­to­rin, aber eben auch eine eher nur mit­tel­gu­te Inter­viewe­rin.

Es ist ein denk­bar ungüns­ti­ge Kon­stel­la­ti­on: Eine auf­ge­reg­te Fra­ge­stel­le­rin trifft auf einen Talk­gast, der kei­ner­lei Bereit­schaft zeigt, die etwas unglück­lich for­mu­lier­ten Fra­gen wohl­wol­lend auf­zu­neh­men. „Was ist denn ein Sit­ten­ge­mäl­de?“ – „Naja ich mein das ist ein ganz schö­nes deut­sches Kom­po­si­tum. Sit­ten-Gemäl­de. Das ist ja … Heiz-Kör­per. Was ist ein Heiz­kör­per?“ – „Ich hab noch nie so ein Wort benutzt! Sit­ten­ge­mäl­de!“ – „Du bist zuviel mit Mat­thi­as Opden­hö­vel zusam­men.“

Es läuft nicht. Im Salon ist es heiß, sti­ckig, und sehr, sehr voll. Man könn­te jetzt die eige­ne Hand abna­gen (oder die des Sitz­nach­barn). Mag gar nicht auf­hö­ren, den Dia­log zwi­schen Sabi­ne Hein­rich und BvSB wie­der­zu­ge­ben, man kann ein­fach nicht weg­hö­ren.

Sabi­ne Hein­rich sagt: „Hör mal, in dei­nem Buch war mal die Rede von Müs­li mit Brom­bee­ren.“
BvSB: „Ja, das ist sai­son­ab­hän­gig. Nä?“
Hein­rich: „Pflückst du die sel­ber in dei­nem eige­nen Gar­ten?“
BvSB: „Im Super­markt.“
Hein­rich: „Eige­ner Bio­gar­ten.“
BvSB: „GARTEN?!? Nein, nein. Gär­ten gilt es wirk­lich zu ver­mei­den. Das ist ja der Anfang vom Ende.“
Hein­rich: „Du hast ja auch kei­ne Küche, hast du gesagt.“
BvSB: „Aber das mit dem Gar­ten stimmt! Ja, nee, nein. Gär­ten.“

Es geht so wei­ter. Frau Hein­rich frag­te, wie Herr von Stuck­rad-Bar­re lebt, wie er wohnt, was er von Möbeln hält, ob er denn sel­ber kocht (Ant­wort: „Nein!“). Er kann sich offen­sicht­lich nicht ent­schei­den, ob er Frau Hein­rich jetzt wirk­lich per­ma­nent auf­lau­fen las­sen soll oder nicht und schwankt dann zwi­schen abso­lu­ter Sabo­ta­ge des Gesprächs und mit­lei­di­gem Nach­ge­ben.

Und man will ja Sabi­ne Hein­rich nett fin­den! Und ein biss­chen Mit­leid mit ihr haben, weil Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re sich so bockig zeigt! Aber dann sagt sie Sachen, da ist man froh, dass ihr Gesprächs­part­ner ent­spre­chend reagiert:

„Ich hab dich bei Jörg Tha­de­usz in der Sen­dung gehört, als Pod­cast, lie­be Grü­ße an den Jörg, und der hat dich gefragt, -“
„Jetzt wird’s aber ein biss­chen pri­vat, oder?“, unter­bricht Stuck­rad-Bar­re erneut, zurecht, leicht amü­siert.
„Es kann ja sein, dass Jörg die­se Sen­dung beim Lau­fen hört“, gibt Frau Hein­rich tap­fer zu beden­ken.
„Na dann aber auch schö­ne Grü­ße. Lie­ber Jörg, es war schön mit dir in Leip­zig.“ Zu Frau Hein­rich, ver­schwö­re­ri­scher Unter­ton: „Mein­ze der hört das?“ – „Bestimmt!“ – „Jörg? Sol­len wir in Bochum zusam­men lesen oder in Dort­mund?“

Und jetzt raten Sie, wer im Publi­kum an die­ser Stel­le nicht an sich hal­ten kann und laut „Bochum!“ ruft. Stuck­rad-Bar­re wen­det sich dar­auf­hin dem Publi­kum zu und will das aus­dis­ku­tie­ren, aber da wirft sich Frau Hein­rich dazwi­schen: „Darf ich jetzt bit­te mal mei­ne Fra­ge durch­brin­gen?!“ Sie darf. Aber sie hät­te es auch las­sen kön­nen.

Irgend­wann liest Stuck­rad-Bar­re Aus­schnit­te aus dem längs­ten Text des Buches, in dem er von der Ent­ste­hung der letz­ten Udo-Lin­den­berg-Plat­te berich­tet. Was bei der Lesung nur am Ran­de anklingt: Es ist einer der per­sön­lichs­ten und inten­sivs­ten Tex­te, den der Autor je ver­öf­fent­licht hat. Kommt Lin­den­berg zu Wort, par­odiert Stuck­rad den typi­schen Ton­fall des Musi­kers, was sehr, sehr pein­lich wir­ken könn­te (steht nicht irgend­wo im Früh­werk des Pop­li­te­ra­ten, dass Lin­den­berg an Par­odis­ten-Schu­len in der ers­ten Stun­de auf dem Lehr­plan stün­de?), hier aber magi­scher­wei­se funk­tio­niert. Als Sabi­ne Hein­rich im inzwi­schen legen­dä­ren Ange­la-Mer­kel-Inter­view die Rol­le der Kanz­le­rin liest, ist sie aller­dings ihrer­seits so klug, auf jed­we­den Par­odie-Ver­such zu ver­zich­ten.

Um Mit­ter­nacht ist die Sen­dung vor­bei, Kar­frei­tag und das Tanz­ver­bot. Es ist wie­der 2010 und Eins­li­ve klingt auch wie­der so. Alle sind wie­der so alt, wie sie sich füh­len, und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re signiert Bücher.

Pod­cast der Sen­dung her­un­ter­la­den

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Charlotte Roche las BILDblog

Die Maß­ein­heit für ver­spä­tet vor­ge­tra­ge­ne Zeit­geist­the­men heißt „Poly­lux“. Ent­spre­chend unan­ge­nehm ist es mir, mei­nen eige­nen klei­nen Film mit ein paar Impres­sio­nen der BILD­blog-Lesung erst jetzt, nach vol­len sie­ben Tagen, prä­sen­tie­ren zu kön­nen. Er hing so lan­ge hin­ter den sie­ben Har­den­ber­gen, bei den sie­ben Har­den­zwer­gen fest. Oder auf deutsch: Es gab erheb­li­che tech­ni­sche Schwie­rig­kei­ten, die zu 85% auf mei­ner gerin­gen Weit­sicht beruh­ten.

Aber jetzt ist er ja end­lich da und Sie sol­len ohne wei­te­re zu Gesicht bekom­men, wie es war, als Char­lot­te Roche, die in Wirk­lich­keit noch char­man­ter, aber auch noch ein biss­chen klei­ner ist als im Fern­se­hen, BILD­blog las: