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Digital Gesellschaft

Reinigendes Getwitter

Ich finde Twitter im Großen und Ganzen ja ganz okay und denke, es kommt wie bei jedem Werkzeug darauf an, wie man es einsetzt. Eine große Gefahr besteht natürlich darin, dass dieses Werkzeug so leicht zu bedienen ist und man deshalb oft schneller tweetet als denkt.

Was? Das habe ich schon geschrieben? Ja, sicher. Aber wenn die Aufmerksamkeitsspanne nur noch 140 Zeichen beträgt, kann man sich ja mal wiederholen.

Am Samstag haben Bundestagsabgeordnete aus der Bundesversammlung getwittert, dass Horst Köhler die Bundespräsidentenwahl im ersten Wahlgang gewonnen hat. Ich finde das einigermaßen respektlos dem Bundestagspräsidenten gegenüber, dessen Aufgabe nun mal die Verkündung des Wahlergebnisses ist.

Mag sein, dass die Abgeordneten das Ergebnis von Journalisten erfahren hatten, mag sein, dass – bis auf Angela Merkel – jeder im Reichstag Bescheid wusste — aber auch twitternde Abgeordnete sollten ein bisschen an die Außenwirkung denken. Und wenn es Aufgabe des Bundestagspräsidenten ist, das Ergebnis zu verkünden, dann sollte es zumindest kein anderes Mitglieder dieses Verfassungsorgans sein, das ihm diese Aufgabe abnimmt.

Am Dienstag haben nun offenbar einzelne Abgeordnete aus einer nicht-öffentlichen Sitzung der SPD-Fraktion getwittert, woraufhin Fraktionschef Peter Struck eine Art Wutanfall bekommen haben muss (bei dem ich gerne dabeigewesen wäre) und die SPD jetzt Konsequenzen ziehen will.

Ich finde es schon erstaunlich, dass man Volksvertretern offenbar erst einmal erklären muss, was mit “nicht-öffentlich” gemeint sein könnte — oder bringen die sonst Schwiegermütter, Hundefriseure und Hauptstadtjournalisten mit, weil die sowas auch mal von nahem sehen wollten? Wann kommen die ersten Tweets aus den geheimen Sicherheitsausschüssen? (“Hinweise auf gepl. Anschläge im Raum Berlin. Schmutzige Bombe, BKA ist dran”)

Thomas Knüwer geht davon aus, dass das Ergebnis der Bundestagswahl vorab via Twitter verraten werden wird. Damit wäre Deutschland dann wohl noch hipper als die USA, wo das Ergebnis der letztjährige Präsidentschaftswahl meines Wissens noch von den Fernsehsendern bekannt gegeben wurde.

Was mich aber besonders stört ist die Selbstverständlichkeit, mit der manche Menschen einen Freischein für Twitter fordern: Muss man denn alles, was man weiß, in die Welt hinausposaunen, nur weil man es kann?

Was ist mit den Spielregeln, auf denen unsere Gesellschaft beruht? Dass wir nicht aus dem Kino gehen und den Wartenden erzählen, wie der Film ausgeht? Dass wir Wahlergebnisse für uns behalten, bis die Wahllokale geschlossen haben? Dass wir uns nicht nackt ausziehen, mit Exkrementen einreiben und schreiend durch die Innenstadt rennen?

Nennen Sie mich konservativ, aber ich fand die Zeit ganz gut, bevor dieses postmoderne “anything goes” über uns hineingebrochen ist. Als man in kleiner Runde noch schlechte Witze machen konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass sie gleich im Internet verbreitet werden.

[Auftritt Mike Skinner: “How the hell am I supposed to be able to do a line in front of complete strangers / When I know they’ve all got cameras?”]

Nun könnte man natürlich einwenden: Man konnte anderen Menschen noch nie vertrauen, heutzutage ist es nur technisch viel einfacher (und anonymer), den Kram zu verbreiten. Handykameras und Twitter zeigen nur auf, dass wir ein Rudel bösartiger Wölfe sind, die darauf warten, übereinander herzufallen. Aber so pessimistisch wäre ich ungern.

Die Frage, die man sich beim Schreiben von Twitternachrichten stellen sollte, ist nicht “Würdest Du das Deinem besten Freund erzählen?”, sondern “Würdest Du das Deiner Mutter, Deinem Partner, Deinem Chef und allen Menschen im Ruhrstadion schriftlich geben?”

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20 Jahre Totalversagen

Journalisten lieben Jubiläen. Im Gegensatz zu tatsächlichen, tagesaktuellen Ereignissen treten diese nicht überraschend auf, man kann die Themen gründlich recherchieren, mit Zeitzeugen sprechen und das Geschehen frei von Affekten in seinen historischen Kontext einordnen. Ich würde nicht ausschließen, dass die ersten Reporter am Abend des 11. September 2001 begannen, ihre große “Ten years after”-Geschichte vorzubereiten.

Dieser Tage jährt sich das Geiseldrama von Gladbeck zum zwanzigsten Mal. Ein im wahrsten Wortsinne tragisches Ereignis, bei dem schlichtweg alles schief ging, was schief gehen konnte, und das insofern in einer Reihe mit dem Olympia-Attentat von München und der Schleyer-Entführung steht. Eine Verkettung von Unerfahrenheit und Inkompetenz auf Seiten der Behörden, ein Totalversagen der berichterstattenden Presse.

Ich bin zu jung, um mich an die drei Tage im August 1988 erinnern zu können, aber man kennt ja die Bilder von Silke Bischoff mit der Pistole an der Schläfe und Hans-Jürgen Rösner mit der Pistole zwischen den Zähnen. Und gerade das Foto von Silke Bischoff macht die große Erinnerungsparade, die schon seit einigen Wochen in den deutschen Medien abgehalten wird, zu einer Gratwanderung.

Bereits vor einem Monat brachte “Bild” im Zuge einer großen Gladbeck-Serie einen Artikel über Silke Bischoffs Mutter, der wie folgt überschrieben war:

20 Jahre nach Gladbeck: Dieses Bild lässt die Mutter der toten Silke nie mehr los

Das Demonstrativpronomen stand da natürlich nicht versehentlich, denn “dieses Bild” war darüber natürlich noch einmal riesengroß abgedruckt. ((Dass das Foto inzwischen aus der Online-Version des Artikels entfernt wurde, hat wenig zu bedeuten – erfahrungsgemäß hat das bei Bild.de häufig mit Bildrechten und selten mit Anstand zu tun.))

Fast ähnlich bizarr ist der Spagat, den die “WAZ” vollbringt: auf derwesten.de ist ein Foto von Tätern, Waffen und Geisel zu sehen, nur wenige Zentimeter über diesem Absatz:

Dass es überhaupt dieses Bild gibt: der Täter, die Waffe, die Geisel. Und dann aus dem Off diese Frage, was für eine Frage! "Was fühlen Sie so, mit der Waffe am Hals?" Silke Bischoff guckt fast freundlich über das Mikrofon, es ist ihr bald so nah wie der Revolver. "Gut", sagt sie, sie habe bloß Angst, "dass jemand umgebracht wird oder so".

Da weiß man auch nicht, ob die folgende Passage Selbstkritik oder Rechtfertigung sein soll:

Journalisten handeln statt nur zu beobachten. Angesehene Reporter sind unter ihnen, von öffentlich-rechtlichen Sendern und auch von der WAZ. Oft weiß die Presse mehr als die Polizei.

Es ist schwierig, über die Fehler der Presse von damals zu berichten, in der Presse von heute. Und es ist schwierig, diese Fotos zu verwenden. Einerseits gibt es sie, sie sind journalistische Fakten, die damals geschaffen wurden und nicht rückgängig gemacht werden können. Andererseits besteht die Gefahr, mit jedem Wiederabdruck nicht nur das Leid der Angehörigen (s. o.) zu vergrößern, sondern auch die Demütigung der damaligen Opfer zu wiederholen. Wir haben es natürlich mit Zeitdokumenten zu tun, aber man kann sie heute nur zeigen, weil die Medien damals versagt haben. Und so ist es einigermaßen schizophren, das Medienversagen von damals mit genau diesen Fotos zu bebildern.

Wenn man länger über diesen Sachverhalt nachdenkt, befindet man sich plötzlich tief in einer ethischen Grundsatzdiskussion. Wozu sind Bilder wie die von der verängstigten Silke Bischoff auf der Rückbank oder von Hanns Martin Schleyer im durchgeschwitzten Unterhemd da? Sollen sie mahnen, dass sich das Gezeigte nicht wiederholen dürfe, sollen sie Mitleid erzeugen oder sollen sie (abermals) die Sensationsgier befriedigen? ((Der Fall Schleyer unterscheidet sich vom Fall Bischoff insofern, als die Entführer die Fotos selbst gemacht haben – zum einen, um zu beweisen, dass sie Schleyer tatsächlich in ihrer Gewalt haben und er noch lebt, zum anderen sicher auch, um ihr Opfer zu demütigen.)) Solche Bilder sind durch ihre ständige Wiederholung irgendwann mehr als nur die Abbildung von Ereignissen. Sie werden zu popkulturellen Ikonen, so wie die Einschläge der Flugzeuge am 11. September 2001, die bereits einen Tag später als Dauerschleife Teil des On-Screen-Designs in den Sondersendungen von RTL waren. Sie waren aber genau genommen auch nie nur die Abbildung von Ereignissen, gerade diese Bilder waren selbst Teil der Ereignisse.

Auch stellt sich die Frage, ob es “gut”, “schlecht” oder “egal” ist, wenn solche Bilder zu Ikonen werden. Vermutlich kommt es da unter anderem darauf an, ob man sich an die Täter oder an die Opfer erinnert. Es laufen ja ernsthaft immer noch Menschen mit dem Foto von Charles Manson auf dem T-Shirt herum und Marilyn Manson hat sich ja bewusst nach Marilyn Monroe und Charles Manson benannt. Die Band 18 Summers hieß übrigens lange Jahre Silke Bischoff, was man ganz und gar geschmacklos finden, aber vielleicht auch verstehen kann, wenn Sänger Felix Flaucher erklärt, dass es ihm um das Schicksal einer Einzelperson gehe, das viel stärker berühren kann als das einer anonymen Menge.

Wenn wir als Schüler im Geschichtsunterricht Fotos aus den frisch befreiten Konzentrationslagern gezeigt bekamen, war die Botschaft klar: So etwas darf nie wieder passieren, sorgt gefälligst dafür! Was aber sollen uns die Fotos von Gladbeck ((“Gladbeck” ist ja in diesem Fall auch nur ein vereinfachendes Schlagwort, Silke Bischoff wurde ja in Bremen als Geisel genommen, die berühmt-berüchtigten Fotos entstanden auf der Domplatte in Köln.)) heute sagen? Für Journalisten schwingt da natürlich ein “nie wieder” mit und die – zugegeben eher theoretische – Frage, wie man sich eigentlich selbst in einem solchen Fall verhalten würde. Aber Journalisten sind eine ziemliche Minderheit.

Andererseits rufen Medien in Großbritannien oder den USA schon länger ihre Zuschauer bzw. Leser dazu auf, sich bei großen Ereignissen (also spannenden Katastrophen) an der Berichterstattung zu beteiligen. So kam CNN im vergangenen Jahr an einen Teil seiner Bilder vom Amoklauf in Blacksburg, VA. Udo Röbel, der sich damals als Reporter des Kölner “Express” besonders unrühmlich hervortat, als er zu den Tätern ins Auto stieg und sie aus der Stadt lotste, sagt jetzt in einem sehr lesenswerten Artikel der “Süddeutschen Zeitung”:

“Aber was ich schon glaube, ist, dass wir irgendwann ein Gladbeck anderer Art kriegen könnten. Inzwischen tummeln sich ja Leute in der Medienwelt, die Journalismus gar nicht gelernt haben. Es gibt Müller, Meier, Schulze, die mit dem Handy unterwegs sind und jederzeit in Situationen kommen können, wo etwas passiert, was sie dann filmen.”

Vielleicht würde ein ähnliches Verbrechen heute unter der 1414 stattfinden.

Lange wird die Erinnerung an “Gladbeck” und die Selbstreflexion allerdings sowieso nicht vorhalten: am 28. August steht “20 Jahre Ramstein” an.