Wenn Menschen verreisen, geben sie viel Geld aus um weit weg zu kommen, dorthin, wo’s schön ist. Wenn sie dann wieder heimkehren, denken sie “Ach, schrecklich, wie das hier aussieht”, und die ganze Erholung ist weg. Warum fahren sie also nicht in die nähere Umgebung, gucken sich dort die Tagebaugebiete, Fußgängerzonen und Gefängnisse an und sind ganz entzückt, wenn sie endlich wieder zuhause sein dürfen?
Ich war also am Dienstag in Marl. Die Innenstadt wurde in den 1960er Jahren am Reißbrett entworfen und war damals sicher visionär: ein Einkaufszentrum amerikanischer Bauart, davon ausgehend verschiedene Wohn-Hochhäuser, ein klar strukturiertes, dabei aber luftiges Rathaus, ein künstlicher See. Wenn man in der Dämmerung durch den Nieselregen schlurft (wie Stefan am Montag), wirkt dieser Ort wie der post-apokalyptische Schauplatz einer Architekturschau längst vergangener Epochen, aber man ahnt, wie begeistert die Macher von ihren Ideen waren, wie durchdacht und modern diese Stadt einmal gewesen sein muss. Nur leben wollen die Leute so nicht und ohne Anzüge und Petticoats wirken sie dort auch seltsam deplatziert.
Es ist das Schicksal mindestens einer Generation deutscher Architekten und Stadtplaner, dass ihre hehren Pläne und Konzepte kolossal gescheitert sind. Wie oft höre ich, die Ruhr-Uni Bochum sei ja “so hässlich”, dabei sieht sie kaum anders aus als die Universitätsneubauten in Düsseldorf, Dortmund, Duisburg, Essen, Bielefeld oder Paderborn. Genau genommen ist die Ruhr-Uni sogar von einer viel höheren Qualität: klar strukturiert, ohne Schnörkel und anheimelnde Gemütlichkeit, nur gebaut, um möglichst vielen Arbeiterkindern die Möglichkeit eines Hochschulstudiums zu bieten. Ein Blick in die hell erleuchteten Zimmer des Nachbarhauses bringt hässlicheres zu Tage.
In Dinslaken wurde im vergangenen Jahr die evangelische Christuskirche abgerissen, weil sie zu nah an den anderen Kirchen lag und ihr Erhalt zu teuer war. Der Betonbau aus den späten 1960er Jahren war immer unbeliebt gewesen: groß, kalt, mit der Ausstrahlung einer Mehrzweckturnhalle. Selbst unter Aufbringung von christlicher Nächstenliebe und kulturellem Verständnis war die Kirche hässlich – und doch war zum Beispiel die Idee, bei der Gestaltung der “Fenster”, die eher kleine farbige Lichtlöcher in Betonelementen waren, völlig auf Motive zu verzichten, eine konsequente bauliche Umsetzung des Protestantismus gewesen. Den Vorschlag, einfach die klassizistische Schwesterkirche abzureißen, hätte nie jemand zu äußern gewagt – mal davon ab, dass diese natürlich unter Denkmalschutz steht und gerade frisch restauriert war.
Und so wird zur Zeit in weiten Teilen Deutschlands eine ganze Epoche der Architekturgeschichte aus den Stadtbildern entfernt: die der Nachkriegsarchitektur. Natürlich hatte damals kaum jemand ahnen können, wie schrecklich nackter Beton im Laufe der Zeit aussehen würde, aber diese Architektur war nicht nur unglaublich funktional, sie hatte dabei auch nicht selten tolle Details und die Kunst am Bau. Diese Gebäude, die ja weißgott nicht alle hässlich sind, gehören zur deutschen Geschichte wie römische Siedlungen, Barockschlösser, faschistische Protzbauten und das Bauhaus. Ihr Verschwinden aus den Stadtbildern verzerrt die Geschichte und endet in einem Revisionismus, der sich zum Beispiel in den Bestrebungen zeigt, das Berliner Stadtschloss wieder aufzubauen – oder auf die Spitze getrieben in den Braunschweiger Schlossarkaden.
Pathetisch gesprochen stehen Marl und all die Städte, die so ähnlich konzipiert wurden, für eine gescheiterte Utopie. Sie sind betongewordene Sozialdemokratie. Die Menschen wollten nicht in Etagenwohnungen mitten in der Stadt wohnen und auf riesige Betonfläche gucken, sie wollten in die Vorstädte, wo sie bizarrerweise nun Häuser bewohnen, die sich untereinander gleichen wie damals die Wohnungen im Hochhaus. Die Berliner Gropiusstadt und Köln-Chorweiler sind in einer Dimension gescheitert, wie sie nur in der Architektur möglich ist, die Stuttgarter Weißenhofsiedlung und die Berliner Wohnmaschine hingegen gelten immer noch als Vorzeigeobjekte. Woran das nun wieder liegt, kann ich mir auch nicht erklären. Vielleicht ist Brasília auch nicht deshalb so schön, weil es von Oscar Niemeyer entworfen wurde, sondern weil dort so häufig die Sonne scheint.
Eines der merkwürdigsten Neubauprojekte, das ich aus der Nähe mitbekommen habe, ist die Neue Mitte Oberhausen, ein künstliches Stadtzentrum mitten in einem früheren Industriegebiet. Das ganze Areal wirkt ein bisschen unnatürlicher als Disneyland, wird aber mit großer Begeisterung angenommen. Wohnhäuser gibt es keine, aber das riesige Einkaufszentrum “CentrO” mit angeschlossener Gastronomie-Promenade. Die seelenlose Beliebigkeit eines internationalen Flughafens scheint den Besuchern nichts auszumachen, aber selbst wenn: auf dem Gelände gibt es einen Irish Pub, der das Konzept Irish Pub sklavisch und bis zur Übertreibung einhält. Junge Menschen können sich in einem völlig künstlichen, aber realistischen Gebäude betrinken, das jünger ist als sie selbst, aber nach jahrhundertealter Tradition aussieht.
Und mit der Frage, ob falsche Gemütlichkeit wirklich echter Kälte vorzuziehen ist, möchte ich Sie in die Nacht entlassen. Allerdings nicht, ohne vorher auf restmodern.de hingewiesen zu haben, wo man sich einen schönen Überblick über die Nachkriegsarchitektur in Berlin verschaffen kann.