Kategorien
Leben Gesellschaft

Das anderste Weihnachten aller Zeiten

Vor uns liegt ein Weihnachtsfest, das so anders ist, als wir es gewohnt sind — so zumindest der Tenor in Medien, Politiker*innen-Statements und persönlichen Gesprächen. Dabei ist „anders sein“ bei aller Tradition etwas, was Weihnachten ebenso ausmacht wie unverheiratete Großonkel. Klar: Alle glücklichen Weihnachtsfeste gleichen einander, aber wie viel Prozent Übereinstimmung braucht es analog zur DNA-Analyse in der Forensik, damit es ein Weihnachten „wie immer“ ist?

Da war das Jahr, wo ich mich an Heiligmorgen erbrach, nicht mit in die Kirche konnte und Familienessen und Bescherung auf der Couch verbrachte; das letzte Weihnachten in der alten Wohnung und das erste im neuen Haus. Das Jahr, in dem mein Großvater erklärte, dass es ihm zu anstrengend geworden sei, der Verteilung und Entpackung der Geschenke Dritter beiwohnen zu müssen, weswegen es ab da nur noch sorgsam beschriftete Kuverts mit Geldscheinen gab. Oder das letzte „richtige“ Weihnachten, so wie wir es gewohnt waren: drei Kinder, Mama und Papa und die drei Großeltern. Das war im Jahr 2011 und meinem Tagebuch entnehme ich, dass es schon damals „nicht mehr dasselbe“ war, weil der Gemeindepfarrer, der uns alle getauft und konfirmiert hatte, zwischenzeitlich in den Ruhestand gegangen war. Als mein Großvater im Jahr 2017 bei seiner alljährlichen Weihnachtsansprache auf die sonst übliche Schlussformel „… und hoffen wir, dass der Liebe Gott uns nächstes Jahr noch einmal an dieser Stelle hier zusammenführt“ verzichtete, wussten wir alle, dass es das letzte Weihnachtsfest mit ihm sein würde. Was niemand ahnen konnte (außer er selbst, womöglich): 96 Stunden später war er tot.

Für mich ist erst Weihnachten, wenn ich am Nachmittag des Heiligen Abends „Patience“ von Take That gehört habe — ein Song, der nun wirklich unter keinen Umständen ein Weihnachtslied ist. Der Grund dafür ist gleichermaßen banal wie magisch (also wie das Leben selbst): Ende 2006 lief die große Comeback-Single der einstigen Boyband im Radio rauf und runter — so auch auf der Rückfahrt vom Weihnachtsgottesdienst zu unserem Elternhaus im Radio. Ein Jahr später saßen wir Kinder gemeinsam in Mamas altem Ford Fiesta, fuhren wieder von der Kirche zu den Eltern und im Radio lief wieder dieser Song, was – angesichts einer fünfminütigen Autofahrt und einer selbst bei WDR 2 mehr als einstelligen Zahl von Liedern in den Rotationslisten – dann doch mindestens ein erstaunlicher Zufall war. In den Folgejahren ging ich auf Nummer Sicher, brachte den Song auf meinem iPhone mit nach Dinslaken und spielte ihn auf dem Weg von der Innenstadt nach Eppinghoven ab. Das ist vielleicht drei, vier Mal passiert und ich war über 20, als es begann, aber es ist mehr Weihnachtstradition als der Film „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, von dem ich noch nie in meinem Leben auch nur eine Minute gesehen habe.

Was ich meine ist: Weihnachten ist immer anders und im Grunde genommen dann auch immer ähnlich, weswegen Komödien über Familienweihnachten auch so gut funktionieren: Weil sie die freiwilligen und unfreiwilligen Rituale; die Freude und das Elend; die Wiederholungen, die alle so lange mit den Augen rollen lassen, bis sie nicht mehr stattfinden und die Augen fürderhin nicht mehr gerollt, sondern feucht werden; und den Versuch, Weihnachten „wie immer“ begehen zu wollen, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterbrechen und in der tragischen Pointe gipfeln, dass Weihnachten eben leider genauso wird wie immer.

Douglas Adams hatte in den 1980er Jahren die Idee, ein Computerprogramm zu entwickeln, das die stets deckungsgleichen Aussagen des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan von alleine reproduziert, mit dem Fernziel, irgendwann sämtliche wichtigen Politiker*innen durch Künstliche Intelligenzen zu ersetzen, die sich dann miteinander unterhalten. Adams konnte Donald Trump nicht vorhersehen, aber er hat im Grunde genommen Facebook und Twitter vorweggenommen, wo sich jede Menge Bots und einzelne verwirrte, einsame Seelen in einem fortwährenden Nicht-Dialog befinden. Aber wenn die Menschheit ausstürbe (ein Gedanke, der, bei Licht besehen, selten so naheliegend war wie im Jahr 2020), könnten Spotify-Playlisten, Streamingdienste und die zentralen Logistik-Programme der Backwaren-Industrie jährlich ein Weihnachtsfest emulieren. Roboter an verwaisten Produktionsstraßen würden sich mit Tassen voller Glühwein, auf denen „Weihnachtsmarkt Münster 1993“ steht und deren Henkel schon etwas beschädigt sind, zuprosten und sich – wo technisch möglich – gegenseitig unangemessen berühren, während Smart-Home-Geräte die Wohnungen in allen Farben des Regenbogens blinken lassen.

Und irgendwo würde eine Kaffeemaschine beseelt denken: „Alles wie immer!“

Ich wünsche Euch und Euren Lieben trotz allem frohe und besinnliche Weihnachten im kleinen Kreis, Gesundheit und uns allen ein besseres Jahr 2021!

Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter “Post vom Einheinser”, für den man sich hier anmelden kann.

Kategorien
Leben

In memoriam Renate Erichsen

Ich schreibe jetzt seit über 25 Jahren: Schulaufsätze, Liedtexte, Drehbücher, Rezensionen, Artikel, Seminararbeiten, Blogeinträge, Vorträge, Witze, Moderationen, Newsletter, Tweets, … 

Letzte Woche gab es eine Premiere, auf die ich auch noch ein paar Jahre hätte verzichten können: Ich habe meine erste Trauerrede geschrieben und gehalten — auf meine Oma, die heute vor einem Monat im Alter von 84 Jahren gestorben ist.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich darüber etwas schreiben soll, weil es ja nicht nur um mein Privatleben geht, sondern auch um das meiner Oma und meiner Familie, deswegen will ich nicht ins Detail gehen, aber andererseits war meine Oma medial bis zuletzt fit, hat mein Blog (und andere) gelesen, “Lucky & Fred” gehört (weswegen ich ihren Tod auch in der letzten Folge thematisiert habe) und mit uns Enkeln per Telegram kommuniziert (WhatsApp lief nicht auf ihrem iPad). Außerdem gab es ja sonst keine Nachrufe auf sie und mutmaßlich wird man auch keine Straßen nach ihr benennen oder ihr Statuen errichten.

Renate Erichsen, die für uns nur Omi Nate war, wurde 1932 in Berlin geboren, während des Krieges floh ihre Familie nach Fehmarn und ließ sich dann später in Dinslaken (of all places) nieder. Sie war, wohl auch deshalb, politisch und gesellschaftlich sehr interessiert und wollte von ihren Enkelinnen und Enkeln immer wissen, wie wir über bestimmte Dinge denken. 

Die Renationalisierungen, die in der EU – aber nicht nur dort – in den letzten Jahren zu beobachten waren, bereiteten ihr große Sorgen, politische Strömungen wie AfD und Donald Trump auch. “Das habe ich alles schon mal erlebt”, sagte sie dann und es gab keine Zweifel daran, dass sie das nicht noch mal haben musste — und auch niemandem sonst wünschte.

Bei einem unserer Telefongespräche nach dem Brexit-Referendum im vergangenen Jahr beklagte sie sich darüber, dass so wenige junge Menschen zur Wahl gegangen waren — aber auch und vor allem, dass so viele alte Menschen über die Zukunft der Jungen abgestimmt und ihnen damit die Zukunft verbaut hätten. Obwohl sie, wie sie oft erwähnte, eine kleine Rente hatte, stimmte sie bei Wahlen lieber so ab, wie sie es für “die jungen Leute” (also: uns) für richtig hielt.

All das und einige andere Dinge habe ich versucht, in meine Rede einzubauen und dabei festgestellt, dass das auf ein paar Seiten Text gar nicht so einfach ist. Klar: Auch in meinen journalistischen Arbeiten ist nie Platz für alles, aber die fühlen sich nicht an, als müssten sie ein Thema (oder in diesem Fall: ein Leben) quasi “abschließend” verhandeln.

Vor der Trauerfeier war es auch so, dass ich hauptsächlich an meine Rede gedacht habe, was sich einerseits total egoistisch und fehl am Platze anfühlte, andererseits aber eine ganz gute emotionale Ablenkung war — und ich wollte ja auch, dass die Rede einigermaßen gut und vor allem angemessen wird.

Ich habe deshalb auch noch mal die Rede gegoogelt, die Thees Uhlmann von Tomte im Februar 2004 (Wahnsinn, wie lang das schon wieder her ist!) auf der Beerdigung von Rocco Clein gehalten hat — für meine Zwecke nur bedingt hilfreich, aber auch all die Jahre später immer noch groß, gewaltig und tröstend. Und bei der Suche bin ich auch auf ein Doppelinterview mit Thees und Benjamin von Stuckrad-Barre gestoßen, das letztes Jahr im “Musikexpress” erschienen ist. Die beiden liegen mir ja eh sehr am Herzen (im Sinne von: ich würde ohne die beiden vermutlich gar nicht schreiben — oder zumindest nicht so, wie ich es jetzt – auch hier, gerade in diesem Moment – tue), aber es ist auch so ein schönes Gespräch, in dem es auch um besondere Menschen geht.

Und so erschien mir der Rückweg aus Dinslaken nach Trauerfeier, Urnenbeisetzung, Kaffeetrinken und sehr engem familiären Beisammensein dann auch der richtig Zeitpunkt, um nach Jahren mal wieder “Hinter all diesen Fenstern” zu hören, das Album mit dem Tomte damals in mein Leben gekracht waren und das ich damals ganz oft im Zug von Dinslaken nach Bochum und zurück gehört hatte.

Es war sicherlich auch den besonderen Umständen geschuldet, dass mich das Album noch einmal mitten ins Herz traf: “Schreit den Namen meiner Mutter, die mich hielt”, “Das war ich, der den wegbrachte, den Du am längsten kennst”, “Es könnte Trost geben, den es gilt zu sehen, zu erkennen, zu buchstabieren”, “Von den Menschen berührt, die an dem Friedhof standen, am Ende eines Lebens” — ich hätte mir sofort das gesamte Album tätowieren lassen können.

Dieses Gefühl, dass da jemand vor inzwischen 15 Jahren ein paar Texte geschrieben hat, die etwas mit seinem damaligen Leben zu tun hatten, und dass diese Texte dann zu verschiedenen Zeitpunkten im eigenen Leben in einem genau die wunden Stellen treffen und gleichzeitig wehtun und beim Heilen helfen: Wahnsinn! Immer wieder aufs Neue!

Und dann noch mal die liner notes zum Album lesen und immer wieder nicken und sich verstanden fühlen. Meine Oma hat Zeit ihres Lebens alle Literatur verschlungen, derer sie habhaft werden konnte — “ich habe mehr durch Musik gelernt, als durch Bibliotheken”, sang wiederum Thees Uhlmann auf der finalen Tomte-Platte.

Im Übrigen hat sich herausgestellt, dass so ein Tod (zumindest, wenn er nach einem langen und erfüllten Leben kam und die Verstorbene sich angemessen verabschieden konnte) ein vielleicht etwas abseitiger, aber zuverlässiger Gesprächsmotor ist. Ich habe jedenfalls in den letzten Wochen viele sehr gute Gespräche mit engen Freunden, aber auch ganz anderen Menschen geführt.

Dieser Text erschien ursprünglich in meinem Newsletter “Post vom Einheinser”, für den man sich hier anmelden kann.

Kategorien
Musik

One More Night

Es ist jetzt fast auf den Tag genau 15 Jahre her, dass ich mein Abi-Zeugnis ausgehändigt bekam und ins sogenannte Erwachsenenleben entlassen wurde. Ein Abitreffen ist nicht angesetzt (zumindest weiß ich nichts davon) und so werde ich auch weiter nicht wissen, was die früheren Klassenclowns, Skater, Traumfrauen und Nervensägen heute machen — zumindest diejenigen, deren Eltern meine Mutter nicht regelmäßig in Dinslaken auf dem Wochenmarkt trifft. Das ist aber auch okay, denn Nostalgie ist ein Gefühl, das ich (wie die meisten anderen Gefühle auch) am Liebsten in den eigenen vier Wänden auslebe.

Oder eben in der ausverkauften Kölnarena, wo Phil Collins diese Woche nicht ein, nicht zwei, nicht drei, nicht vier, sondern fünf Konzerte spielt. Collins ist, wie ich schon einmal in einem eher ungelenken Blog-Eintrag zu beschreiben versucht habe, der auch erst knackige zehn Jahre alt ist, ein Held meiner Kindheit. Jahrelang ging ich als eifriger, aber fremdsprachlich unterentwickelter Schlagzeug-Schüler davon aus, der drum fill, also jene Akzentuierung, die einen Übergang von einem Songteil (z.B. Strophe) zum nächsten (z.B. Refrain) markiert, sei nach Phil Collins benannt.

Als Collins die Konzerte (zunächst waren für Köln zwei geplant) im vergangenen Jahr ankündigte, habe ich den Gedanken nach kurzer Überlegung verworfen — hatte ich mir doch geschworen, dass die 80,40 Euro, die ich im Jahr 2011 für Paul McCartney gezahlt hatte, meine teuerste Konzertkarte jemals bleiben sollten. Dann saß ich letzte Woche mit einer Freundin zusammen, wir sprachen über die Konzerte, guckten nach wieder verfügbaren Karten und sagten uns mit größenwahnsinniger Selbstverständlichkeit: “Klar, 100 Euro, warum auch nicht?!”

Erst als wir auf der Autobahn Richtung Köln sind und die größten Phil-Collins-Hits (also: die, die in eine siebzigminütige Autofahrt passen) aus den Boxen schallen, wird mir richtig klar, worauf wir uns hier eingelassen haben: eine popkulturelle Rückführung in ein früheres Leben — eines, wo man Kind war, auf dem Wohnzimmerteppich liegend das hörte, was die Eltern hörten, und Musik noch nicht dem Distinktionsgewinn diente, sondern ausschließlich der Unterhaltung.

Bereich Arena ab ca. 18 Uhr hohes Verkehrsaufkommen - PHIL COLLINS -

Rund um die Kölnarena herrscht schon um 18 Uhr großer Andrang: In langen Schlangen stehen die Menschen, um rechtzeitig … äh, ja: auf ihren nummerierten Plätzen sitzen zu können. Die größte Überraschung ist die, dass wir nicht die Jüngsten sind. Ticketübergabe, dann in der angrenzenden Systemgastronomie essen. Ich fühle mich wieder wie 16, als man freitagsabends mit Freunden ins Multiplexkino am Einkaufszentrum der nächsten größeren Stadt gehen durfte. (Das kostet ja inzwischen bestimmt auch genauso viel.)

Unsere Plätze liegen so, dass sie den Eindruck, hundert Euro wert zu sein, ziemlich gut erwecken können. Auf den LED-Wänden links und rechts der Bühne und auf der Gaze vor der Bühne laufen Fotos aus allen Lebens- und Schaffensperioden des Künstlers und ich denke zum wiederholten Male, dass die Ähnlichkeit zwischen ihm und Fran Healy zu jeder Zeit gegeben war.

Schlag Acht geht die Werbung auf dem Videowürfel unter der Hallendecke aus, kurz darauf auch die Saalbeleuchtung und schließlich schlurft der leibhaftige, 66-jährige Phil Collins mit einem Krückstock auf die Bühne und setzt sich, während sich weite Teile des Publikums erhoben haben, auf einen Stuhl am Bühnenrand. An der Stirn hat er ein großes Pflaster, nachdem er letzte Woche in London im Hotelzimmer gestürzt war und zwei Konzerte verschieben musste. “My back hurts, my leg is fucked”, erklärt er, und eigentlich habe er das alles nicht mehr machen wollen: “But I missed you so much!” Das könnte man jetzt unter klassischem Konzertgeschmeichel abtun, aber dann denkt man daran, dass der Mann nach seiner “Pensionierung” in seinem Schweizer Domizil vor lauter Langeweile ein Alkoholproblem entwickelt hatte, und man will, nein: muss ihm einfach glauben!

In diesen Austausch von Herzlichkeiten hinein perlen die ersten Klaviertöne und es wird direkt klar: Hier werden heute Abend keine Gefangenen gemacht, hier wird gleich mal mit dem Riesenhit “Against All Odds” eröffnet. Die Band steht, für das Publikum immer noch unsichtbar, hinter der Gaze und als das Schlagzeug einsetzt, wird der Drummer von hinten so angestrahlt, dass sein Schatten riesengroß über dem sitzenden Phil Collins erscheint — was als irgendwie verdrehte Metapher ganz, ganz wundervoll ist, denn der Drummer ist dessen 16-jähriger Sohn Nicholas.

Dann geht der Vorhang hoch, man sieht die Band und die Messlatte wird mit “Another Day In Paradise” noch mal ein bisschen höher gelegt. Dieser Song ist – neben Tina Turners “The Best” und Miles Davis’ “Human Nature”-Cover – für mich der Klang elterlicher Geburtstage, an denen wir lange aufbleiben und den Erwachsenen mit unserer Anwesenheit auf die Nerven gehen durften. Ja, ich habe Paul McCartney “Hey Jude” singen gesehen, Robbie Williams “Angels” und a-ha “Take On Me”, aber das war alles höchstens das Warm-Up für die emotionale Überforderung, die nun einsetzt, und der ich nur zu begegnen weiß, indem ich schnell den Refrain auf dem iPhone mitfilme und an meine ganze Familie schicke.

Die Stimmung wird ein wenig runtergekühlt mit “One More Night” und “Wake Up Call”, einem Song aus dem Spätwerk “Testify”, das, wie eine Akklamation in der Halle ergibt, fünf oder sechs Menschen gekauft haben — “but don’t worry: I didn’t buy your records, either!” Und dann: “Follow You Follow Me”, der große Genesis-Hit. Auf den LED-Wänden sind Szenen aus allen Epochen der Band (inkl. Peter Gabriel) zu sehen und es fühlt sich ein bisschen beruhigend an, dass ich nicht zur Mehrheit der Menschen hier in der Halle gehöre, die dieser Song jetzt an die damals so genannten “Feten” in den Kellern ihrer Elternhäuser erinnert, sondern ich ihn schon auf einem Oldie-Sampler kennengelernt habe.

Die nächsten Minuten verbringe ich damit, mir eine Meinung über das zu bilden, was bei einem Konzert in gewisser Weise das Wichtigste sein könnte: die Musik. Manche Songs klingen tight und perfekt eingespielt (weite Teile der Band spielen schon mindestens doppelt so lange mit Phil Collins, wie Drummer Nicholas auf der Welt ist), andere schleppen und zerfasern so, dass sie fast auseinander zu fallen drohen. Akustisch macht die Kölnarena ihrem schlechten Ruf wieder alle Ehre: kennt man den Text eines Songs, geht’s, kennt man ihn nicht, versteht man kein Wort.

Aus mir persönlich nicht verständlichen Gründen singt Collins auch “Separate Lives”, einen Song, der seinen Ruf als pop culture punching bag mitbegründet haben dürfte: cheesy, auf das ausgelegt, was unsere Eltern “Klammerblues” nannten, und bei aller Liebe einer seiner schlimmsten Songs — und das, obwohl er ihn gar nicht selbst geschrieben hat. Nach “Only You Know And I Know” geht’s in die zwanzigminütige Pause: “You might need to go the bathrooms and we will do the same!”

Meine Begleitung nutzt die Zeit, um das Merchandise zu inspizieren: T-Shirts für 30 und Pullover für 50 Euro erscheinen einem für ein Arena-Konzert beinahe angemessen.
“Keine Drumsticks?”, frage ich enttäuscht. “Für Phil Collins signature drumsticks würde ich heute Abend jeden Preis bezahlen!”
Schnitt: Zwei junge Frauen kehren in unseren Block zurück, in ihren Händen jeweils ein Paar Drumsticks.

Ich frage mich, ob Nicholas Collins auch mit den Stöcken trommeln muss, auf denen die Unterschrift seines Vaters prangt. Nach der Pause darf er in einem ausführlichen Duett mit Percussionist Luis Conte jedenfalls noch mal ohne jedes Beiwerk zeigen, was er so drauf hat. Das hätte ich vermutlich auch nicht hinbekommen, wenn ich meinen Schlagzeugunterricht damals ernst genommen hätte. Aber wenn ich meinen Biologieunterricht ernst genommen hätte, könnte ich jetzt etwas über “Vererbungslehre” schreiben.

Bei “You Know What I Mean” beweist Nicholas, dass ein Collins natürlich mehr als nur ein Instrument beherrscht: er spielt die Ballade am Klavier, sein Vater, der vermutlich nie mehr irgendein Instrument wird spielen können, sitzt daneben und singt und als Nic Phil danach im tosenden Applaus umarmt und auf die Glatze küsst, muss ich mich wegdrehen und zu den Worten “Entschuldigung, ich hab auch einen Sohn” hektisch vor meinem Gesicht herumwedeln.

Überhaupt kann man sich an diesem Abend ja kein Stück freimachen von der ganzen story, die hier permanent mitschwingt: dass das hier eben Comeback und Abschied zugleich ist, weil es – zumindest Stand heute Abend – eher unwahrscheinlich erscheint, dass Phil Collins sich das alles noch mal antun wird. Er ist zwar “Not Dead Yet”, wie Tour und Autobiographie heißen, aber eben auch eher das Gegenteil eines Mick Jagger, der mit 182 Jahren immer noch über die Bühne gockelt. Man verzeiht ihm deshalb, wenn die Stimme mal nicht mehr ganz so frisch klingt (was aber selten passiert), wenn die Band einen tausend Mal gehörten Hit eine Spur zu langsam anstimmt, und auch, dass sich die Produzenten der Show in der zweiten Hälfte dafür entschieden haben, auf der Bühne eine Art “Wetten, dass..?”-Atmosphäre (aus den Frank-Elstner-Jahren) zu simulieren: Hinter der Bühne weht ein ockerner Vorhang, der so vermutlich immer noch in der Stadthalle Böblingen hängt, die Lichter strahlen in Orange und Gelb.

Und dann, nach all den Hits, endlich der Hit: angeschlossen an ein gefühlt achtminütiges Intro beginnt der Roland CR-78 zu zirpen und der Saal atmet tief durch. “In The Air Tonight”. Alle singen mit, fast alle stehen und natürlich warten alle nur auf diesen einen Moment, der auf der Albumversion nach 3:41 Minuten kommt — der vermutlich berühmteste drum break aller Zeiten. Es ist dann letztlich: ein Takt, zehn Schläge, wahnsinnig viel Licht — und es geht weiter. Manchmal kommt es in der Popmusik, wie im Leben, aber auf diesen einen Moment an.

Danach bewegt sich – um mal eine besonders schiefe Metapher zu verwenden – das Hit-Feuerwerk auf die Zielgerade: “You Can’t Hurry Love”, “Dance Into The Light”, “Invisible Touch”, “Easy Lover” und “Sussudio”, dem man an diesem Abend einfach mal verzeiht, dass es ein ziemlich dummer Song ist; im Wesentlichen ein schlecht umlackiertes “1999” von Prince, dessen Fahrgestellnummer nur notdürftig rausgefeilt wurde. Dafür gibt es buntes Konfetti und alle tanzen!

Zur ersten Zugabe, dem Vera-Lynn-Cover “If You Love (Really Love Me)” steht Collins angelehnt ans Klavier, danach schließt der Abend mit einem ausgiebigen “Take Me Home”. Als die Hallenbeleuchtung angeht, ist es 22.47 Uhr. Die Drumsticks kosten 20 Euro — ein nicht völlig absurder Preis, den ich hier und jetzt natürlich gerne zahle. Wir brauchen ewig, um zu unserem Auto zu kommen, und noch länger, um damit das Parkhaus zu verlassen. Heute waren wir fünf Jahre alt. Und 16. Und erwachsen.

Kategorien
Digital Gesellschaft

Die Geräusche meiner Kindheit

Ausgelöst durch eine Kolumne von Carolin Emcke schreiben die Menschen auf Twitter heute unter dem Hashtag #geräuschederkindheit Geräusche auf, die sie an ihre Kindheit erinnern. Das ist sehr toll, aber weil ich keinen Bock mehr habe, meine Gedanken immerzu in den Sphären der Social Media zu verballern, und weil 140 Zeichen nun wirklich zu wenig sind, nutze ich dieses Blog für das, wozu es mal gedacht war, und blogge:

  • Fußballreportagen aus dem Nachbargarten. Als meine Geschwister und ich noch sehr klein waren, hatten meine Eltern einen Schrebergarten, der sich seit Generationen im Familienbesitz befand. Wenn das Wetter gut war (aber auch, wenn es nicht so gut war), waren wir gefühlt das ganze Wochenende dort. Unsere Eltern schnitten Sträucher, zupften Unkraut, mähten den Rasen und bauten an der Gartenlaube herum (kein Stromanschluss, ein Torfklo hinterm Haus), während wir Kinder auf dem Klettergerüst schaukelten, frisches Obst aßen (das naturgemäß wohl eher saisonal begrenzt und nicht, wie meine Erinnerung mir weismachen will, immer) oder irgendwo herumliefen (andere Kinder gab es in der Kolonie, soweit ich mich erinnern kann, kaum). Fester Bestandteil eines solchen Wochenendes waren schreiende Männer, unterlegt von einem vielstimmigen Rauschen, die aus den Radios der umliegenden Gärten schallten. Mein Interesse für Fußball außerhalb der großen internationalen Turniere begann erst mit der Bundesligasaison 1994/95 (5. Platz, Pokalsieg, Stefan Effenberg, Heiko Herrlich, Martin Dahlin), deswegen hatte ich nur eine ungefähre Ahnung, was diese Geräusche zu bedeuten hatten. Sie durchmischten sich auch, gerade am Sonntag, gerne mit den tatsächlichen Durchsagen, die von der nahegelegenen Bezirkssportanlage herüber wehten, wo der SuS Dinslaken 09 seine Spiele absolvierte. Noch heute ist Fußball für mich eher ein akustisches als ein visuelles Erlebnis (das Geräusch eines ordentlich getretenen Lederballs lässt mich auch heute immer noch sofort zusammenzucken, weil ich damit rechne, das Teil Sekundenbruchteile später an den Hinterkopf, gegen die Nase oder in den Unterleib zu bekommen) und vor allem Bundesliganachmittage verbringe ich lieber am Radio als vor dem Fernseher.
  • Die Feuerwehrsirene. In den 1980er und 1990er Jahren wurden Brände und ähnliche Katastrophen noch von einem anschwillenden Sirenengeheul begleitet, das angeblich die Feuerwehrleute zum Dienst rufen sollte. Für mich war das ein schreckliches Geräusch mit dunklem Hintergrund: nach einigen Bränden in umliegenden Industriegebieten, nach denen die Bevölkerung angehalten worden war, Türen und Fenster geschlossen zu halten, war das Geräusch für mich gleichbedeutend mit einem nahenden, bei unverschlossenen Fenstern unausweichlichen Erstickungstod. Wenn die Sirene losging, während wir nicht zuhause waren, kam eine zweite, mindestens genauso schlimme Möglichkeit in Betracht: der Alarm galt unserem Haus, das gerade in Flammen stand — und mit ihm meine Spielsachen und Kuscheltiere. Erst im Nachhinein dämmert mir, dass das Geräusch bei meiner Oma, die die Bombardierung gleich mehrerer deutscher Großstädte er- und überlebt hatte, und ihren Altersgenossen möglicherweise noch ein klein bisschen beschissenere Assoziationen ausgelöst haben muss. Einmal im Monat wurden diese verdammten Sirenen, die in der ganzen Stadt auf höheren Häusern (darunter auch auf unserer Schule) montiert waren, getestet — und es war für mich immer eine Schrecksekunde, bis ich mich vergewissert hatte: “Ja, erster Samstag im Monat, 11.30 Uhr — diesmal haben wir noch mal Glück gehabt.” Allerdings habe ich bis heute keine Ahnung, was eigentlich passiert wäre, wenn es ausgerechnet zu dieser Zeit tatsächlich mal gebrannt hätte.
  • Das Fiepen einer Bildröhre. Wir waren jung, wir durften eine halbe Stunde am Nachmittag fernsehen und wir hatten Rock’n’Roll, Walkman und Konzerte noch nicht für uns entdeckt: natürlich konnten wir hören, wenn irgendwo in der Wohnung ein Fernseher eingeschaltet war — selbst ohne Ton. Noch heute sind Bildröhren für mich die einzig waren Fernsehgeräte — auch, weil die so schöne Dinge mit den eigenen Haaren machen, wenn man direkt davor steht. Inzwischen bin ich 32 Jahre alt, höre Musik überwiegend über Kopfhörer, habe bei großen Veranstaltungen vor, hinter und auf der Bühne gearbeitet — und kriege regelmäßig einen Rappel, wenn ich so etwas wie Laptop-Netzteile, Akkuladegeräte oder Trafos von Halogenlampen immer noch fiepen hören kann. Wozu die ganze Mühe?!
  • Der Anlasserzug eines Zweitakt-Rasenmährermotors. Nach seiner Pensionierung hatte mein Großvater drei große Hobbies: Reisen, Golf spielen und seinen Rasen. Die ersten beiden ließen sich ganz gut kombinieren, die letzten beiden hätten immer noch eine Teilzeit-Beschäftigung als Greenkeeper zugelassen. So aber pflegte er den heimischen Rasen mit jährlichem Vertikutieren, ausgiebigem Einsatz von Dünge- und Unkrautvernichtungsmitteln und regelmäßigem Rasenmähen. Der Rasenmäher ist mindestens so alt wie ich und auch heute noch im Einsatz, was – neben Autos der Marke Opel – stark zu meinem unbeirrten Glauben an die deutsche Ingenieurskunst beigetragen hat. Gestartet wird das Teil mit einem Seilzugstarter (dieses Wort habe ich gerade natürlich ergoogelt), wobei der Motor fast laut ist wie der einer kleinen Propellermaschine, der Mäher aber bei richtiger Bedienung auch ähnliche Geschwindigkeiten erreicht — nur halt auf der Erde. Als ich alt genug war, um die Aufgabe des Rasenmähens übernehmen zu können, griff ich auf eine altbewährte Taktik zurück: ich ließ das selbstfahrende Ungetüm einmal ins Blumenbeet brettern und musste danach nie wieder ran.
  • Der Rasensprenger meines Großvaters. Gleicher Rasen, anderes Werkzeug: Ein Kreisrasensprenger (auch gerade ergoogelt — toll, dass diese Dinge alle auch einen richtigen Namen haben!), der vermutlich schon zu Vorkriegszeiten in den Krupp’schen Stahlwerken gefertigt worden war, dessen Geräuschkulisse jedenfalls etwas mechanisch-martialisches an sich hatte. Schnappend drehte sich der Kopf zunächst ruckweise in die eine Richtung und spie große Wasserfontänen auf den zu benetzenden Grund, nach einer Drehung von schätzungsweise 320 Grad schnellte er mit einem Mal zurück in die Ausgangsposition und begann die nächste Runde. Als Kinder konnte man sich einen Spaß daraus machen, genau vor dem Wasserstrahl herzurennen und sich dann im toten Winkel in Sicherheit zu bringen. Ich glaube, das Gerät ist irgendwann kaputtgegangen (mutmaßlich zerrostet) — oder es wurde gewinnbringend an Steam-Punk-Fans verkauft.
  • Zugeschlagene Autotüren. Als Kind habe ich gefühlt sehr viel Zeit mit Warten verbracht: Darauf, dass meine Freunde endlich von ihren Eltern zum Spielen vorbeigebracht würden, oder darauf, dass Tanten, Onkels oder ähnlicher Besuch kam. Dieses Warten ging einher mit der aufmerksamen Beobachtung der Parkplätze unter unserer damaligen Mietwohnung, wobei ich jetzt nicht die ganze Zeit auf der Fensterbank saß und nach draußen starrte — ich konnte ja auch auf die Geräusche achten. Jede zugeschlagene Autotür konnte bedeuten, dass es gleich endlich an der Tür klingeln würde und mein zwangsweise auf Pause gesetzter Tagesablauf (gut: ich hätte auch lesen, Kassetten hören oder irgendetwas spielen können) weitergehen konnte. Was die Rückkehr meines Vaters von der Arbeit angeht, so bin ich mir sicher, auch heute noch einen Kadett E Caravan, Baujahr 1988, aus einer beliebig großen Menge anderer Fahrzeuge heraushören zu können.
  • Die Schwimmhalle meiner Großeltern. Bevor im Privatfernsehen jeder Hinz und Kunz einen Pool oder einen Schwimmteich vor laufender Kamera in Eigenarbeit zusammenbaute, hatten meine Großeltern schon Anfang der 1970er Jahre eine der ersten privaten Schwimmhallen der Stadt. Dieser Standortvorteil half mir zwar weder dabei, besonders früh Schwimmen zu lernen, noch dabei, als Teenager Mitschülerinnen in den Ferien zum Besuch im Bikini zu bewegen, aber Schwimmen ist heute immer noch meine liebste Art sportlicher Betätigung. Das Becken ist mit fünf mal zehn Metern gar nicht mal so klein und ermöglicht es auch einem ungeübten Sportler, beinahe Weltrekordzeiten zu schwimmen — weil man ja ständig umkehren muss und sich dabei ordentlich abstoßen kann. Aus Gründen der Energieeffizienz ist das Becken bei Nichtbenutzung mit einer 50 Quadratmeter großen Plane bedeckt, die auf eine große elektrisch betriebene Rolle am Ende aufgewickelt werden kann. Das Geräusch der sich öffnenden Plane war stets Teil der Vorfreude auf den zu erwartenden Badespaß. Dieser ging dann anschließenden meist mit lautem Platschen (im Gegensatz zu öffentlichen Schwimmbädern durfte man hier vom Beckenrand springen — man musste nur anschließend wieder trocken machen) und Gekreische einher, das von den gekachelten Wänden und der großen Fensterfront widerhallte und sich gerade bei geöffneter Front im Sommer auch weit über den angrenzenden Garten verteilte. Stilecht abgeschlossen ist ein solcher Schwimmbadbesuch bis heute übrigens erst mit einem anschließend auf einem Badehandtuch in der Sonne konsumierten “Däumling”-Eis der Firma Bofrost.

Damit wären wir vorerst am Ende meines kleinen Ausflugs die Erinnerungsgasse hinunter. Ich bin sicher, dass mir schon bis heute Abend noch fünf andere Geräusche eingefallen sein werden, die hier unbedingt hätten erwähnt werden müssen. Und in der nächsten Ausgabe machen wir es dann wie Marcel Proust und lassen uns von Gebäckstücken und ähnlichen Geschmäckern in der Zeit zurückwerfen.

Kategorien
Musik

Song des Tages: The Beatles – All My Loving

Hier im Blog passiert in letzter Zeit nicht so richtig viel: Arbeit und Leben brauchen schließlich auch ihre Zeit. Das ärgert mich trotzdem — vor allem, weil wenn ich dann mal was blogge, der Grund meistens ist, dass ich mich über irgendetwas Journalisten aufrege. So wird das hier auf Dauer die Abraumhalde für meine schlechte Laune.

Aber das soll sich ändern.

Der Plan ist, jetzt jeden Tag ein Lied zu posten. Ob alt oder neu, bekannt oder unbekannt, Indie, Hiphop oder ESC ist dabei völlig wumpe. Das einzige Kriterium ist: Es muss mir gefallen oder für mich irgendeine Bedeutung haben, die ich in zwei, drei Sätzen erkläre.

Beginnen wollen wir mit einem Vorschlag von Captain Obvious:

Hier klicken, um den Inhalt von www.youtube.com anzuzeigen

Zum ersten Mal gehört: Keine Ahnung. Irgendwann vor 1993, als ich meine ersten eigenen CDs geschenkt bekam, die tatsächlich von den Beatles waren — wenn auch keine Original-Alben, sondern wüste Umsortierungen der ersten fünf Alben durch eine Kaffeerösterei. Ich kannte das Stück vorher schon, denn als Instrumentalversion war es die Titelmelodie der WDR2-Verbrauchersendung “Quintessenz”, die jeden Tag im Autoradio lief, wenn unsere Mutter uns Kinder zu Freunden, zu Arztterminen oder zum Einkaufen fuhr.

Wer musiziert da? Die Beatles. Ich bin nicht bereit, das näher zu erklären. Die sind ja keine Telefonzelle.

Warum gefällt mir das? Na ja, es sind die Beatles. Es ist sicherlich nicht ihr bester Song, es ist nicht mal der beste Song der frühen Phase. Aber es ist tatsächlich der Song, der mir mir nach langer Überlegung als derjenige einfiel, an den ich die ältesten Erinnerungen habe (von irgendwelchen Kinderliedern jetzt mal ab). Und irgendwie gefällt mir auch die rührende Schlichtheit der Lyrics: Hey, Darling, morgen bin ich weg, aber ich schick Dir jeden Tag einen Brief mit all meiner Liebe. Post von McCarteny, sozusagen.

Und jetzt bin ich mal gespannt, wie lange ich durchhalte …

Kategorien
Leben

Wie schön es hier ist, seitdem es verschneit ist

Vorhin flogen zwei große Gruppen Zugvögel in beeindruckendem Formationsflug an meinem Wohnzimmerfenster vorbei, weswegen ich (nur zweieinhalb Jahre Biologie-Unterricht in der Schule) erst mal in der Wikipedia nachsehen musste, warum sie das überhaupt tun. Dabei fiel mir auf, dass “Schwarmverhalten” auch den leicht trotteligen Habitus bezeichnen könnte, den Menschen an den Tag legen, wenn sie sich in der Gegenwart eines anderen Menschen befinden, in den sie heimlich (bzw. zumeist unheimlich) verliebt sind, wobei meine Freunde mir schon mehrfach gesagt haben, dass niemand außer mir und der “Bravo” ein love interest als “Schwarm” bezeichnen würde. Dann fühlte ich mich mal wieder alt und leicht trottelig, wusste aber immer noch nicht, warum die blöden Vögel so fliegen, wie sie fliegen.

Ich mag den Winter. Nicht die grauen Novembertage, an denen es nie richtig hell wird, aber die klaren mit klirrender Kälte und Schnee. Wenn der erste Schnee fällt, fühle ich mich noch mehr wie ein Fünfjähriger als sowieso schon, und hole sofort meine Winterstiefel hervor. Es sind so ähnliche Schuhe, wie Jay-Z sie gerne trägt, nur dass ich sie schon seit mehr als 20 Jahren trage — natürlich nicht immer das selbe Modell, denn als Kind hätte ich in meinen aktuellen Schuhen Höhlen bauen können. Das aktuelle Paar habe ich jetzt seit zehn Jahren, was aber gar nicht so lang ist, wenn man bedenkt, wie viel Schnee wir im Ruhrgebiet so durchschnittlich haben. Ich würde tippen, in den zehn Jahren kamen die Schuhe auf etwa anderthalb kanadische Winter Einsatzzeit.

Das beste ist immer, die Schuhe zum ersten Mal anzuziehen: Sie sind im Vergleich zu meinen Füßen und sonstigen Schuhen so grotesk groß, dass ich erst mal überall gegenlaufe. Das ist eigentlich nicht schlimm, weil die Schuhe auch sehr stabil sind, aber trotzdem nicht ungefährlich: Beim Treppensteigen halte ich mich sicherheitshalber am Geländer fest, weil die Schuhe kaum auf eine Stufe passen und ich auch permanent Angst haben muss, zu stolpern. Die ersten Meter auf der Straße sind dann auch immer gewöhnungsbedürftig, weil die Schuhe so hohe Absätze haben, dass ich damit gerne an Bürgersteigen hängen bleibe. Stehen ist auch lustig, weil ich mit meinen Füßen meist leicht nach außen wippe. Wegen der hohen Absätze passiert es im Winter oft, dass ich an einer Supermarktkasse stehe und mir beide Füße gleichzeitig verknackse.

Noch schöner als Schnee ist natürlich Schnee mit Musik. Wenn ich durch die Stadt gehe und die Zufallswiedergabe meines iPhones schickt mir “So Long, Astoria” von den Ataris (erste Zeile: “It was the first snow of the season”), “The River” von Joni Mitchell oder den “Ally McBeal”-Titelsong “Searchin’ My Soul” von Vonda Shepard, lächle ich leicht debil vor mich hin. Überhaupt hat “Ally McBeal” mit den offenbar ständig verschneiten Straßen Bostons bei mir noch größere Verheerungen im Romantikzentrum angerichtet als “Dawson’s Creek” und “My So-Called Life” zusammen.

Seit ich in einer eigenen Wohnung wohne, wird diese im Dezember auch festlich geschmückt: Ich hänge Lichterketten in die Fenster (nach nur zwei Saisons war die erste schon dauerhaft kaputt und ein Fall für die Müllhalde) und stelle im Wohnzimmer einen etwa hüfthohen Tannenbaum auf. Diesen kaufe ich nun schon im dritten Jahr und damit traditionell in einem Baumarkt, drei Straßenbahnhaltestellen entfernt. Das Schlimme ist dabei nicht der Transport eines Baums in der Straßenbahn (da sind die Bochumer generell sehr hilfsbereit und kommunikativ), sondern der Weg vom Baumarkt zur Straßenbahnhaltestelle, den ich jedes Jahr aufs Neue unterschätze. Aber klar: geht alles, man wächst mit seinen Herausforderungen, ein bisschen Schwitzen in der dicken Winterjacke stärkt die Abwehrkräfte.

Wessen Leben arm an Action und Spannungsmomenten ist, dem kann ich nur empfehlen, einfach mal einen Tannenbaum zum groben Abtrocknen in der eigenen Dusche zu platzieren. Zumindest wenn man ein ähnlich gutes Kurzzeitgedächtnis hat wie ich, gibt es jedes Mal ein großes Hallo, wenn man die Toilette benutzen möchte und da plötzlich ein Baum im Bad steht. Das hilft auch gegen niedrigen Blutdruck, wobei der beim Aufstellen von Tannenbäumen eh nicht unten bleibt.

Ich kaufe meinen Baum immer eingetopft mit beschnittenen Wurzeln, weil ich mir immer noch 30 Jahre zu jung vorkomme, um einen Christbaumständer zu erwerben. Außerdem bilde ich mir ein, dass er in der Erde nicht so schnell zu nadeln beginnt. Die Anzahl der Nadeln, die er auf dem Weg von der Haustür über das Bad ins Wohnzimmer verliert, ist dennoch beachtlich. Man sollte sich anschließend nicht zu schade sein, einmal gründlich durchzusaugen — zumindest, wenn man anschließend noch barfuß durch seine Wohnung spazieren möchte. Tannennadeln sind zwar eigentlich sehr flach, haben aber einen natürlichen Überlebenswillen, der sie zwingt, sich auch in den ausweglosesten Situationen noch dergestalt senkrecht aufzurichten, dass sie im menschlichen Fuß maximalen Schaden anrichten können. In den Entwicklungslabors von Lego werden Tannennadeln deshalb ganz besonders ausgiebig studiert.

Steht der grüngekleidete Wintergast dann erst mal an seinem Platz (die Frage, ob er nicht “schief steht”, verbietet sich bei eingetopften Bäumen zum Glück — man kann eh nix ändern), kommt die elfte Plage aus dem elften Kreis der Hölle: die Lichterkette. Ganze Kleinkunstabende werden im Spätherbst und Frühwinter mit der Beschreibung dessen beschritten, was der Mensch (auch in emanzipierten Haushalten zumeist: der Mann) denkt, fühlt, oder präziser: hasst, während er versucht, 16 untereinander verbundene Leuchtelemente an einen kaktusähnlichen Baum zu klemmen, ohne sich in dem Kabel zu verheddern. Es geht nicht. Eine gerechte Verteilung der Kerzen über den ganzen Baum ist nicht möglich, am Ende sieht es immer aus wie ein Satellitenbild von Australien bei Nacht. Das Kabel ist immer da, wo es nicht sein soll, und letztlich sollte man schon dem Herrgott danken, wenn man nicht den ganzen Baum zu Boden reißt.

Es gibt in dem Weihnachtsklassiker “Schöne Bescherung” die schöne Szene, in der Clark Griswold zu seinem Vater sagt: “Alles, was ich über Weihnachtsaußenbeleuchtung weiß, habe ich von Dir gelernt, Dad!” Dieser eine Satz sagt mehr über die Psyche von Männern aus, als die Lebenswerke von Alice Schwarzer und Mario Barth zusammen. Wer Männer verstehen will, sollte hier anfangen und aufhören.

Ist die Lichterkette aber endlich in Betrieb (und der Baum hoffentlich eichhörnchenfrei), geht alles ganz schnell: Das Gebimmel (zwei Christbaumkugeln und drei sonstige Hänger) ist in einem kleinen Baum wie meinem schnell verstaut und wenn endlich auch die Krippe steht, heißt es innezuhalten und zu genießen. Der Geruch von Tannengrün ist (neben dem von frisch bearbeitetem Holz und dem von Meer) vermutlich der schönste auf der Welt, die größte Kindheitserinnerung sowieso. Er ist der Proust’sche Instant-Reminder an die Weihnachtstage der Kindheit, als ich irgendwann kurz nach Sonnenaufgang aus dem Bett hüpfte und ins Wohnzimmer rannte, um mit meinen neuen Spielsachen zu spielen. Barfuß saßen meine Geschwister und ich unter dem festlich geschmückten Baum, dessen schon verlorene Nadeln gemeinsam mit dem Hochflorteppich eine letzte, unheilige Allianz eingegangen waren (s.o.), und widmeten uns intensiv unseren Lego-Flughäfen und Playmobil-Ritterburgen, die wir natürlich direkt nach der Bescherung hatten aufbauen müssen (“Du bist doch schon so müde, willst Du das nicht lieber morgen machen?” — “NEIN!”).

Diese kindliche, unschuldige Begeisterung, die noch nichts ahnt von abbrechenden und verloren gehenden Plastikteilen, von kostspieligen Zubehörsets und viel besseren neuen Versionen, glimmt im Erwachsenenleben manchmal noch auf, wenn ein noch jungfräulicher Laptop oder ein flammneues Smartphone behutsam aus seiner Verpackung genommen wird. Doch dann gilt man schnell als komplett bescheuert — nicht ganz zu Unrecht, wenn man die Entpackungszeremonie gleichzeitig auch noch auf Video aufgenommen und ins Internet gestellt hat. Ich hoffe, dass das “Unboxing” von Weihnachtsgeschenken, dieser ganz intime Glücksmoment eines Kinderlebens, niemals online verwurstet wird.

Bis vor ein paar Jahren haben meine Geschwister in der Adventszeit auch immer noch gebacken. Dieses heimelige Gefühl völligen Größenwahns, wenn man ein Kilogramm Schokolade und 800 Gramm Butter im Wasserbad zum Schmelzen bringt! Aber erstens sah die Küche unserer Eltern danach jedes Mal aus, als habe es ein Massaker bei Willy Wonka gegeben, und zweitens ist irgendwann jemandem aufgefallen, dass irgendwer den ganzen Scheiß ja hinterher auch essen muss. Ich habe bei der Renovierung meiner Wohnung vor drei Jahren die dämmende Wirkung von Schokoladen-Brownies sehr zu schätzen gelernt.

Die blöden Vögel sind lange weg. Ich liege neben meinem Tannenbaum und versuche so unauffällig an ihm zu riechen, wie man im Vorbeigehen an seinem Schwarm zu riechen versucht. Meine Füße tun fast nicht mehr weh. Es ist Advent.

Kategorien
Musik

Die Kinder des Rock ‘n’ Roll

Schwarmintelligenz, ich brauche Eure Hilfe!

Gestern postete einer meiner Facebookfreunde dieses Video:

Hier klicken, um den Inhalt von YouTube anzuzeigen.
Erfahre mehr in der Datenschutzerklärung von YouTube.

So weit, so … äh: gut.

Beim Hören fiel mir aber wieder ein, dass meine Schwester früher (hier im Sinne von: ca. 1991/92) eine Kassette hatte, auf der aktuelle englischsprachige Songs von Kindern in einer mutmaßlich sinnentstellenden deutschen Sprachfassung vorgetragen wurden. Die Refrainzeile “Tell it like it is” lautete jedenfalls “Schneller als der Wind”.

Ebenfalls auf dieser Kassette enthalten war eine Version von Phil Collins’ “Another Day In Paradise” und ich meine auch eine vom “Shoop Shoop Song”, der damals durch Cher wieder populär geworden war.

Doch das Internet, Hort allen Wissens, weiß nichts von alledem!

Nun ist es nicht völlig ausgeschlossen, dass ich bei einer Expedition des elterlichen Kellers auf eine Kiste stoßen könnte, in der die gesuchte Kassette noch vor sich hin schlummert. Ich wäre nur vermutlich mehrere Wochen mit der Suche beschäftigt und habe große Angst, dabei noch auf irgendwelche zerfledderten Teddybären, halbgelutschte Bonbons und meinen Chemiebaukasten zu stoßen.

In jedem Fall würde ich die Suche ungern beginnen, ohne dass mir vorher nicht irgendjemand wenigstens bestätigen konnte, dass es diese Kassette, die mutmaßlich Teil einer ganzen Reihe war, tatsächlich gegeben hat!

Ich danke Ihnen!

Und damit zu einem anderen Lied, das mir neulich halb-versehentlich wieder untergekommen ist:

Hier klicken, um den Inhalt von YouTube anzuzeigen.
Erfahre mehr in der Datenschutzerklärung von YouTube.


(Das Original ist bei YouTube natürlich gesperrt.)

Kategorien
Politik Gesellschaft

Die Bonner Republik

Das Land meiner Kindheit existiert nicht mehr. Es ist nicht einfach untergegangen wie die DDR, in der ein paar meiner Freunde ihre ersten Lebensjahre verbracht haben, aber es ist auch nicht mehr da.

Früher, als in den Radionachrichten noch die Ortsmarken vorgelesen wurden, gab es dieses Wort, das mehr als ein Wort oder ein Städtename war: “Bonn.” Damals braucht man in den Nachrichten noch keine Soundtrenner zwischen den einzelnen Meldungen, denn es gab dieses Wort, das wie ein Trenner klang, wie der Schlag mit einem Richterhammer. Bonn.

Bonn war die Hauptstadt des Landes, in dem ich lebte, und die Stadt, in der meine Oma damals lebte. Ich glaube nicht, dass ich das eine mit dem anderen jemals in einen Zusammenhang gebracht habe, aber das Land, in dem ich lebte, wurde von alten, grauen Männern in karierten Sakkos regiert und ihre Entscheidungen wurden von gleichermaßen alten, gleichermaßen grauen Männern in gleichermaßen karierten Sakkos verlesen.

Wahrscheinlich wusste ich damals noch nicht, was “regieren” bedeutet und welche Funktion die letztgenannten Männer hatten (außer, dass man als Kind still sein musste, wenn sie zur Abendbrotzeit über den Fernseher meiner Großeltern flimmerten), aber es gab einen dicken Mann mit lustigem Sprachfehler, der immer da war und das war – neben Thomas Gottschalk – der König von Deutschland.

Die Auswirkungen, die die Existenz Helmut Kohls auf ganze Geburtenjahrgänge hatte, sind meines Wissens bis heute nicht untersucht worden. Aber auch Leute, die in den ersten acht bis sechzehn Jahren ihres Lebens keinen anderen Bundeskanzler kennengelernt haben, sind heute erfolgreiche Musiker, Fußballer, Schauspieler oder Autoren, insofern kann es nicht gar so verheerend gewesen sein.

Es passte fast drehbuchmäßig gut zusammen, dass Kohls Regentschaft endete, kurz bevor das endete, was er geprägt hatte wie nur wenige andere alte Männer: die Bonner Republik. Gerhard Schröder wurde Kanzler und plötzlich wirkte die ganze gemütliche Bonner Bungalow-Atmosphäre angestaubt. Schröder zog nach einem halben Jahr in einen grotesken Protzbau, den Helmut Kohl sich noch ausgesucht hatte, der aber magischerweise von der Architektur viel besser zu Schröder passte. Bei Angela Merkel hat man häufig das Gefühl, sie säße lieber wieder in einem holzvertäfelten Bonner Büro.

Die Berliner Republik währte nur drei Sommer. Das hatte ausgereicht für ein bisschen Dekadenz und Fin de Siècle, für einen Kanzler mit Zigarren und Maßanzügen, einen schwulen Regierenden Bürgermeister in Berlin und die vollständige Demontage von Helmut Kohl und weiten Teilen der CDU. In ganz Europa herrschte Aufbruchstimmung: Unter dem Eindruck von New Labour war ganz Europa in die Hände der sogenannten Linken und Sozialisten gefallen, die Sonne schien, alles war gut und nichts tat weh.

Dann kamen der 20. Juli und der 11. September 2001.

Bitte? Sie wissen nicht, was am 20. Juli 2001 passierte? An jenem Tag starb Carlo Giuliani auf den Straßen Genuas. Der 20. Juli hätte der 2. Juni unserer Generation werden können, Giuliani war schon wenige Wochen später als Posterboy der aufkommenden Anti-Globalisierungs-Bewegung auf der Titelseite des “jetzt”-Magazins. Doch 53 Tage später flogen entführte Passagierflugzeuge ins World Trade Center und Giuliani geriet derart in Vergessenheit, dass ich zu seinem 10. Todestag keinerlei Berichterstattung beobachten konnte. In Berlin tagte nun das Sicherheitskabinett, das aber auch in Bonn hätte tagen können, irgendwo in der Nähe des atomsicheren Bunkers im Ahrtal.

Das, was die CDU-Parteispendenaffäre von Helmut Kohl übrig gelassen hatte, wird gerade zerlegt — so zumindest die Meinung verschiedener Journalisten. Zwei Biographien, eine über Hannelore Kohl, eine Auto- von Walter Kohl, enthüllen, was niemand für möglich gehalten hätte: Die ganze schöne Fassade der Familie Kohl war nur … äh … Fassade. ((Und wie sehr das Privatleben von Politikern ihr Vermächtnis trüben können, sieht man ja etwa an John F. Kennedy und Willy Brandt.))

Die Familienfotos der Kohls weisen eine erstaunliche, aber kaum überraschende Deckungsgleichheit mit den Kindheitsfotos meiner Eltern (und mutmaßlich Millionen anderer Familienfotos) auf: Jungs in kurzen Hosen, die Familie am Frühstückstisch, auf dem ein rot-weiß kariertes Tischtuch ruht. ((Es gab damals – was nur die Wenigsten wissen – ein Tischdecken-Monopol in Deutschland: Alle wurden in der Fabrik eines geschäftstüchtigen, aber latent wahnsinnigen Fans des 1. FC Köln produziert. Bitte zitieren Sie mich dazu nicht.)) Das alles in einer heute leicht ins Bräunliche changierenden Optik und obwohl die Anzahl von Gartenzwergen objektiv betrachtet auf den meisten Bildern bei Null liegt, hat man doch, sobald man nicht mehr hinschaut, das Gefühl, mindestens einen Gartenzwerg erblickt zu haben. ((Natürlich ganz ordentliche Gartenzwerge und nicht so ein pfiffiges neumodisches Exemplar mit Messer im Rücken oder entblößtem Genital.)) Meine Kindheitsfotos sahen schon ein bisschen anders aus, verfolgten aber noch das gleiche Konzept. Auf heutigen Kinderfotos sieht man Dreijährige im St.-Pauli-Trikot auf Surfbrettern stehen, Gartenzwerge werden allenfalls von ihnen durch die Gegend getreten.

Die Gemütlichkeit der Bonner Republik ist verschwunden, obwohl ihre Bevölkerung immer noch da ist. Regelmäßig entsorgt man die Kataloge von Billigmöbelhäusern, die Schrankwände Versailler Ausmaße und Pathologie-erprobte Fliesentische anbieten, und regelmäßig fragt man sich, wer außer den Ausstattern von Privatfernseh-Nachmittagsreportagen so etwas kauft. Dann klingelt man mal beim Nachbarn, weil die Regenrinne leckt, und schon kennt man wenigstens einen Menschen, der so was kauft. In Deutschland gibt es 40,3 Millionen Haushalte und Ikea kann nicht überall sein. Ein Blick auf die Leserbriefseite der “Bild”-Zeitung oder in die Kommentarspalten von Online-Medien beweist, dass auch die Aufklärung noch nicht überall sein kann.

Eigentlich hat sich wenig geändert (oder alles, dann aber mehrfach), aber Deutschland wird heute … Entschuldigung, ich wollte gerade “Deutschland wird heute von Berlin aus regiert” schreiben, was völliger Unfug gewesen wäre, weil Deutschland nachweislich nicht regiert wird. Die deutsche Hauptstadt ist also heute Berlin, eine Stadt, die eigentlich gar nicht zum Rest Deutschlands passt: Eine Metropole, von der vor allem Ausländer schwärmen, sie sei der Ort, an dem man jetzt sein müsse. Ganze Landstriche in Schwaben und Ostwestfalen liegen verlassen da, weil ihre Kinder das Glück in der großen Stadt suchen. Von Bonn wurde solches nie berichtet.

Am Samstag war ich nach rund zwanzig Jahren mal wieder in Bonn. Der erste Taxifahrer, zu dem ich mich in Auto setzte, konnte nicht lesen und schreiben, was die Bedienung seines Navigationsgeräts schwierig machte. Der zweite musste seinen Kollegen fragen, wo die gesuchte Straße liegen könnte. Ich wollte in eine Neubausiedlung, erstaunlich, dass es das in Bonn gibt. Ich saß auf dem Beifahrersitz in der freudigen Erwartung eines Deutschlandbildes voller Bungalows und Gartenzwerge, aber Bonn sah eigentlich aus wie überall. Für einen Moment fühlte ich mich sehr zuhause.