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Das bizarre Massaker der Fehlorientierungen

Meine erste “Bravo” las ich im Deutschunterricht der achten Klasse. Nicht heimlich unter dem Tisch, sondern auf Geheiß unseres damaligen Deutschlehrers. Der hielt Deutschlands langlebigste Jugendzeitschrift für ein Super-Beispiel, um uns den Themenkomplex “Zeitung” näher zu bringen. ((Gerüchten zufolge ließ der gleiche Lehrer in sechsten Klassen Aufsätze mit dem Thema “Mein erstes Mal” schreiben. Es ist den Anstrengungen unseres herzensguten Klassenlehrers zu verdanken, dass wir nur zwei Jahre mit diesem Pädagogen zu tun hatten, der wenig später die Schule wechselte. Es beunruhigt mich ein bisschen, dass er auch heute mit Ende Fünfzig noch Schüler (und vor allem Schülerinnen) unterrichtet.))

Ich war damals dreizehn Jahre alt und den Inhalten der Zeitschrift noch nicht wirklich gewachsen. Die Unsicherheit, wie man sich angesichts von Texten über den vorzeitigen Samenerguss, Petting und die neueste Single von Worlds Apart verhalten sollte, übergingen meine besten Freunde und ich, indem wir jede einzelne Seite mit viel Aufwand künstlerisch verschönerten. Besonders die Foto Love Story hatte es uns angetan. ((Ich hoffe, ich denke daran, den gröbsten Irrsinn beim nächsten Elternbesuch mal zu scannen.))

Nach der Klassenarbeit zu dieser Unterrichtseinheit ((Aufgabenstellung: Wahlweise “Schreibe einen Brief ans Dr.-Sommer-Team aus der Perspektive des Mädchens, das in der Foto Love Story vergewaltigt wurde” oder “Schreibe eine Biographie über Mel B.”)) war “Bravo” für mich abgehakt. Aus Spaß an der Freude kauften wir uns allerdings genau ein Jahr später eine weitere Ausgabe, um auch diese zu verschönern. Die Feststellung, dass sich die Themen im Abstand von exakt 52 Wochen wiederholen ((“Skandalvideo von The Prodigy”, Vorzeitiger Samenerguss, Miniposter von Jon Bon Jovi.)), war meine erste Begegnung mit dem Medienjournalismus.

Warum erzähle ich Ihnen den ganzen Scheiß aus meiner noch nicht mal pickligen Pubertät? Ich bin im Internet ((Über eine Google Ad bei bild.de.)) auf eine völlig bizarre Seite gestoßen, die es in Sachen Wahn locker mit der “Bürgerrechtsbewegung Solidarität” aufnehmen kann: “Kinder in Gefahr” – eine Aktion der Deutsche Vereinigung für eine Christliche Kultur (DVCK) e.V.

Neben einer Protestaktion gegen die “steigende Anzahl von Erotik-Sendungen” im ZDF, etlichen homophoben Ausfällen und diversen weiteren Forderungen, die man allenfalls von den bekannt-durchgeknallten Elternorganisationen in den USA erwartet hätte, gibt es dort auch eine Unterschriftenaktion zum Verbot der “Bravo”.

Dieses “Massaker an der Kindheit” äußert sich nach Ansicht der Deutschen Vereinigung für eine Christliche Kultur beispielsweise in diesen Ausprägungen:

  • Jede Woche werden ein Junge und ein Mädchen splitternackt abgebildet, die dabei über ihre Sexualabenteuer berichten. So gut, wie in jeder Ausgabe werden Jugendliche beim Geschlechtsverkehr gezeigt.
  • In jeder Ausgabe gibt es Berichte über Themen wie „Kamasutra“, „Erotische Ausstrah-lung“, „Oralsex“ usw. usf., natürlich mit den dazugehörigen Erotik- und Nacktfotos, ab-gesehen von sexuellen Perversionen, wie beispielsweise Fesseln und Sadomaso-chismus.
  • Bizarres wird als „cool“ und „toll“ dargestellt, wie beispielsweise die „Rock-Party“ der Punk-Gruppe „Tokio Hotel“, die zu einer Zerstörungsorgie wurde.Die Liste solcher Beispiele könnte man beliebig erweitern.

In einem weiteren Artikel erklärt der (für Google quasi komplett unbekannte) Prof. Dr. Dieter Dahl, warum die Internetseite der “Bravo” zu “seelischer Zerstörung, Haltlosigkeit, Fehlorientierungen und Sucht” führt:

Dort wo ein Sexpartner nicht zur Hand ist, wird von BRAVO der Solosex, d.h. die Selbstbefriedigung, bebildert eingeübt und zwar nach Jungen und Mädchen getrennt. Natürlich für jeden einsehbar.

Wenn man sich vorstellt, wie schwer dem guten Professor das Tippen des Wortes “Selbstbefriedigung” gefallen sein muss, lässt sich erahnen, was in ihm vorging, als er folgende Passage schrieb:

Ich frage mich: Kann man sich an verantwortlicher Stelle nicht vorstellen, daß ein Junge sich an diesen Darstellungen aufgeilt, davon nicht loskommt, zum Dauerkonsument und schließlich sexsüchtig wird? Es entstehen dann seelische Zerstörung, Haltlosigkeit, Fehlorientierungen, nicht zuletzt andere Süchte, vor allem Drogensucht.

Fragen Sie mal die Mutter von Pete Doherty!

PS: Und wie man dem Heinrich-Bauer-Verlag eine eigene neun Jahre alte Pressemitteilung im Mund herumdreht, können Sie in einem weiteren Artikel lesen.