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Irrationale Ängste

Als ich ges­tern „Das Model und der Freak“ sah, dach­te ich, dass es doch ein biss­chen beun­ru­hi­gend wäre, wenn dort ein­mal ein ehe­ma­li­ger Klas­sen­ka­me­rad als „Freak“ auf­tauch­te. Mög­li­cher­wei­se hät­te man sich mit unüber­leg­ten puber­tä­ren Sprü­chen oder der Wahl des Betref­fen­den zum „Schü­ler, der ein­mal in den Nach­rich­ten erschei­nen wird“ in der Abizei­tung mit­schul­dig dar­an gemacht, dass der Arme nun von halb­nack­ten Models in küchen­psy­cho­lo­gi­sche Gesprä­che ver­wi­ckelt wird.

Dann dach­te ich: Noch tra­gi­scher wäre doch, wenn man als Frau vor dem Fern­se­her sitzt und sei­nen Ex-Freund durch eine sol­che Sen­dung gescheucht sieht. Der neue Lebens­part­ner (oder gar Ehe­mann) sitzt mit einem Tel­ler Möh­ren und einer Schüs­sel Kräu­ter­quark auf dem Sofa neben einem und man muss jetzt ganz genau über­le­gen, ob das die rich­ti­ge Situa­ti­on ist, ihm sei­nen Vor­gän­ger vor­zu­stel­len.

Dann erin­ner­te ich mich an ein Gespräch, das ich mal in einem Café mit­be­kom­men hat­te: Eine jun­ge Frau erzähl­te einer ande­ren, sie habe kürz­lich mit ihrem Ex-Freund tele­fo­niert und als sie die­sen gefragt habe, wie es ihm gehe, habe der geant­wor­tet, er sei jetzt mit Sound­so zusam­men und Sound­so war der Name eines Man­nes und der Ex-Freund dem­nach auf ein­mal schwul. Ich konn­te gera­de noch an mich hal­ten, mich zu den bei­den umzu­dre­hen, mich vor­zu­leh­nen und in Rein­hold-Beck­mann-Ton­fall zu fra­gen: „Wie fühlt man sich in einer sol­chen Situa­ti­on? Zwei­felt man da nicht an sei­ner eige­nen Weib­lich­keit?“ Aber dann dach­te ich mir, dass Rein­hold Beck­mann (ob echt oder falsch) der letz­te ist, den man in einer sol­chen Situa­ti­on um sich haben möch­te.

Frü­her, als es im Fern­se­hen nur drei Kanä­le gab, war man noch sicher: Ins Fern­se­hen kam nur, wer Poli­ti­ker, Sport­ler oder Kan­di­dat bei „Wet­ten, dass…?“ war. Dann kamen die Pri­vat­sen­der und ris­sen die vier­te Wand, von der sie ver­mut­lich nicht mal wuss­ten, dass sie exis­tier­te oder wer sie dahin­ge­stellt hat­te, ein. Aber auch nach über zwan­zig Jah­ren haben die Leu­te auf der Stra­ße nicht begrif­fen, dass die ein­zig ange­mes­se­ne Reak­ti­on auf eine Fern­seh­ka­me­ra und einen über­dreh­ten Repor­ter ist, schnell weg­zu­lau­fen und wäh­rend der Flucht mit den eige­nen Anwäl­ten zu dro­hen, falls die­ser Irr­sinn aus­ge­strahlt wer­den soll­te. Nein, die Leu­te sind immer noch ganz ehr­fürch­tig, wenn sie von alber­nen Fran­zo­sen, die in ein Baguette spre­chen, oder TV-Total-Mit­ar­bei­tern ange­quas­selt wer­den.

Einen, der die­ses jour­na­lis­ti­sche Sub­gen­re in Deutsch­land „groß“ gemacht hat, sah ich neu­lich in der Esse­ner Innen­stadt: Theo West. Von wei­tem sah ich, wie er unver­mit­telt neben (meist älte­ren) Pas­san­ten auf­tauch­te und sie mit ver­mut­lich dadurch schon so weit irri­tier­te, dass sie ihm spä­ter glau­ben wür­den, Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel habe auf dem Esse­ner Wochen­markt einen Stand mit selbst­ge­koch­ter Wal­nuss­mar­me­la­de eröff­net (oder was immer er ihnen erzähl­te). Ich merk­te, dass ich kalt­schwei­ßig wur­de und instän­dig hoff­te, die­ser Knilch möge an mir vor­über­ge­hen. Ich hät­te ver­sucht sein kön­nen, wit­zig oder schlag­fer­tig zu sein (zwei Eigen­schaf­ten, die ich für mich nie in Anspruch genom­men habe), und das hät­te neben einem sol­chen Voll­pro­fi rich­tig pein­lich wir­ken kön­nen. Da hät­te nur noch apa­thi­sches Stie­ren direkt in die Kame­ra eine Aus­strah­lung ver­mas­seln kön­nen (so bin ich mal dem dama­li­gen Musik­sen­der Viva ent­kom­men).

Aber selbst, wer die Esse­ner, Köl­ner und Ber­li­ner (wo man immer­hin noch von Cars­ten van Rys­sen ver­arscht wer­den konn­te) Innen­stadt mei­det, ist nicht mehr sicher: Seit neu­es­tem läuft man auch zuhau­se Gefahr, von Sen­dun­gen wie „Quiz-Tour“ beläs­tigt zu wer­den. Mein schlimms­ter Alp­traum indes wäre, dass Tine Witt­ler bei mir klin­gel­te, um medi­ter­ra­ne Wisch­tech­nik und Stau­raum in mei­ne vier Wän­de zu brin­gen, auf dass ich zukünf­tig lie­ber unter einer Brü­cke schlie­fe als daheim. Wo sind die Leu­te, die immer mit dem Grund­ge­setz wedeln, eigent­lich, wenn öffent­lich der­art gegen die Unver­letz­lich­keit der Woh­nung ver­sto­ßen wird?

All dies sind natür­lich Extrem­bei­spie­le; Ängs­te, die – wie die aller­meis­ten Ängs­te – unbe­grün­det sind. So habe ich jah­re­lang wie­der­holt geträumt, in einem Fahr­stuhl zu sein, der wahl­wei­se abstürzt oder nach oben durch die Decke schießt. Das ist inso­fern fas­zi­nie­rend, als ich im wachen Zustand kei­ner­lei Pro­ble­me mit gro­ßen Höhen oder Fahr­stüh­len habe – mit der Ein­schrän­kung, dass ich pani­sche Angst davor habe, gemein­sam mit Jür­gen Drews und Gül­can Karahan­ci in einem Fahr­stuhl ste­cken zu blei­ben. Da ich aber weder dem „König von Mal­lor­ca“, noch der Plau­der­ta­sche von Viva bis­her begeg­net bin, basiert auch die­se Angst mehr auf der vagen Mög­lich­keit, ein sol­ches Ereig­nis kön­ne ein­tre­ten, als auf per­sön­li­chen Erfah­run­gen. Noch unwahr­schein­li­cher ist ledig­lich der Traum, den ich kürz­lich hat­te, und in dem ich zum Bun­des­vor­sit­zen­den der Jun­gen Uni­on gewählt wor­den war. Der war aber auch schreck­lich.

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Schlagerzeilen

So, jetzt hab ich mir doch mal (zum ers­ten Mal seit der Ent­de­ckung Ame­ri­kas, ver­mut­lich) den „Spie­gel“ gekauft. Noch nicht mal pri­mär, weil da das sagen­um­wo­be­ne Schäub­le-Inter­view drin ist, son­dern wegen … Micha­el Wend­ler!

Den hat­ten wir hier schon mal ken­nen­ge­lernt, als ich Dins­la­ken zur zukünf­ti­gen Musik­haupt­stadt Deutsch­lands erklär­te. Ganz so weit ist man beim „Spie­gel“ noch nicht, aber der Arti­kel von Tho­mas Schulz zählt zum Unter­halt­sams­ten, was ich in den letz­ten Mona­ten gele­sen habe (und man soll­te es beim „Spie­gel“ kaum für mög­lich hal­ten: das scheint sogar beab­sich­tigt gewe­sen zu sein).

„Der Wend­ler wird eine Hys­te­rie aus­lö­sen.“ Sagt der Wend­ler. „Der Wend­ler ist ein­fach geil.“ Sagt der Wend­ler. „Wenn ich nicht selbst der Wend­ler wäre, ich würd‘ mir die gan­ze Zeit zu mei­nen Kon­zer­ten hin­ter­her­fah­ren.“
Der Wend­ler, das ist Micha­el Wend­ler, 35, gelern­ter Spe­di­ti­ons­kauf­mann aus Dins­la­ken, Beruf: Schla­ger­star. Obwohl der Wend­ler das so nie sagen wür­de, genau wie er nie „der Micha­el“ sagt und sel­ten „ich“, son­dern immer nur „der Wend­ler“. Er wür­de sagen: König des Pop-Schla­gers. So steht es auf sei­nen Pla­ka­ten, sei­nem Fan-Maga­zin, sei­nen Plat­ten. Er hat sich den Begriff mar­ken­recht­lich schüt­zen las­sen.

Ich gebe zu, ich hät­te den Arti­kel nicht an der U‑Bahn-Sta­ti­on lesen sol­len, man wird ja doch immer schief ange­guckt, wenn man sich in der Öffent­lich­keit kaputt­lacht. Schon in der Ein­lei­tung steht „Ein Besuch in einer Par­al­lel­welt“, und genau das ist es: Schulz macht sich nicht über sein The­ma lus­tig, er beschreibt es nur mit dem dezent ungläu­bi­gen Blick, den man wohl drauf­ha­ben soll­te, wenn man im Auf­trag eines Ham­bur­ger Nach­rich­ten­ma­ga­zins Fest­zel­te, Dorf­dis­cos und den „Bal­ler­mann“ auf Mal­lor­ca auf­su­chen muss:

Es dau­ert nicht lan­ge, dann schlappt ein Mann her­an in knall­ro­ten Leder­ho­sen und abge­schnit­te­ner Jeans­ja­cke, er setzt sich an den Tisch, ein­fach so, und stellt sich vor: „Gestat­ten: Drews, Schla­ger­star, alternd“.

Die Schla­ger­bran­che, so der Tenor der Repor­ta­ge, erlebt gera­de mal wie­der ein Revi­val – aber dies­mal ohne die Hel­den von vor­ges­tern und abseits der Öffent­lich­keit:

Des­we­gen ist Andrea Berg wohl auch der unbe­kann­tes­te Star im Land. Ihr „Best of“-Album hielt sich 290 Wochen in den Charts. Ihr aktu­el­les Album war die meist­ver­kauf­te Plat­te des Musik­rie­sen Sony BMG in Deutsch­land im ver­gan­ge­nen Jahr. Sie kann inzwi­schen bis zu 30 000 Euro pro Auf­tritt neh­men. Aber das hat RTL nicht davon abge­hal­ten, ihren Auf­tritt bei der Ver­lei­hung des Deut­schen Musik­prei­ses Echo fast kom­plett her­aus­zu­schnei­den.

Es lohnt sich, den Arti­kel zu lesen, und es lohnt sich anschei­nend auch, sich mal so ein Micha­el-Wend­ler-Kon­zert aus der Nähe anzu­schau­en:

„Bei mei­nen Auf­trit­ten sind die Leu­te so ral­lig, die knal­len sich auf den Toi­let­ten.“

Nach­trag 20:25 Uhr: Wie mir mei­ne Mut­ter soeben per E‑Mail mit­teilt, ist der Arti­kel auch online ver­füg­bar. Das war er heu­te Nach­mit­tag, als ich zum Kiosk ging, noch nicht …

Nach­trag, 20. Juli: Jetzt ist der Arti­kel natür­lich wie­der off­line bzw. kos­ten­pflich­tig. Kön­nen die sich mal ent­schei­den?