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Zu früh geärgert

Vor zwei Wochen haben wir den 18. Geburts­tag die­ses Blogs gefei­ert, jetzt kön­nen wir schon das nächs­te Jubi­lä­um bege­hen. Heu­te vor zehn Jah­ren habe ich das abge­setzt, was mein erfolg­reichs­ter Tweet (eine Kate­go­rie, bedeu­tend trau­ri­ger als „Viert­bes­ter Tor­schüt­ze der Rück­run­de in der Kreis­li­ga C“) wer­den soll­te:

Tweet vom 24. Februar 2015: Wir sind im Jahr 2015 und die großen Themen lauten Religion, Meinungsfreiheit und Impfen. Wollen wir eigentlich unsere Vorfahren verarschen?

Ich bin mir rela­tiv sicher, mich erin­nern zu kön­nen (und wir wis­sen alle, was das bedeu­tet), wie ich die­sen Tweet zwi­schen „War­ten am Bochu­mer Haupt­bahn­hof“ und „Ein­stei­gen in den Regio­nal­ex­press nach Köln“ geschrie­ben und abge­schickt habe (des­we­gen auch die etwas merk­wür­di­ge Posi­tio­nie­rung des Adverbs „eigent­lich“ vor dem Akku­sa­tiv-Objekt, die mich seit dem ers­ten Moment stört), aber ich bin etwas rat­los, wel­che damals aktu­el­len Debat­ten ich damit kom­men­tie­ren woll­te. Die „Tages­schau“ vom Vor­abend ist schon mal kei­ne Hil­fe.

Die The­men „Reli­gi­on“ und „Mei­nungs­frei­heit“ mögen mit den Anschlä­gen auf die Redak­ti­on des fran­zö­si­schen Sati­re­ma­ga­zins „Char­lie Heb­do“ sie­ben Wochen zuvor zusam­men­hän­gen, auch wenn es aus heu­ti­ger Sicht eini­ger­ma­ßen unvor­stell­bar erscheint, dass ein Ereig­nis der­art lan­ge medi­al ven­ti­liert wird. „Imp­fen“ hat, wie ich jetzt ergoo­geln konn­te, wahr­schein­lich etwas mit einem Masern­aus­bruch zu tun, zu dem sich der Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter, offen­kun­dig ein Mann mit dem Namen Her­mann Grö­he, am glei­chen Tag äußer­te.

Wie es so oft ist: Man kann nicht vor­her­sa­gen oder kon­trol­lie­ren, was „viral geht“. So erreich­te mei­ne etwas nebu­lö­se Gesell­schafts­kri­tik schon in den ers­ten Stun­den Hun­der­te „Ret­weets“ und „Likes“ und ich bekam mei­ne wei­te­re gerech­te Stra­fe in Form eines eige­nen Arti­kels bei „Focus Online“. Ich ent­neh­me mei­nen Auf­zeich­nun­gen, dass ich offen­bar eini­gen uner­wünsch­ten Zuspruch von Ras­sis­ten auf Face­book bekom­men habe, und der „Focus Online“-Text deu­tet an, wie die­se Leu­te auf die fal­sche Fähr­te kom­men konn­ten:

In der Tat liegt Hein­ser nicht falsch: Der Islam und wie der Wes­ten mit ihm umge­hen soll, ist nicht erst seit der Pegi­da-Bewe­gung ein heiß dis­ku­tier­tes The­ma in Deutsch­land.

Mei­ne flap­sig weg­for­mu­lier­te Äuße­rung lässt natür­lich auch ver­schie­de­ne Deu­tun­gen zu — das ist ja eines der vie­len Elen­de von maxi­mal ver­knapp­ten Online-Debat­ten. Mei­ne Blog-Ein­trä­ge und News­let­ter spren­gen nicht sel­ten die 10.000-Zeichen-Marke, Twit­ter erlaub­te damals offen­bar nicht mehr als 140. Wie hät­te ich da gleich­zei­tig Besorg­nis aus­drü­cken sol­len über Per­so­nen, die ihre Reli­gi­on so ernst neh­men, dass sie dafür Men­schen ermor­den, und gleich­zei­tig einer frem­den­feind­li­chen Pau­schal­kri­tik eine Absa­ge ertei­len? Ich weiß ja nicht mal mehr, wor­um es mir genau ging, außer, dass ich von Evo­lu­ti­ons­brem­sen genervt war.

Den­noch wirkt mein Tweet heu­te wie eine Fla­schen­post aus ein­fa­che­ren, fast sorg­lo­sen Zei­ten: Vor dem Spät­som­mer 2015, in dem sich Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel gegen eine Schlie­ßung der deut­schen Außen­gren­zen ent­schied und ihren anstän­di­gen Mini­mal-Huma­nis­mus mit dem Erstar­ken von offen frem­den­feind­li­chen Posi­tio­nen auf Social Media und in der deut­schen und euro­päi­schen Poli­tik bezah­len muss­te; vor der US-Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tur eines abge­half­ter­ten Rea­li­ty-TV-Stars; vor dem „Brexit“; vor dem Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne (aber nach der Anne­xi­on der Krim und dem Ein­marsch im Don­bass); vor dem Hamas-Ter­ror vom 7. Okto­ber 2023, der bis heu­te anhält, und dem ganz gro­ßen Das-wird-man-doch-noch-sagen-dür­fen-Back­lash. Fried­rich Merz war ein weit­ge­hend in Ver­ges­sen­heit gera­te­ner Rechts­an­walt aus Düs­sel­dorf und die AfD stand in Wahl­um­fra­gen bei ca. 6%.

Es liegt eine beson­ders grob­schläch­ti­ge Iro­nie dar­in, dass der Ort, an dem ich mei­ne Gedan­ken damals wind­schief notiert habe, einer der Haupt­fak­to­ren der Ent­wick­lun­gen der nächs­ten Jah­re war: mit Fehl­in­for­ma­tio­nen zu Brexit und Hil­la­ry Clin­ton, zu COVID-19 und Imp­fun­gen, zu Geflüch­te­ten — und dann kam auch noch Elon Musk, der den gan­zen Bums auf­ge­kauft und zu einem Schmelz­tigel für Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen, Hass und alle Arten von Men­schen­ver­ach­tung opti­miert hat (wor­auf­hin Mark Zucker­berg für sei­ne Platt­for­men nach­zog).

Zwei wei­te­re Iro­nien lie­gen dar­in, dass mein Tweet aus­ge­rech­net heu­te Jubi­lä­um fei­ert, am drit­ten Jah­res­tag des offe­nen rus­si­schen Kriegs gegen die Ukrai­ne, und am Mor­gen nach einer Bun­des­tags­wahl, bei der die AfD auf 20,8% kam und eine Uni­on, die die Mer­kel-Ära abge­schüt­telt hat wie eine unge­lieb­te Jacke, in der Bun­des­re­gie­rung den Ton ange­ben wird.

Wahl­er­fol­ge mit rech­ter Rhe­to­rik ver­än­dern das gesell­schaft­li­che Kli­ma: Leu­te, die über Jah­re (zu recht) zu fei­ge waren, ras­sis­ti­sche, que­er­feind­li­che oder sonst­wie xeno­pho­be Kom­men­ta­re abzu­ge­ben, füh­len sich plötz­lich wie­der in der Mehr­heit, weil die Medi­en, rich­ti­ge wie Sozia­le, voll sind mit den gan­zen Unge­heu­er­lich­kei­ten (und ja auch lin­ke, auf­ge­klär­te Men­schen sie ger­ne noch ein­mal tei­len, um noch mal klar zu machen, wie unge­heu­er­lich sie sind). 

An einem Tag wie heu­te fällt es schwer, hoff­nungs­voll oder auch nur opti­mis­tisch zu sein: AfD-Wähler*innen wer­fen Nicht-AfD-Wähler*innen auf Social Media vor, dass ihnen der Tod von Opfern mut­maß­lich isla­mis­tisch moti­vier­ter Ter­ror­an­schlä­ge und Mor­de egal sei — als ob pro­gres­si­ve Men­schen nicht gegen Tota­li­ta­ris­mus, Patri­ar­chat und Gewalt wären, als ob der gefähr­lichs­te Ort für Frau­en nicht ihr eige­nes Zuhau­se oder Umfeld wäre und als ob eine sofor­ti­ge Schlie­ßung der Außen­gren­zen irgend­wel­che Aus­wir­kun­gen hät­te auf Men­schen, die hier unter men­schen­un­wür­di­gen Bedin­gun­gen leben, unbe­han­del­te psy­chi­sche Pro­ble­me haben (womög­lich als Fol­ge von Trau­ma­ti­sie­rung in ihrer Hei­mat oder auf der Flucht hier­her) und emp­fäng­lich sind für men­schen­ver­ach­ten­de Wir-gegen-die-Nar­ra­ti­ve, die denen der AfD gar nicht so unähn­lich sind.

Jede „Migra­ti­ons­de­bat­te“ ist immer auch der sump­fi­ge, brau­ne Nähr­bo­den für blan­ken Ras­sis­mus, für ein Über­le­gen­heits­ge­fühl irgend­wel­cher Arsch­lö­cher, deren arg­los raus­ge­haue­nen Social-Media-Paro­len die Lebens­wirk­lich­keit mei­ner Freund*innen und der Freund*innen mei­nes Soh­nes bestim­men. Gleich­zei­tig glau­be ich, dass jede Social-Media-Empö­rung immer auch eine endo­ther­me Reak­ti­on ist, dass also die gan­ze Zeit von außen Ener­gie zuge­führt wer­den muss, damit sie am Kochen bleibt. Die­ses „außen“ sind natür­lich in ers­ter Linie Kräf­te wie Russ­land, Elon Musk und der Axel-Sprin­ger-Ver­lag, bei denen ich aktu­ell kei­ne Idee habe, wie man sie wie­der los wird oder wenigs­tens ihren Ein­fluss ein­schränkt (also: außer „Social Media abschal­ten“), aber ich wer­de weder die Hoff­nung, noch mein Enga­ge­ment gegen die­sen Wahn­sinn der ein­fa­chen Lösun­gen auf­ge­ben.

Ich bin jetzt 41 Jah­re alt und ich bin seit 41 Jah­ren auf Demos gegen Umwelt­zer­stö­rung und Nazis dabei. Ich bin es den Frau­en in mei­ner Fami­lie schul­dig, die sich seit Gene­ra­tio­nen für die Men­schen enga­giert haben, die von unse­rer Gesell­schaft an den Rand gedrängt und über­se­hen wur­den; die in Par­tei­en und Orga­ni­sa­tio­nen aktiv waren und 1938 anti­se­mi­ti­sche Mit­schü­le­rin­nen ver­dro­schen haben. Das sind die Vor­fah­ren, die ich mit mei­nem Tweet mein­te.

Kor­rek­tur, 4. März 2025: In der ers­ten Ver­si­on die­ses Blog­posts hat­te ich das Wort „eigent­lich“ als „Adjek­tiv“ bezeich­net. Im Fal­le des Tweets ist es aber ein­deu­tig ein Adverb. Mit Dank an K.!

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Wenn wir wirklich Freunde wären

Damit war nicht zu rech­nen gewe­sen: Heu­te ist der 20. Jah­res­tag der legen­dä­ren Tic-Tac-Toe-Pres­se­kon­fe­renz und weder „Spie­gel Online“ (wahl­wei­se bei „Eines Tages“ oder „Ben­to“) noch Bild.de oder „Buzzfeed“ berich­ten dar­über. Ein­zig die „Gos­lar­sche Zei­tung“ erin­nert in ihrem „Kalen­der­blatt“ an den denk­wür­di­gen Ver­such, eine zer­strit­te­ne Girl­band auf offe­ner Büh­ne vor der ver­sam­mel­ten WeltPres­se zu ver­söh­nen – ein Ver­such, der gran­di­os schei­ter­te, weil sich die drei Mit­glie­der am Ende beschimpf­ten und teil­wei­se wei­nend das Podi­um ver­lie­ßen.

[Anschwel­len­de Musik, Gui­do-Knopp-Bedeu­tungs­brum­men]

Eine Pres­se­kon­fe­renz, die sich aber so ins kol­lek­ti­ve Gedächt­nis der Deut­schen ein­ge­brannt hat, dass sie auch 20 Jah­re spä­ter noch als Refe­renz taugt – sogar, wenn es um eine geschei­ter­te Regie­rungs­bil­dung geht.

[flot­tes 90er-Musik­bett]

An die­ser Stel­le ein kur­zes „Hal­lo!“ an unse­re fünf Leser unter 25: Tic Tac Toe waren eine drei­köp­fi­ge Girl­group aus dem öst­li­chen Ruhr­ge­biet, die mit Songs wie „Ich find‘ Dich schei­ße“, „Ver­piss Dich“ oder „War­um?“ nicht nur beacht­li­che Erfol­ge fei­er­te, son­dern auch die Gren­zen des­sen, was man im Radio und Fern­se­hen „sagen durf­te“, aus­lo­te­ten und ver­scho­ben. Bei ihrem Kome­ten­haf­ten Auf­stieg [hier Schnitt­bil­der Viva-Comet-Ver­lei­hung ein­fü­gen] wur­de das Trio aller­dings immer wie­der von der Bou­le­vard­pres­se und ent­spre­chen­den „Skan­da­len“ beglei­tet.

In der Wiki­pe­dia heißt es dazu:

Zunächst kam her­aus, dass die Alters­an­ga­ben der drei Sän­ge­rin­nen von Tic Tac Toe von der Plat­ten­fir­ma den Sän­ge­rin­nen ein jün­ge­res Alter beschei­nig­ten; bei­spiels­wei­se war Lee bereits 22 Jah­re alt, obwohl sie – laut Plat­ten­fir­ma – 18 Jah­re alt gewe­sen sein soll. Medi­al gro­ßes Auf­se­hen erlang­te die Band, als Lees dama­li­ger Ehe­mann nach Bezie­hungs­pro­ble­men Sui­zid beging. Eine Woche spä­ter wur­de bekannt, dass Lee kurz­zei­tig als Pro­sti­tu­ier­te gear­bei­tet hat­te, um mit dem Geld Dro­gen zu finan­zie­ren.

Und dann, am 21. Novem­ber 1997 lud die Plat­ten­fir­ma der Band, Ario­la, in Mün­chen zu einer Pres­se­kon­fe­renz, von der sie sich nach inter­nen Que­re­len Signal­wir­kung erhofft hat­te: Einig­keit, nach vor­ne schau­en, der Auf­bruch zu wei­te­ren Erfol­gen.

[Das Bild friert ein, wird schwarz/​weiß, her­an­zoo­men]

Doch dann kam alles ganz anders.

Die Pres­se­kon­fe­renz ist legen­där, aber bei You­Tube oder anders­wo nicht auf­zu­fin­den (dort stößt man aber auf kaum weni­ger bizar­re Medi­en­be­rich­te zur Band). Auch spä­te­re O‑Töne von Tho­mas M. Stein, als Chef der Ario­la gleich­sam Gast­ge­ber der ver­un­fall­ten PR-Akti­on und einer brei­ten Öffent­lich­keit spä­ter bekannt gewor­den als Juror der ers­ten bei­den Staf­feln von „Deutsch­land sucht den Super­star“, in denen er sich über den Her­gang der Ereig­nis­se äußert, haben es nicht ins kol­lek­ti­ve pop­kul­tu­rel­le Archiv geschafft. Die in der Wiki­pe­dia auf­ge­stell­te Behaup­tung, „Die­se Akti­on wur­de am Abend in der Tages­schau the­ma­ti­siert“, lässt sich zumin­dest für die 20-Uhr-Aus­ga­be nicht bele­gen.

Immer­hin gibt es aber ein Tran­skript, das sich auf die in die­sem Fall denk­bar seriö­ses­te Quel­le stützt, die „Bra­vo“

Aber auch wenn sich heu­te kein gro­ßer Jubi­lä­ums­be­richt auf­trei­ben lässt, wird die Pres­se­kon­fe­renz mit ihren zu geflü­gel­ten Wor­ten geron­ne­nen Zita­ten („Wenn wir wirk­lich Freun­de wären, dann wür­dest du so’n Scheiß über­haupt nicht machen!“, „Boah, ihr könnt echt gut lügen!“, „Jetzt kom­men wie­der die Trä­nen auf Knopf­druck.“) noch regel­mä­ßig her­vor­ge­kramt: Wenn die AfD eine Pres­se­kon­fe­renz abhält, wenn sich der Schla­ger­sän­ger Rober­to Blan­co und sei­ne Toch­ter Patri­cia auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se strei­ten (eine Mel­dung, die man sich jetzt auch eher nicht hät­te aus­den­ken kön­nen oder wol­len), wann auch immer sich ein „Was machen eigent­lich …?“ anbie­tet (außer natür­lich heu­te).

Als Fach­ma­ga­zin für Lis­ten, bevor jeder Depp Lis­ten ver­öf­fent­licht hat wol­len wir es uns bei Cof­fee And TV aber natür­lich nicht neh­men las­sen, die Tic-Tac-Toe-Pres­se­kon­fe­renz in den Gesamt­kon­text des Kon­zepts „Pres­se­kon­fe­renz“ in Deutsch­land ein­zu­ord­nen.

Also, bit­te: Die sie­ben legen­därs­ten deut­schen Pres­se­kon­fe­ren­zen!

7. Gert­jan Ver­beek, 21.09.2015

6. Karl-Theo­dor zu Gut­ten­berg, 18.02.2011

5. Chris­toph Daum, 09.10.2000/12.01.2001

4. Tic Tac Toe, 21.11.1997

3. Uwe Bar­schel, 18.09.1987

2. Gio­van­ni Trapp­a­to­ni, 10.03.1998

1. Gün­ter Schab­ow­ski, 09.11.1989