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Lucky & Fred: Episode 28

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Im Berliner Pfefferberg Theater hat sich ein illustres Publikum eingefunden um zwei Truckern aus dem Ruhrgebiet zuzuhören: Lucky und Fred verhandeln in gewohnter Podcast-Manier die aktuelle Weltlage von Tempolimit bis Meinungsfreiheit, vom Brexit bis zum großen Datenklau.

Mit ihrem Special Guest Stefan Niggemeier sprechen die beiden über die Lage des Journalismus in Deutschland — und natürlich über das, was dann doch nicht so schlecht war.

Ein vergnüglicher Abend, eingedampft auf 73 Minuten.

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Lucky & Fred: Episode 23

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Ein Abend, fünf Jahre in der Mache: Vor ausverkauftem Haus feierten Lucky & Fred am Schauspiel Dortmund die Premiere ihrer Gala.

Lucky verrät heiße Insider-Infos über den ECHO, Fred erzählt einen vom Wolf, der Vogel des Jahres wird ausgezeichnet — und dann kommt noch ein Überraschungsgast, um zu erklären, dass ja nicht alles schlecht war.

Also: Alles etwas anders als sonst, aber irgendwie auch wie immer!

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Furchtbar

Durch Umstände, die diesmal nichts zur Sache tun, bin ich gerade über eine rund zweieinhalb Jahre alte Überschrift auf bunte.de gestolpert:

Kai Wiesinger: "Es ist furchtbar!"

Im Vorspann steht:

Der Tod von Chantal de Freitas im Sommer 2013 war überraschend. Die damals 45-jährige Schauspielerin und getrennt lebende Ehefrau von Kai Wiesinger starb plötzlich und unerwartet. Zurück blieben ihre zwei Töchter – und ein trauernder Kai Wiesinger …

Und das kann man sich ja gut vorstellen, dass eine solche Situation furchtbar ist.

Allein — wenn man den dazugehörigen Artikel auf bunte.de komplett liest, stellt man fest, dass das Zitat in der Schlagzeile vielleicht ein bisschen … nennen wir es mal: aus dem Zusammenhang gerissen ist:

"Es ist furchtbar, wie Medien ein falsches Bild von jemandem erschaffen können" Chantal de Freitas hinterließ zwei Töchter aus ihrer Ehe mit Kai Wiesinger. Im Interview mit dem Magazin "DONNA"​ spricht der 48-Jährige jetzt über die schwere Zeit. "Es ist furchtbar, wie Medien durch aus dem Zusammenhang gerissene Zitate ein falsches Bild von jemandem erschaffen können. Es ist sehr schwer, so etwas auszuhalten und dabei öffentlich keine Stellung zu beziehen."

Womöglich braucht man gar nicht viel mehr als dieses Beispiel, um das Wesen von Boulevardjournalismus zu erklären.

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Katastrophenjournalismus-Mäander

Ich war ein etwas merkwürdiges Kind und legte schon früh eine gewisse Obsession für Journalismus an den Tag, besonders in Katastrophensituationen: als in meinem Heimatdorf ein Gasthaus abbrannte, schnitt mein siebenjähriges Ich in den nächsten Tagen alle Artikel darüber aus der Zeitung aus und editierte sie neu zusammen, um sie in einer von mir selbst moderierten Nachrichtensendung (Zuschauer: meine Stofftiere) zu verlesen.

Mit acht sammelte ich in Zeitungen und Radio alle Informationen über einen Flugzeugabsturz in Amsterdam, derer ich habhaft werden konnte. Nach dem Absturz eines Bundeswehrhubschraubers ((Die Typenbezeichnung Bell UH-1D könnte ich Ihnen ohne nachzudenken nennen, wenn Sie mich nachts um vier aus dem Bett klingelten — was Sie aber bitte in unser beider Interesse unterlassen!)) bei der Jugendmesse “YOU” in Dortmund, nach dem Unfalltod von Prinzessin Diana, nach dem ICE-Unfall von Eschede schaltete ich Fernseher und Videotext ein und wechselte jede halbe Stunde zum Radio, um aus den dortigen Nachrichten mögliche neue Entwicklungen zu entnehmen und – ich wünschte wirklich, ich dächte mir das aus – zu notieren: Soundso viele Tote, Ursache noch unklar, drückte den Hinterbliebenen an der Unfallstelle sein Mitgefühl aus. Den 11. September 2001 verbrachte ich kniend auf dem Wohnzimmerteppich meiner Eltern vor dem Fernseher, am 7. Juli 2005 verließ ich mein Wohnheimszimmer nicht.

Dann wurden im August 2006 in Großbritannien zahlreiche Verdächtige festgenommen, die Anschläge auf Passagiermaschinen geplant haben sollten, und nach etwa einer halben Stunde CNN und BBC schaltete ich den Fernseher aus, ging raus und dachte “Was’n Scheiß!”

Ziemlich exakt seit es mir technisch möglich wäre, mich in Echtzeit selbst über Ereignisse zu informieren, noch während sie passieren, wünsche ich mir, darüber im Geschichtsbuch lesen zu können. Mit allen Erkenntnissen, die im Laufe der Jahre gewachsen sind, mit historischer Einordnung und in genau dem Umfang, der ihnen angemessen ist: Doppelseite, halbe Seite, kleiner Kasten, Fußnote.

***

Als ich am vergangenen Freitag die erste Meldung bekam, dass sich in München irgendwas schlimmes ereignet habe, ((Bizarrerweise per Push-Benachrichtigung der BBC-App.)) guckte ich kurz bei Facebook Live und Periscope rein, weil ich ja manchmal auch für aktuelle Informationssendungen arbeite und mir diese Technik mal aus einer professionellen Perspektive ansehen wollte. Ich sah also verwackelte Videobilder, auf denen Menschen mit erhobenen Händen in Richtung von Polizeiautos rannten, und die von einem Mann mit bayrischen Akzent mit anhaltendem “krass, krass” kommentiert wurden. Die Wörter “München”, “Olympia”, “Schüsse” und “Kamera” bildeten in meinem Kopf eine Linie und ich dachte, dass man so Scheiße wie 1972, als die Geiselnehmer dank Live-Fernsehen permanent über die Aktionen der Polizei informiert waren, ja ruhig 44 Jahre später mit Mitteln für den Heimanwender noch mal wiederholen kann. Ich erbrach mich kurz bei Twitter und tat dann das Einzige, was mir an einem solchen Tag noch sinnvoll und sachdienlich erschien: ich ging in die Küche und machte Marmorkuchen und Nudelsalat für einen Kindergeburtstag.

***

Der Begriff des “Zeugen” ist in erster Linie ein juristischer. Zeugen haben von den Strafverfolgungsbehörden (und dort von möglichst geschultem Personal) gehört zu werden und sollten nach Möglichkeit nicht vor laufende Kameras gezerrt werden. Schon bei einem harmlosen Verkehrsunfall kann man die widersprüchlichsten Informationen zusammensammeln, bei einer unübersichtlichen Gefährdungslage dürfte die Chance, tatsächlichen Mehrwert zu generieren (der sich anschließend inhaltlich auch noch als zutreffend erweist), genauso groß sein wie wenn der Moderator im Studio einfach mal rät, was passiert sein könnte.

Zu den Leuten, die nach bestem Wissen und Gewissen ausplaudern, was sie gesehen und gehört zu glauben haben, kommen natürlich noch die Idioten hinzu, die sich irgendwas ausdenken, um auf Twitter oder Facebook geteilt zu werden — oder weil es sich ja zufällig als treffend erweisen könnte.

Auf einem der Periscope-Videos aus München sah ich Dutzende Menschen, die alle ihre Handys in Richtung eines nicht näher einzuordnenden Ortes richteten, den ich jetzt einfach mal als “potentielle Gefahrenquelle” bezeichnen würde. Die Geiselnehmer von Gladbeck müssten heute nicht mal mehr warten, dass “Hans Meiser, deutsches Fernsehen” bei ihnen anruft oder der spätere “Bild”-Chefredakteur Udo Röbel zu ihnen ins Auto steigt.

Neben all dem findet man in den Sozialen Netzwerken natürlich auch die Besserwisser: ((Zu denen ich in der Blüte der Arroganz von Jugend und Internetglauben auch gehört habe.)) das Fernsehen soll mehr berichten, das Fernsehen soll weniger berichten, die Politiker sollen sich gefälligst jetzt äußern. Fast würde man diesen Leuten ein “Macht’s besser!”, entgegen schreien wollen, wenn man nicht davon ausgehen müsste, dass sie schon im Glauben sind, auf ihren Profilen genau das zu tun.

***

Während etwas geschieht, ist man in aller Regel nicht in der Lage, die Dimension dieses Ereignisses auch einzuschätzen. Das gilt für die erste Begegnung mit der späteren großen Liebe genauso wie für Nachrichten. Es hat sich mir förmlich ins Hirn gebrannt, wie ich mit fünf Jahren versehentlich eine Ausgabe der “Aktuellen Stunde” mitkriegte, die vom Absturz eines US-Kampfflugzeugs in einer Stadt namens Remscheid berichtete. ((Note to self: Niemals Nachrichten gucken, wenn das Kind in der Nähe ist.)) Die Worte “Flugzeugabsturz” und “Remscheid” sind für mich seitdem untrennbar semantisch miteinander verbunden, obwohl ich bis heute nicht sagen könnte, wo Remscheid liegt. ((An der A1 zwischen Wuppertal und Köln, aber was weiß ich, wo die A1 lang führt — und wo zum Henker liegt überhaupt Wuppertal, außer halt südlich des Ruhrgebiets?)) Die allermeisten Menschen, die diese Nachricht damals zur Kenntnis genommen haben und nicht direkt von dem Absturz betroffen waren, dürften sie komplett vergessen haben — die damaligen Moderatoren der “Aktuellen Stunde” inklusive. Für die Stadt Remscheid dürfte der Tag eine deutlich größere Bedeutung haben als für die US Air Force. Und allein die Tatsache, dass ich die Fakten dazu jetzt ganz schnell nachschlagen konnte, gibt dem Unglück ja eine gewisse Wertung: Es ist nicht auszuschließen, dass am gleichen Tag auf den Straßen in NRW mehr Todesopfer bei Autounfällen zu beklagen waren – Anfang Dezember, vielleicht Blitzeis? – als die sieben beim Flugzeugabsturz, aber dazu gibt es halt keinen Wikipedia-Eintrag.

***

Als ich noch relativ klein war, lief ein psychisch kranker Mann mit einer Schusswaffe durch die Dinslakener Innenstadt, schoss auf Polizisten und erschoss sich am Ende in einer Garage. Jedenfalls ist es das, woran ich mich sehr dunkel – und ausschließlich auf Erzählungen meiner Mutter an jenem Tag basierend – erinnere. Ich bilde mir ein, dass es im Herbst 1991 gewesen sein müsste, aber ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung — um das ganze irgendwie verifizieren zu können, müsste ich nach Dinslaken fahren und in den Archiven der Lokalredaktionen von “NRZ” und “Rheinischer Post” meterweise Mikrofilm sichten. Angeblich war auch das Fernsehen vor Ort, vielleicht fände ich etwas im Keller von RTL West.

Nur zehn Jahre später hätte dieses Ereignis zumindest ein paar Artikel in Online-Medien nach sich gezogen, die ich jetzt ergoogeln könnte. Zwanzig Jahre später hätte es vermutlich schon so viel Social-Media-Buzz erzeugt, dass man die Entwicklungen auch in einer fernen Zukunft noch minutengenau nachvollziehen könnte — oder halt beim Nachlesen genauso ahnungslos ist, als wäre man selbst dabei. Und in dieser Woche wäre es nicht unter einem “Brennpunkt” und einer Solidaritätsadresse mindestens eines ausländischen Spitzenpolitikers auf Twitter passiert. Der örtliche Polizeipressesprecher hätte sich auch andere Fragen anhören müssen.

***

Schon seit einigen Jahren erwähnt Barack Obama, wenn er wieder mal mit zitternder Unterlippe ein Statement zu einer Massenschießerei in den USA abgeben muss, dass er bereits zu viele Statements zu einer Massenschießerei in den USA abgegeben habe.

Nun bin ich – Gott sei Dank – nicht der US-Präsident und glaube auch nicht, dass es irgendwelche größeren Auswirkungen hat, wenn ich hier meine Meinungen zu Medienberichten nach schrecklichen Ereignissen veröffentliche, aber auch ich habe schon viel zu oft meine Meinung zu Medienberichten nach schrecklichen Ereignissen veröffentlicht:

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Lucky & Fred: Episode 12

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Bei einer Packung belgischer Zuckerwaffeln besprechen Lucky & Fred die Themen der vergangenen Wochen. Es geht um eingewanderte Extremisten, Live-Journalismus, die Panama Papers und die Frage, warum die Türkei der legitime Nachfolger von Edmund Stoiber ist. Dann gilt es wieder Abschied zu nehmen von Verstorbenen und die beiden verraten vorab ihre letzten Worte.

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In memoriam Hellmuth Karasek

Meine erste Begegnung mit Professor Karasek liegt fast exakt zwanzig Jahre zurück: Mein Vater hatte mich zu einer Veranstaltung mitgenommen, wo Karasek sein Buch “Mein Kino” vorstellte und mit immer noch glühenden Augen Namen wie Alfred Hitchcock, Billy Wilder oder Marlene Dietrich referierte, von denen ich überwiegend noch nie gehört hatte. Ich hatte damals noch nichts anderes als Zeichentrickfilme und Familienkomödien aus Hollywood gesehen.

Drei Jahre später las ich seine Billy-Wilder-Biographie, die mich zu einem glühenden Verehrer der beiden machte: Wilder wegen seiner Filme und seines Humors, Karasek wegen seiner Fähigkeit, so zu schreiben, dass man beim Lesen immer seine etwas quietschige Stimme zu hören glaubte. Die Lesung von “Das Magazin”, zu der mich meine Eltern mitnahmen, habe ich nur besucht, um mir das Wilder-Buch signieren und mit ihm kurz über “Eins, Zwei, Drei” fachsimpeln zu können. (Was man mit 15 auf dem Dorf halt so macht.) Es war dann jetzt leider auch unsere letzte Begegnung.

Für Lukas, viel Spaß! Herzlich, Hellmuth Karasek

Karaseks Buch “Karambolagen”, in dem er seine Begegnungen mit berühmten Zeitgenossen beschreibt (natürlich auch mit Wilder), wird eines Tages Vorbild für meine Textsammlung zum selben Thema sein. Hellmuth Karasek bekommt dann sein eigenes Kapitel.

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“Sein” oder nicht “sein”

Am 21. August wurde die ehemalige Soldatin Chelsea Manning, die der Whistleblower-Plattform Wikileaks geheime Dokumente zugespielt hatte, von einem US-Militärgericht zu 35 Jahren Haft verurteilt.

Wobei: Das stimmt so nicht. Damals hieß Chelsea in der Öffentlichkeit noch Bradley Manning und galt als Mann. Erst einen Tag später ließ sie ein Statement veröffentlichen, in dem es hieß:

As I transition into this next phase of my life, I want everyone to know the real me. I am Chelsea Manning. I am a female. Given the way that I feel, and have felt since childhood, I want to begin hormone therapy as soon as possible. I hope that you will support me in this transition. I also request that, starting today, you refer to me by my new name and use the feminine pronoun (except in official mail to the confinement facility).

Wer gleichermaßen aufgeklärt wie naiv ist, hätte annehmen können, dass das Thema damit schnell beendet war: Chelsea Manning ist eine Frau, die in einem männlichen Körper geboren wurde und einen männlichen Vornamen getragen hat, jetzt aber explizit darum bittet, mit ihrem weiblichen Vornamen bezeichnet zu werden.

Die “New York Times” erklärte dann auch in einem Blogeintrag, möglichst schnell den Namen Chelsea Manning und die weiblichen Pronomina verwenden und zum besseren Verständnis für die Leser auf die Umstände dieser Namensänderung zu verweisen. Der “Guardian” legte den Schalter von “Bradley” auf “Chelsea” um und schrieb fürderhin nur noch von “ihr”.

Aber so einfach war das alles natürlich nicht.

Die “Berliner Zeitung” fasste das vermeintliche Dilemma am 24. August eindrucksvoll zusammen:

Bradley Manning möchte fortan als Frau leben und Chelsea genannt werden. […] Der 25 Jahre alte Soldat ließ erklären, er habe sich seit seiner Kindheit so gefühlt. Von nun an wolle er nur noch mit seinem neuen Namen angesprochen werden. Auch solle künftig ausschließlich das weibliche Pronomen “sie” verwendet werden, wenn über Manning gesprochen werde. Eine operative Geschlechtsumwandlung strebt Manning zunächst wohl nicht an.

Mit diesem Wunsch hat Manning, der gut 700000 Geheimdokumente an die Enthüllungsplattform Wikileaks weitergab, Journalisten in den USA verwirrt und vor große Herausforderungen gestellt. In den Meldungen über Mannings Erklärung war einmal von “ihm” die Rede, dann wieder von Bradley Manning, “die” nun eine Frau sein wolle. Die einen vermieden es peinlich, Personalpronomen zu verwenden. Die anderen erklärten, sie würden solange von “ihm” sprechen, wie Manning aussehe wie ein Mann.

Wie es die “Berliner Zeitung” selbst hält, wurde in den folgenden Wochen deutlich:

5. September:

Die von Matthew H. 2009 besuchte Veranstaltung des Chaos Computer Clubs war immerhin öffentlich. Sein Anteil an der Verurteilung des Whistleblowers Bradley Manning ist unklar. Und auch wenn der Umgang mit Manning nicht unseren Vorstellungen entspricht: Er hat militärische Geheimnisse verraten. Das ist auch deutschen Soldaten verboten.

6. September:

Wie in letzter Zeit in Berlin häufiger der Fall, stehen mal wieder leere Stühle auf der Bühne, diesmal nicht für den mit Ausreiseverbot belegten Filmemacher Jafar Panahi, sondern für Edward Snowden und Bradley Manning, die Ulrich Schreiber gern dabeigehabt hätte. Leider sind sie aus bekannten Gründen verhindert.

Bei der “Süddeutschen Zeitung” gibt es offenbar auch keine Empfehlungen und Richtlinien wie bei der “New York Times” — und noch nicht mal eine klare Linie. Am 2. September schrieb die “SZ”:

Auf Transparenten fordern die Teilnehmer, dass US-Präsident Barack Obama seinen Friedensnobelpreis an die Geheimdaten-Enthüller Chelsea Manning und Edward Snowden abtreten solle.

Und eine Woche später:

Anders gefragt: Hätten amerikanische Dienste eine solche Anfrage zugelassen, wenn ein deutscher Dienst sich um Hintergründe zum Treiben eines bekannten amerikanischen Journalisten interessiert hätte? Da können, trotz aller Narreteien und Verhärtungen der amerikanischen Politik im Kampf gegen Whistleblower wie Bradley Manning oder Edward Snowden amerikanische Behörden empfindsam reagieren.

Am 7. Oktober nun wieder:

Schließlich, so schreiben einige, sei er ein Visionär, gleichzusetzen mit der Wikileaks-Informantin Chelsea Manning oder dem NSA-Whistleblower Edward Snowden .

“Bild” hatte in ganz wenigen Zeilen klargemacht, wie wenig sich die Redaktion um die Bitte von Chelsea Manning schert: In ihren “Fragen der Woche” am 24. August fragte die Boulevardzeitung “Kommt Manning in den Frauenknast?” und antwortete:

Nein! Obwohl der zu 35 Jahren Gefängnis verurteilte Wikileaks-Informant Bradley Manning (25) ab sofort als Frau namens Chelsea leben und sich einer Hormonbehandlung unterziehen will (BILD berichtete), kam er in das Männergefängnis Fort Leavenworth (US-Staat Kansas). Ein Armeesprecher sagte, dass dort weder Hormontherapien noch chirurgische Eingriffe zur Geschlechtsumwandlung bezahlt werden.

Der Unterschied zum “Spiegel” ist da allerdings marginal:

Manning fühlt sich schon länger als Frau, nach seiner Verurteilung will er auch so leben. […] Am Mittwoch verurteilte ihn ein Militärgericht dafür zu 35 Jahren Gefängnis, abzusitzen in Fort Leavenworth, Kansas. Zwar kann Manning auf vorzeitige Entlassung hoffen – doch bis dahin steht ihm eine harte Zeit bevor: Seine Mitinsassen sind ausnahmslos Männer, eine Verlegung in ein Frauengefängnis ist nicht geplant.

Die Deutsche Presse-Agentur tat sich anfangs noch schwer mit dem Geschlecht. Am 4. September schrieb die dpa:

Die Mission des angeblichen US-Agenten soll dem Bericht zufolge öffentlich geworden sein, nachdem er im Juni dieses Jahres als Zeuge im Prozess gegen den Whistleblower Bradley Manning vor einem amerikanischen Militärgericht in Maryland aufgetreten sei. Manning wurde später zu 35 Jahren Haft verurteilt, weil er WikiLeaks rund 800.000 Geheimdokumente übergeben hatte. Der Ex-Soldat war eine Art Zeuge der Anklage der Militärstaatsanwälte.

Im Rahmen ihrer Berichterstattung zum Friedensnobelpreis letzte Woche schrieb die dpa dann:

Unter den bekannten Kandidaten in diesem Jahr ist auch Chelsea Manning (früher Bradley Manning). Dem einstigen US-Whistleblower räumt der Prio-Direktor aber wenig Chancen ein. “Es gibt keinen Zweifel, dass die Enthüllungen sehr zur internationalen Debatte über Überwachung beigetragen haben”, sagt Harpviken. Ethisch und moralisch reflektiere Manning aber zu wenig, was sie getan habe.

Tatsächlich hatte die Agentur in der Zwischenzeit die Entscheidung getroffen, zukünftig immer von “Wikileaks-Informantin Chelsea Manning” zu schreiben und im weiteren Textverlauf möglichst schnell zu erklären, dass Chelsea als Bradley Manning vor Gericht gestanden habe. Wie mir ihr Sprecher Christian Röwekamp auf Anfrage erklärte, hat die dpa nach Abstimmung mit anderen Agenturen am 6. September eine entsprechende Protokollnotiz in ihr Regelwerk “dpa-Kompass” aufgenommen, in dem sonst etwa die Schreibweisen bestimmter Wörter geregelt werden.

Der Evangelische Pressdienst epd war da offenbar nicht dabei. Er schrieb am 11. Oktober:

Gute Chancen auf den Friedensnobelpreis wurden auch dem früheren US-Präsidenten Bill Clinton, dem WikiLeaks-Informanten Bradley Manning und der afghanischen Menschenrechtlerin Sima Samar eingeräumt.

Wie einfach es eigentlich geht, hatte die “FAZ” am 9. September bewiesen:

Der Umgang mit Chelsea (vormals Bradley) Manning, die Causa Snowden mit transatlantischer Sippenhaft gegen ihn unterstützende Journalisten und der Umgang mit den Geheimdienst- und Militär-Whistleblowern insgesamt zeigt überdeutlich, welch unkontrollierte Macht der “deep state” der Dienste mittlerweile hat und wie unberührt von öffentlichem Protest er agiert.

Am 5. Oktober schrieb die “FAZ” dann allerdings wieder:

Ohne die von Bradley Manning an die Enthüllungsplattform Wikileaks gelieferten geheimen Regierungsdokumente hätte Mazzetti manche Zusammenhänge nicht rekonstruieren können.

Nun zählen die Themenfelder Transgender und Transsexualität im Jahr 2013 immer noch zu den etwas außergewöhnlicheren, sind aber zumindest immer mal wieder in Sichtweite des Mainstreams. Balian Buschbaum etwa, der als Yvonne Buschbaum eine erfolgreiche Stabhochspringerin war, ist häufiger in Talkshows zu Gast und wird dort mehr oder weniger augenzwinkernd angelanzt, wie das denn jetzt so sei mit einem … hihi: Penis. Der Amerikaner Thomas Beatie durfte als “schwangerer Mann” die Kuriositätenkabinette der Boulevardmedien füllen. Mina Caputo wurde mal Keith genannt und war als Sänger von Life Of Agony bekannt und Laura Jane Grace von der Band Against Me! begann ihre Karriere als Tom Gabel — was die Komiker von “Spiegel Online” seinerzeit zu der pietätvollen Überschrift “Gabel unterm Messer” inspiriert hatte.

Viele haben in ihrem Bekanntenkreis keine Transmenschen (oder wissen nichts davon) und wissen nicht, wie sie mit einem umgehen sollten. Für Journalisten, die aus der Ferne über sie schreiben, ist es aber meines Erachtens erst einmal naheliegend, die Namen und Personalpronomina zu verwenden, die sich die betreffenden Personen erbeten haben. Und Chelsea Manning hat dies explizit getan.

In vergleichsweise alltäglichen Situationen scheinen Journalisten übrigens weniger überfordert: Muhammad Ali und Kareem Abdul-Jabbar waren schon bekannte Sportler, als sie zum Islam konvertierten und ihre neuen Namen annahmen. Durch Eheschließungen und -scheidungen wechselten Schauspielerinnen wie Robin Wright, Politikerinnen wie Kristina Schröder und Schmuckdesignerinnen wie Alessandra Pocher ihre Namen und die Presse zog mit. Und der Fernsehmoderator Max Moor hieß bis zum Frühjahr dieses Jahres Dieter, was – nach einem kurzen Moment des Naserümpfens und Drüberlustigmachens – inzwischen auch keinen mehr interessiert.

Hoffentlich braucht es weniger als 35 Jahre, bis Chelsea Mannings Bitte von den deutschen Medien erhört wird.

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Journalisten im Backwahn

Neulich war ich auf einer Journalistentagung. Ich konnte das vor mir selbst rechtfertigen, indem ich auf dem Podium sagte, dass ich keine Journalistentagungen (und keine Bloggertreffen) mag. Die anwesenden Journalisten waren anschließend so nett, mir noch einmal zu erklären, warum das eigentlich so ist.

Ich saß im Publikum einer Diskussion über das Urheberrecht, die ganz außergewöhnlich kuschelig zu werden drohte, weil niemand, der vorher irgendwelche Aufrufe zur Rettung des Urheberrechts (vor wem auch immer) unterzeichnet hatte, an der Diskussion teilnehmen wollte. (Oder konnte — vielleicht fand zeitgleich das Jahrestreffen der Offene-Briefe-zur-Rettung-des-Urhebberrechts-Unterzeichner statt, wer weiß schon, was Menschen, die offene Briefe unterzeichnen, so in ihrer Freizeit machen.)

JEDENFALLS: Ein Vertreter der Piratenpartei erklärte gerade, dass es ja durchaus viele Menschen gebe, die für Inhalte zahlen würden, diese Bezahlung in vielen Fällen aber unmöglich sei. Die populäre Fernsehserie “Game Of Thrones” etwa werde vom Sender HBO ausschließlich über ihren Bezahlkabelkanal vertrieben und ein Jahr nach Ausstrahlung der Staffel auf DVD veröffentlicht. Wer die Serie zeitnah sehen wolle (etwa, um im Freundeskreis mitreden zu können), werde quasi in die Illegalität gezwungen, selbst wenn er eigentlich bereit wäre, gutes Geld für einen legalen Zugang zu zahlen.

Tatsächlich ist diese HBO/”Game of Thrones”-Geschichte ein bemerkenswerter Fall, denn eine neue Zugangsmöglichkeit zu den HBO-Serien würde das eigentliche Geschäftsmodell des Senders, den Absatz seiner Kabelpakete, gefährden. Statt dieses Risiko einzugehen, nimmt HBO die weltweite Verbreitung der Serie durch Dritte einigermaßen billigend in Kauf — und hofft offenbar darauf, dass die Fans dann schon noch anschließend die DVDs kaufen werden.

Über all das wurde bei der Podiumsdiskussion nicht gesprochen, denn es erhob sich ein Mann (wie ich annehmen muss: ein Journalist) im Publikum und fing lautstark zu schimpfen an: Wo wir denn da hinkämen, wenn der Konsument plötzlich bestimmen würde, auf welchem Weg und zu welchen Konditionen er das Produkt geliefert bekomme?! Wenn der Sender die Serie nicht anders verkaufen wolle, müsse man halt warten. Man würde ja auch nicht beim Bäcker sagen: “Du willst zwanzig Cent für die Brötchen, aber ich geb’ Dir nur zehn!” (Ich kann mich nicht an den genauen Wortlaut erinnern, aber die Brötchenpreise waren definitiv nicht zeitgemäß.)

Mal davon ab, dass seine Wortmeldung vergleichsweise weit am eigentlichen Punkt vorbeiging und ich ob seines Geschreis ganz dringend aus dem Veranstaltungsraum fliehen musste, blieb mir der Mann im Gedächtnis.

Was, so dachte ich, muss bei einem Autor falsch gelaufen sein, damit er seine Texte mit Brötchen vergleicht?

Gestern dann verfolgte ich im Internet eine weitere Podiumsdiskussion und wieder fing irgendein Chefredakteur an, von Brötchen zu reden. Da dämmerte mir: So wird das nichts mehr mit dem Journalismus in Deutschland.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das Backhandwerk ist ein ehrenwertes Gewerbe, vor dem ich – wie vor allen Handwerken – größten Respekt haben. Wer möchte schon mitten in der Nacht aufstehen, um Mehlstaub einzuatmen und seine Hände in eine klebrige Masse zu drücken? Darüber hinaus ist es eine hohe Kunst: Es ist außerhalb Deutschlands nahezu unmöglich, ein gescheites Brot zu finden, und wirklich gute Brötchen findet man nirgendwo mehr, seit die Bäckerei Hallen in Dinslaken ihre Pforten hat schließen müssen.

Damit wir uns des weiteren nicht falsch verstehen: Auch ich möchte für meine Arbeit, in diesem Fall das Erstellen von Texten und lustigen Videos, angemessen entlohnt werden.

ABER: Meine Texte sind keine Brötchen! Niemandes Texte sind das!

Text und Brötchen im Direktvergleich (Symbolfoto).
Werden oft verwechselt: Text (links, über den Eurovision Song Contest in Baku) und Brötchen (rechts, mit Kürbiskernen).

Zwar scheinen manche Journalisten und die meisten Verleger überzeugt, dass ihre Texte für die Menschheit so wichtig sind wie das tägliche Brot, aber das macht sie noch nicht zur Backware.

Man könnte das natürlich durchspielen und augenzwinkernd feststellen, dass die Leute anscheinend auf Marie-Antoinette gehört haben und jetzt einfach Kuchen essen statt Brot. Dafür müsste man sich noch überlegen, was in dieser Metapher jetzt der Kuchen wäre (Blogs? Google?), aber das Bild würde mit jedem Gedanken schiefer. Texte sind keine Brötchen!

Texte werden nicht gebacken, man kann sie nicht nach fünf Tagen kleinhobeln und mit ihnen Schnitzel panieren und vor allem werden Texte nicht an Leser verkauft, sondern an Verleger. (Dass die dann sagen, sie würden gerne aber nur die Hälfte des Preises zahlen wollen, ist das eigentliche Problem für die Journalisten.)

Das ganze Themenfeld “geistiges Eigentum” ist vermint mit hinkenden Vergleichen, aus dem Boden von Fässern herausgeschlagenen Kronen, verunfallten Metaphern, falschen oder wenigstens überholten Annahmen und unglücklichen Begriffen. Ja, “geistiges Eigentum” ist schon ein solcher unglücklicher Begriff, weil der Geist ja eben so erfrischend unkörperlich ist. Das überfordert viele Vorstellungskräfte, weswegen die Katholische Kirche den Heiligen Geist kurzerhand in eine Taube gepackt hat. Das ist auch nur ein Bild, liebe Journalisten (wenn auch weit weniger bescheuert als gebackene Texte): Wenn Euch eine Taube auf den Kopf kackt, ist das in den seltensten Fällen ein Zeichen Gottes.

Wir können über alles diskutieren (ach, das tut Ihr ja schon seit 15 Jahren): über die Möglichkeit, einzelne Texte zu bezahlen; darüber, dass die Werbekunden ins Internet abwandern; über die schlechten Arbeitsbedingungen von Journalisten und die teils ekligen Verträge, die ihnen die Verlage vorlegen; darüber, dass guter Journalismus natürlich bezahlt werden muss, und über vieles mehr.

Aber wenn Menschen, die ausschließlich von der Kraft ihrer Gedanken leben, Texte mit Brötchen vergleichen, dann sehe ich für alle weiteren Gesprächsansätze ausgesprochen schwarz.

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Stichwort Justizverdrossenheit

Zum Urteil, das das Landgericht Frankfurt heute im Fall des Kindesentführers und -mörders Magnus Gäfgen gefällt hat (und bei dem Gäfgen zu 80% “verloren” hat), ist im Laufe des Tages schon viel Unsinn geschrieben worden.

Dümmer als der letzte Absatz im Kommentar von Christian Denso bei “Zeit Online” dürfte es unter Einhaltung der Naturgesetze aber nicht mehr werden:

Doch selbst wenn Magnus Gäfgen nach der neuerlichen Entscheidung endlich Ruhe geben sollte: Das Urteil des Frankfurter Landgerichts reiht sich ein in eine beunruhigende Serie von Richter-Entscheidungen “im Namen des Volkes”, die zwar Recht darstellen mögen, aber von diesem Volk zu großen Teilen nicht verstanden werden. Sei es im Fall der Sicherungsverwahrung von Sexualstraftätern, bei Entscheidungen, Jungkriminelle nicht in Untersuchungshaft zu nehmen oder eben bei den Rechten, die auch einem Kindsmörder zugestanden werden müssen. Eine Rechtsprechung, die nur Juristen nachvollziehen können, bewegt sich auf unheilvollem Weg.

Das Volk versteht also nicht, was es mit Grund- und Menschenrechten auf sich hat. Hmmm, wer könnte es dem Volk denn erklären? Man bräuchte Menschen, die Texte schreiben, die dann vom Volk gelesen werden. Texte, die sauber recherchiert wurden und alle Fakten und Positionen abbilden, ohne dabei in Populismus zu verfallen. Die Autoren dieser Texte bräuchten noch eine Berufsbezeichnung — wie wäre es mit “Journalisten”?

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Der blonde Teufel von Seite 1

Der Fußballweltverband FIFA steht nicht gerade in dem Verdacht, ein Ort zu sein, an dem logische und rationale Entscheidungen gefällt werden. Doch die FIFA hat ihren eigenen Fernsehleuten, die etwa die Liveübertragungen von Fußballweltmeisterschaften durchführen, die Anweisung gegeben, mögliche Störer im Stadion nicht im Bild zu zeigen. Was auf den ersten Blick nur wie die Wahrung einer Heile-Welt-Fassade aussieht, ist in Wahrheit viel logischer begründet: Störer wollen Öffentlichkeit, also gilt es, diese Öffentlichkeit zu vermeiden. Von dem (komplett bekleideten) “Flitzer” beim letztjährigen WM-Finale war also in der offiziellen FIFA-Übertragung fast nichts zu sehen — erst die Medien berichteten hinterher, dass es sich um jenen Spanier handelte, der schon beim Eurovision Song Contest in Oslo die Bühne gestürmt hatte, und boten dem Mann damit die Bühne, die er mit seinen Aktionen sucht.

Jedes Mal, wenn irgendwo in der Welt ein Schüler Amok läuft, überbieten sich die Medien darin, dem feigen, armseligen Täter das Denkmal zu errichten, das er mit seiner Tat errichten wollte. Wenn es Fotos gibt, die den späteren Täter mit Trenchcoat, Sonnenbrille und Pistole zeigen, dann kommt das auf die Titelseiten der Zeitungen. Und mithilfe möglicher Profilseiten in sozialen Netzwerken wird eine Exegese betrieben, die jeweils nur einen Schluss zulässt: Man hätte es kommen sehen müssen.

Jetzt also dieser Mann, der in Oslo eine Bombe gezündet und auf Utøya ein Blutbad angerichtet hat. Er hat – anders als die allermeisten Amokläufer – nach seiner Tat keinen Selbstmord begangen, sondern sich festnehmen lassen. Seine Verhaftung solle den Beginn einer “Propagandaphase” markieren, hat er geschrieben. Er hat nicht nur Videobotschaften oder wirre Artikel vorbereitet, er ist auch noch selbst da, um zu sprechen — und er will sprechen, das ist klar. Damit erinnert er ein wenig an John Wilkes Booth, der auf die Bühne sprang, nachdem er Abraham Lincoln in einem Theater erschossen hatte. Der Täter aus Norwegen sucht eine Bühne und die Medien stellen sie ihm zur Verfügung.

Keine deutsche Boulevardzeitung kam am Montag ohne ein Foto des Mannes aus, den sie wahlweise als “Mord-Maschine” (“Berliner Kurier”), “Bestie” (“Express”) oder “Teufel” (“tz”, “Bild”) bezeichneten. Blätter wie die “Hamburger Morgenpost” oder die “Abendzeitung” taten ihm den Gefallen und zeigten ihn in Kampfmontur, mit Waffe im Anschlag. Ein Bild wie aus einer Werbeanzeige für jene Computerspiele, die von den gleichen Medien dann gerne “Killerspiele” genannt werden.

Medien wie “Spiegel Online” griffen dankbar die Brocken auf, die ihnen der Täter bei Facebook, YouTube und in irgendwelchen zwielichtigen Webforen hingeworfen hatte, und bastelten sich aus diesen Informationen halbgare Psychogramme. Nicht einmal Lady Gaga schafft es, dass die Medien exakt so über sie berichten, wie sie sich das wünscht, doch dem Täter vom Freitag ist genau das gelungen. So wie Detective David Mills in “Sieben” am Ende den perfiden Plan des Killers vollendet, erweisen sich die Journalisten jetzt als willfährige Erfüllungsgehilfen einer Propaganda, die sie selbst als geisteskrank brandmarken.

Es muss schon einiges falsch gelaufen sein, wenn die Stimme der Vernunft ausgerechnet aus dem Körper von Franz Josef Wagner spricht:

Ich glaube, die höchste Strafe für den Attentäter wäre die Bedeutungslosigkeit. Nicht mehr über ihn zu berichten, seine Fotos nicht mehr zu zeigen, seine wirren Ideen nicht mehr im Internet zu lesen.

Dieser Typ will ja, dass alle Welt über seine Morde berichtet. Die Höchststrafe für diesen Psycho ist, dass er ein kleines Arschloch ist.

(Wagners Worte erschienen natürlich in einer Zeitung, die dieses “kleine Arschloch” heute vier Mal zeigt, davon einmal groß auf der Titelseite. Und einen Tag, nachdem Wagner seine “Post” an den Täter adressiert hatte.)

Der Täter hat darüber hinaus ein “Manifest” von 1.516 Seiten verfasst. Es dürfte (wie die meisten “Manifeste” dieser Art) eine eher freudlose Lektüre abgeben. Und es stellt die potentiellen Leser (also mutmaßlich vor allem Journalisten) vor die Frage, wie sie mit der Ideologie des Täters umgehen sollen.

Möglichkeit Eins ist der Klassiker, der bereits in vollem Gange ist: Die Dämonisierung. Menschen, die Jugendliche in einem Ferienlager erschießen, kleine Kinder missbrauchen oder die Eroberung Europas und die Auslöschung aller Juden planen, sind eine enorme Herausforderung für das menschliche Gehirn. Einfacher wird es, wenn die Tat von einer “Bestie” oder einer “Mord-Maschine” verübt wird — dann kann man sich im Lehnstuhl zurück lehnen und das Grauen beobachten wie eine Naturkatastrophe. Solange wir die Deutungshoheit darüber haben, wer Mensch ist und wer nicht, haben wir zumindest ein minimales Restgefühl von Kontrolle. Deswegen ist es so verlockend, Täter in außermenschliche Kategorien einzusortieren.

Möglichkeit Zwei wäre die inhaltliche Auseinandersetzung. Sie ist technisch (im Sinne von “in den meisten menschlichen Gehirnen”) unmöglich, weil sie von einer eingebauten Moralsperre blockiert wird. Das theoretische Gerede vom “Kulturmarxismus” (aktuell) oder der “Judenrasse” (historisch) taugt nicht mal als Arbeitshypothese, die man argumentativ widerlegen könnte, weil es praktisch zur Legitimation von Taten herangezogen wurde, die jeder Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, verurteilen muss.

Muss man das “Manifest” also lesen und besprechen? Dafür spräche, dass der Täter darin recht weit verbreitete Ängste aufgreift, etwa vor einer “Überfremdung” und einem “Identitätsverlust”. Es sind die gleichen Ängste, die auch von islamophoben Hassblogs bedient werden, die mit Stimmungen und falschen Fakten hantieren, oder von Politikern verschiedener Parteien. Deswegen werden jetzt Logikketten geknüpft, die Thilo Sarrazin, Henryk M. Broder und andere Lautsprecher in einen direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem norwegischen Massenmörder setzen. Das ist ungefähr so billig wie die Argumentationsweise der Gegenseite, die eine direkte Linie vom Koran zum islamistischen Terror ziehen will. Dabei ist Broder nur ein Borderline-Komiker, der sich auch die rechte Hand abhacken würde für eine billige Pointe, ein bisschen Applaus und viel Aufruhr.

Gegen die ausführliche Exegese des Manifests spricht, dass es nie jemand gelesen hätte, wenn sein Autor nicht durch ein die Vorstellungskraft herausforderndes Verbrechen darauf aufmerksam gemacht hätte. Es ist ein perverser PR-Plan eines offensichtlich kranken Mannes und die Medien tun alles, um diesen Plan aufgehen zu lassen.

Die Medienberichterstattung, die sich nach Verbrechen so häufig auf die Täter konzentriert, mag eine kathartische Wirkung haben. Wir fühlen uns besser, wenn wir den immer freundlichen Nachbarn und Sachbearbeiter, der einen kleinen Jungen missbraucht und getötet hat, anschließend als “Schwein” bezeichnen, und vielleicht glauben Journalisten tatsächlich, dass es irgendetwas ändern oder irgendwie helfen kann, ihn in einem unscharfen Foto für jeden erkennbar auf der Titelseite zu zeigen. Doch es ist vor allem ein Ausdruck von Hilflosigkeit (die völlig okay ist, sich nur vielleicht nicht unbedingt in Zeitungstitelseiten niederschlagen sollte) — und im Fall von wahnhaften Massenmördern ist es sogar eine Form von Mittäterschaft.

Ich glaube, heute muss ich Franz Josef Wagner einfach mal vollumfänglich zustimmen.

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Betr.: Norwegen, Amy Winehouse

Wenn ich hier aufschriebe, was ich in den letzten 48 Stunden am liebsten mit einer Vielzahl Journalisten angestellt hätte, würde man mich als “Hassblogger” bezeichnen. Vermutlich nicht ganz zu unrecht.

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Journalisten

Ich zucke immer zusammen, wenn ich als “Journalist” vorgestellt werde. Das hat wenig mit dem behaupteten Kulturkampf “Blogger vs. Journalisten” zu tun (ich zucke auch zusammen, wenn ich als “Blogger” vorgestellt werde) und viel mit dem, was in Deutschland für Journalismus gehalten wird.

“Journalist” ist keine geschützte Berufsbezeichnung, anders als zum Beispiel “Tierarzt”. Metzger, Wilderer und Automechaniker betreiben nachweislich keine Veterinärmedizin, das Werk von Volksverhetzern, Leichenfledderern und sonstigem charakterlosen Pack kann aber ohne weiteres als “Journalismus” bezeichnet werden.

Deshalb wird Paul Ronzheimer, 25-jähriger “Bild”-Redakteur, der auch gerne schon mal “den Pleite-Griechen die Drachmen zurück” gibt, mit dem Herbert-Quandt-Medien-Preis (immerhin benannt nach einem anderen großen Menschenfreund und Wohltäter) ausgezeichnet.

Und deshalb werden Druckerzeugnisse wie “Bild”, “Focus” oder “Bunte” auch von seriösen Journalisten (die es natürlich, um Himmels Willen, auch gibt und die gut daran täten, die Bezeichnung “Journalist” zu verteidigen) als Journalismus angesehen, obwohl es in der restlichen zivilisierten Welt eher unüblich ist, Boulevardjournalismus als Journalismus wahr- oder auch nur ernstzunehmen.

Jörg Kachelmann hat der “Zeit” ein langes Interview gegeben und auch wenn die Interviewerin Sabine Rückert selbst jetzt nicht gerade als strahlendes Beispiel für ordentlichen Journalismus bezeichnet werden kann, ist es ein beeindruckendes Dokument.

Kachelmann sagt darin unter anderem:

Ich bin sicher, dass die Boulevardmedien überall U-Boote haben. In allen wichtigen Organisationen haben die einen sitzen, damit er mal kurz in den Computer guckt. Wenn ich in einer Maschine unterwegs war, die nicht zu den Fluglinien des Firmenverbundes Star Alliance gehört, hat mich nie ein Paparazzo am Flugplatz erwartet.

Das lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder, der Mann ist verrückt (geworden), oder dieses Land ist sehr viel upgefuckter, als man sich das als Bürger gemeinhin vorstellen würde.

Das Internetportal “Meedia”, dessen Chefredakteur es als “elementarste Aufgabe” der Medien ansah, “das Doppelleben des netten Herrn Kachelmann zu enthüllen”, und der es als “rufschädigend für den Journalismus” bezeichnet hatte, den medialen Irrsinn in Sachen Kachelmann zu hinterfragen, dieses Internetportal jedenfalls schreibt heute über das Interview:

Schwenn habe nicht gebrüllt oder auf den Richtertisch gehauen, wie die Bild berichtet hat. Es ist nicht nur diese Stelle des Interviews, die den Eindruck erweckt, Kachelmann habe seit dem Prozess womöglich eine etwas verschobene Wahrnehmung der Realität. Zwar hat Schwenn tatsächlich nicht gebrüllt, aber seine Art und Weise im Gericht vorzugehen kann jeder, der anwesend wahr nur als offene Provokation empfunden haben.

Kachelmann sagt, Schwenn habe nicht gebrüllt, und Schwenn hat nicht gebrüllt, aber Kachelmann hat eine “etwas verschobene Wahrnehmung der Realität”? Was hat dann Stefan Winterbauer, Autor dieser Zeilen? (Außer vielleicht “den Schuss nicht gehört”.)