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What Difference Does It Make?

Ich zeig Euch Individualität!

Als ich 16 Jah­re alt war, stand ich vor einem mora­li­schen Dilem­ma: WDR 2 hat­te ange­kün­digt, ein Kon­zert mei­ner Lieb­lings­band Ben Folds Five aus­zu­strah­len. Einer­seits freu­te ich mich dar­über, die Band mal „live“ zu hören, ((Ja, lie­be Kin­der, damals hat­ten wir noch kein You­Tube und Live-Mit­schnit­te von Kon­zer­ten waren sel­te­ne Samm­ler­stü­cke.)) ande­rer­seits dach­te ich, damit sei die Band end­gül­tig im Main­stream ange­kom­men. ((Ich saß damals der sel­ben Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on des Begriffs „Main­stream“ auf, die heu­te im Bezug auf die Ver­brei­tung von twit­ter die Run­de macht.)) Ich las „Solo­al­bum“ und „Tris­tesse Roya­le“, die vol­ler Arro­ganz und Distik­ti­ons­wut waren, und freu­te mich, als der deut­sche „Rol­ling Stone“ die „Drawn From Memo­ry“ von Embrace schlecht bewer­te­te, weil ich dach­te, dann wür­den weni­ger Leu­te die­se CD hören. Das alles ist lan­ge her und mein dama­li­ges Ver­hal­ten bezeich­net man ana­log zur dama­li­gen Lebens­pha­se als puber­tär.

Heu­te freue ich mich, wenn Bands, die ich schät­ze, in die Charts ein­stei­gen, weil das die Chan­ce erhöht, dass die Musi­ker von ihrer Musik auch leben kön­nen. Natür­lich ist es scha­de, Bands wie Cold­play oder die Kil­lers nicht mehr in klei­nen Clubs sehen zu kön­nen, ((Als ob ich das je hät­te.)) aber es kom­men ja fast täg­lich neue Bands für die Clubs dazu und unter einem kul­tu­rel­len Aspekt ist es doch alle­mal bes­ser, wenn die Fri­seu­rin­nen und Kin­der­gärt­ne­rin­nen, die man bei Cold­play-Kon­zer­ten arg­wöh­nisch mus­tert, eben sol­che Musik hören und nicht Sil­ber­mond.

Natür­lich gibt es auch heu­te noch Men­schen, die Bands auto­ma­tisch schei­ße fin­den, wenn sie mehr als 300 Hörer haben, ((Wer sich eine Band durch äuße­re Umstän­de ver­lei­den lässt, hat sie mei­nes Erach­tens nie wirk­lich gemocht.)) aber die nennt man dann eben „Indi­en­a­zis“ und sie müs­sen zur Stra­fe Tex­te von Jan Wig­ger, Died­rich Diede­rich­sen und Plat­ten­tests online lesen.

Das alles kam mir in den Sinn, als ich durch Zufall einen Ein­trag im Blog von Ste­fan Win­ter­bau­er auf meedia.de las:

Pro­blem: Das iPho­ne ist gewöhn­lich gewor­den.

Mitt­ler­wei­le ist das Gerät der­art weit ver­brei­tet (selbst unter Stu­den­ten!), dass es beim bes­ten Wil­len nicht mehr als Sta­tus­sym­bol her­hal­ten kann. Manch­mal muss man sich gera­de­zu schä­men. Zum Bei­spiel, wenn ein Ver­triebs-Och­se in Kurz­arm-Hemd und schril­ler Kra­wat­te im Zug ein iPho­ne zückt.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ernst der Text gemeint ist, ((Mein Iro­nie-Detek­tor ist gera­de zur Jah­res-Inspek­ti­on.)) glau­be aber, dass sich im Zwei­fels­fall genug Men­schen fän­den, die Win­ter­bau­er auch dann zustim­men wür­den, wenn er das eigent­lich irgend­wie augen­zwin­kernd gemeint hät­te.

Jetzt denkt jeder Schlips­trä­ger aus Ver­trieb und Mit­tel-Manage­ment, ein biss­chen was von Glanz und Sexy­ness des iPho­ne abha­ben zu kön­nen. No way. Das Gegen­teil ist der Fall. Dadurch, dass die­se Schnauz­bart­trä­ger, Kurz­arm­hem­den und blon­de Damen auf hohen Hocken jetzt alle ein iPho­ne haben, machen sie den Mythos kaputt.

Win­ter­bau­er sitzt da zunächst ein­mal einem weit ver­brei­te­ten Miss­ver­ständ­nis auf: Unter­wegs zu tele­fo­nie­ren – oder brei­ter gefasst: zu kom­mu­ni­zie­ren – hat nichts mit Gla­mour und Sexy­ness zu tun, son­dern mit Abhän­gig­keit oder man­geln­der Orga­ni­sa­ti­on. Wer noch auf dem Nach­hau­se­weg in der S‑Bahn mit dienst­li­chen Pro­ble­men behel­ligt wird, wäre selbst dann noch ein armes Schwein, wenn er mit einem Pla­tin­bar­ren tele­fo­nier­te, und wer aus dem Zug sei­ne Ankunfts­zeit mit­teilt, war in den meis­ten Fäl­len nur zu faul, sich vor­her eine Ver­bin­dung her­aus­zu­su­chen und dann recht­zei­tig am Bahn­hof zu sein. ((Ich weiß, wovon ich spre­che.))

Als in der letz­ten Woche das Mobil­funk­netz von T‑Mobile zusam­men­brach war ich auf­rich­tig über­rascht über die Aus­wir­kun­gen, die das auf das Leben vie­ler Men­schen zu haben schien. Mein ME 45 mit Pre­paid-Kar­te dient mir in ers­ter Linie als Uhr und Wecker, mit dem ich hin und wie­der SMSen schrei­ben kann. Und als ich fest­stell­te, dass ich nach wie vor über T‑Mobile tele­fo­nie­ren konn­te, muss­te ich 20 Minu­ten über­le­gen, wen ich eigent­lich anru­fen könn­te, um ihm die­se (völ­lig irrele­van­te) Sen­sa­ti­on mit­zu­tei­len.

Das heißt nicht, dass ich das iPho­ne an sich schlecht fän­de – ich bin ja auch von mei­nem iPod touch ziem­lich begeis­tert. Aber den mag ich, weil es ein gut durch­dach­tes und funk­tio­nie­ren­des tech­ni­sches Gerät ist, nicht wegen des ange­bis­se­nen Apfels auf der Rück­sei­te. ((Die Rück­sei­te ist übri­gens sowie­so ein Desas­ter. Der Idi­ot, der auf die Idee gekom­men ist, einen Gebrauchs­ge­gen­stand zur Hälf­te mit einer hoch­glän­zen­den Metal­lic-Ober­flä­che zu ver­se­hen, soll­te eigent­lich öffent­lich aus­ge­peitscht wer­den, bis er genau­so vie­le Strie­men auf dem Hin­tern hat wie mein iPod Krat­zer.)) Auch mein Mac­Book nut­ze ich, weil ich App­les Betriebs­sys­tem gelun­ge­ner fin­de als Win­dows, weil der Akku län­ger hält und auch – das gebe ich ger­ne zu – weil das Gerät ein­fach bes­ser aus­sieht als so ziem­li­che jeder ande­re Lap­top – aber doch nicht aus Pres­ti­ge­grün­den.

Wer glaubt, sich über sein Mobil­te­le­fon pro­fi­lie­ren und von ande­ren abgren­zen zu müs­sen, hat mög­li­cher­wei­se zu wenig Geld für den Por­sche, der von den zu klei­nen Geni­ta­li­en ablen­ken soll. Es ist mir ein Rät­sel, war­um aus­ge­rech­net ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­werk­zeug Aus­druck von Indi­vi­dua­li­tät sein soll­te. ((Wobei ein iPho­ne ja in der Regel sehr indi­vi­du­ell ist: Man kann einen Sinn­spruch ein­gra­vie­ren las­sen und Pro­gram­me und Musik nach eige­nem Wunsch dar­auf über­spie­len.)) Wer anders sein will, muss sich schon ein biss­chen mehr Mühe geben – zum Bei­spiel indem er die bei H&M gekauf­ten Motiv-T-Shirts erst mal ein Jahr in den Schrank packt, ehe er sie trägt. Sogar die Punks sahen irgend­wann alle gleich aus mit ihren Iro­ke­sen­schnit­ten und Sicher­heits­na­deln.

Und wer Men­schen bewun­dert, nur weil sie ein teu­res Spiel­zeug mit sich füh­ren, ist mög­li­cher­wei­se noch ober­fläch­li­cher als der Tech­nik-Besit­zer selbst, der einen gera­de für Schnauz­bart und Kurz­arm­hemd ver­ach­tet.

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Kinder, die Charts sind gar nicht so schlimm!

Vor genau einem Jahr hat­te das taz-Pop­b­log über die „schlech­tes­ten Charts aller Zei­ten“ berich­tet – und für­wahr: mit Schnuf­fel auf 1, 3 mal DJ Ötzi und 2 mal De Höh­ner in den Top 20 klang das tat­säch­lich eher nach der irren Phan­ta­sie eines akus­ti­schen Sadis­ten als nach irgend­was, was ent­fernt mit Musik zu tun gehabt hät­te.

Neu­lich stieß ich dann ver­se­hent­lich beim Zap­pen auf eine Viva-Sen­dung, in der fünf okay bis groß­ar­ti­ge Songs hin­ter­ein­an­der lie­fen: „Human“ von den Kil­lers, „Allein allein“ von Polar­kreis 18, „Hot N Cold“ von Katy Per­ry, „Dance With Some­bo­dy“ von Man­do Diao und „Bro­ken Strings“ von James Mor­ri­son und Nel­ly Fur­ta­do. Wie sich her­aus­stell­te, hat­te ich gera­de die Top 5 der deut­schen Sin­gle­charts gese­hen.

Die deutschen Single- und Albumcharts.

Dass all das, was mal „Indie“ war, inzwi­schen Main­stream ist, wis­sen wir spä­tes­tens seit Cold­play, My Che­mi­cal Romance und Franz Fer­di­nand. Trotz­dem war ich hoch­gra­dig über­rascht, als im ver­gan­ge­nen Herbst „Allein allein“ über Wochen Platz 1 der deut­schen Charts blo­ckier­te. Gewiss: Der Mar­ke­ting­auf­wand (Trai­ler­mu­sik für das „TV Total Turm­sprin­gen“ und „Kra­bat“, mas­si­ver Air­play bei MTVi­va) war hoch gewe­sen, hat­te sich aber offen­bar aus­ge­zahlt und aus dem eins­ti­gen Indie-Geheim­tipp Polar­kreis 18 qua­si über Nacht eine gro­ße Num­mer gemacht, die beim „Bun­des­vi­si­on Song Con­test“ prompt Platz 2 hin­ter dem unein­hol­ba­ren Peter Fox beleg­te. ((Wenn ich bei den Recher­chen nichts über­se­hen habe, war „Allein allein“ übri­gens der ers­te Num­mer-Eins-Hit einer deut­schen, aber eng­lisch­spra­chi­gen Band seit „Wind Of Chan­ge“ 1991 „Lemon Tree“ 1996 – trotz sei­nes deut­schen Titels.))

Man­do Diao schlu­gen mit „Dance With Some­bo­dy“ auf Platz 3 der deut­schen Sin­gle­charts ein und gin­gen dann auf 2, wo sie sich seit fünf Wochen hal­ten, wäh­rend ihr Album „Give Me Fire“ wie selbst­ver­ständ­lich auf Platz 1 lan­de­te. Zwar wer­den sie ver­mut­lich nächs­te Woche von U2 ver­drängt wer­den, aber mit Peter Fox, Bruce Springsteen und Mor­ris­sey sieht es auf den fol­gen­den Rän­gen auch gar nicht so schlecht aus. Lily Allen steht plötz­lich in den deut­schen Top 20, die Kil­lers schaff­ten es mit „Day & Age“ auf Platz 8 – und lagen damit zwei Plät­ze hin­ter der bes­ten Plat­zie­rung von „Sam’s Town“.

Völ­lig gro­tesk wird es, wenn man sich das Track­lis­ting der aktu­el­len „Bra­vo Hits“ ((Num­mer 64, that is.)) ansieht: Man­do Diao, The Kil­lers, Razor­light, Snow Pat­rol, Cold­play, Franz Fer­di­nand, Kings Of Leon, MGMT, Deich­kind, Ingrid Micha­el­son und Peter Fox tum­meln sich da zwi­schen Queens­ber­ry, Brit­ney Spears, The Ras­mus und Sido. ((Wun­dern Sie sich aber nicht zu stark: auf „Bra­vo Hits 52“ waren Tom­te und Wir Sind Hel­den ver­tre­ten.))

Hat die Jugend plötz­lich Musik­ge­schmack ((Also das, was wir als arro­gan­te Musik­snobs mit „Musik­ge­schmack“ gleich­set­zen: unse­ren.)) oder ist irgend­was ande­res pas­siert?

Ver­mut­lich han­delt es sich um eine Mischung aus Bei­dem: Wäh­rend sich Tei­le der Jugend Songs ent­we­der an den Zähl­wer­ken von Media Con­trol vor­bei beschafft oder als Klin­gel­ton kauft, ((Bit­te wer­fen Sie einen Blick in die Klin­gel­ton­charts, um rasch auf den har­ten Boden der Tat­sa­chen zurück­zu­keh­ren!)) kau­fen ein ande­rer Teil und vie­le älte­re Men­schen – wobei ich in die­sem Fall schon zu den „Älte­ren“ gehö­re – plötz­lich Man­do-Diao-Sin­gles bei iTu­nes und ver­schafft den Schwe­den somit mal eben einen Platz knapp hin­ter der Chart­spit­ze.

Treue Fans kau­fen nach wie vor die Alben ihrer Lieb­lings­bands (wes­we­gen Tom­te in der ers­ten Woche auf Platz 9 der Album­charts knal­len), Musik­fern­se­hen gibt es in Deutsch­land ja eh kei­nes mehr, die Haupt­ver­brei­tungs­ka­nä­le für neue Musik hei­ßen You­Tube und MySpace, zahl­rei­che eher alter­na­ti­ve Acts lau­fen im Radio rauf und run­ter, und so kommt eines zum Ande­ren und am Ende sehen die Charts eben aus, als habe jemand den Indie-Bal­ler­mann über den Top 10 aus­ge­gos­sen.

Wobei wir uns da nicht ver­tun soll­ten: Man­do Diao erschie­nen schon immer bei einem Major (frü­her EMI, jetzt Uni­ver­sal), Lily Allen hat­te schon bei einer EMI-Toch­ter unter­schrie­ben, als ihr MySpace-Hype los­ging, und von den „ech­ten“ Indie-Acts ver­kau­fen nicht mal gro­ße Namen wie …And You Will Know Us By The Trail Of Dead in Deutsch­land viel mehr als 10.000 Exem­pla­re. Das mit der Nach­wuchs­för­de­rung ist hier­zu­lan­de nach wie vor Glücks­sa­che und leben kön­nen die aller­we­nigs­ten Musi­ker von ihrer Musik allein.

Aber für den Moment kön­nen wir uns ja ein­fach mal freu­en, wenn die Charts mal nicht die schlech­tes­ten aller Zei­ten sind.

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Melodien für Melonen

In der aktu­el­len Musik­welt gibt es kaum ein wei­che­res Ziel als Cold­play. Okay: Kea­ne, Brit­ney Spears und Razor­light viel­leicht, aber bei denen (zumin­dest den bei­den letzt­ge­nann­ten) ist das ja auch berech­tigt. Die einen jam­mern, die Band sei ja „frü­her mal“ gut gewe­sen, die ande­ren regen sich dar­über auf, dass die Leu­te, die die Band „frü­her mal“ gut gefun­den hät­ten, die­se jetzt wie­der gut fän­den, wo das neue Album doch ganz klar schei­ße sei. Ihnen allen ist gemein, dass sie Cold­play vor­wer­fen, zu den zwei­ten U2 gewor­den zu sein – als wäre das schon das Schlimms­te, was einer Band pas­sie­ren kann, und nicht etwa die zwei­ten Sta­tus Quo, die zwei­ten Oce­an Colour Sce­ne oder die zwei­ten Razor­light zu sein. ((Chuck Klos­ter­man hat mal über die frü­hen Cold­play geschrie­ben, sie klän­gen wie ein mit­tel­mä­ßi­ge Kopie von Tra­vis, die wie­der­um wie eine mit­tel­mä­ßi­ge Kopie von Radio­head klän­gen. Wir sind nicht immer einer Mei­nung.))

Cold­play haben bis heu­te kein schlech­tes Album auf­ge­nom­men, dar­an ändert sich auch mit „Viva La Vida“ nichts. Zwar konn­ten sie nie mehr die durch­gän­gig hohe Qua­li­tät ihres Debüts errei­chen, dafür sind auf allen fol­gen­den Alben ein­zel­ne Songs drauf, die bes­ser sind als jeder des Debüts. ((Das hört sich nur kom­pli­ziert und wider­sprüch­lich an: Stel­len Sie sich das Debüt als durch­gän­gig 90% gut vor, wäh­rend Songs wie „The Sci­en­tist“, „In My Place“, „Fix You“ oder „Talk“ Wer­te von 93% bis 98% errei­chen, die durch 60%-Nummern wie „Speed Of Sound“ oder „God Put A Smi­le Upon Your Face“ wie­der aus­ge­gli­chen wer­den.)) Dass ihre Kon­zer­te von Fri­seu­sen und Medi­zin­stu­den­tin­nen besucht wer­den, kann man der Band auch nicht anlas­ten: als Oasis-Fan weiß man dar­über hin­aus um die mit­un­ter erschüt­tern­de Erkennt­nis, dass sehr merk­wür­di­ge Men­schen die glei­chen Bands ver­eh­ren kön­nen wie man selbst.

Zuge­ge­ben: Cold­play machen es einem nicht leicht. Nicht nur, dass sie seit Jah­ren die Welt ret­ten wol­len (s. U2), ihr neu­es Album heißt fast wie ein Ricky-Mar­tin-Song ((In Wahr­heit stammt der Titel von einem Gemäl­de von Fri­da Kahlo, das auch die humor­vol­le Über­schrift die­ses Blog-Ein­trags erklärt.)) und hat dar­über hin­aus ein völ­lig durch­ge­nu­del­tes Cover­bild: das 180 Jah­re alte „La Liber­té gui­dant le peu­ple“ von Eugè­ne Delacroix. Um Frank­reich geht’s in dem Album aber weni­ger, um Revo­lu­ti­on schon sehr viel mehr und letzt­lich auch um Roman­tik.

Aber reden wir über das ein­zi­ge, was zählt: die Musik. Mit dem instru­men­ta­len Ope­ner „Life In Tech­ni­co­lor“ haben Cold­play bei mir schon einen Bro­cken im Brett: es plu­rrt, zirpt und schep­pert, als hät­ten Angels & Air­wa­ves und Arca­de Fire einen gemein­sa­men Track von Jim­my Tam­bo­rel­lo remi­xen las­sen. Das muss an Bri­an Eno lie­gen, der das Album mit­pro­du­ziert hat. Für das gan­ze Album muss man Refe­ren­zen von Arca­de Fire über Death Cab For Cutie bis Pink Floyd, von Stars über Radio­head bis … äh: Tim­ba­land her­an­zie­hen, nach U2 klin­gen immer nur die hal­li­gen Gitar­ren. Nach Cold­play klingt dafür jeder Song, was wohl an der prä­gnan­ten Stim­me von Chris Mar­tin lie­gen dürf­te.

Melo­dien waren bei Cold­play schon immer nur in Aus­nah­me­fäl­len cat­chy ((Zum Bei­spiel, wenn sie von Kraft­werk über­nom­men waren.)), „Trou­ble“ kann man auch nach acht Jah­ren noch nicht aus dem Stand sin­gen. Inso­fern braucht das Album Zeit und mög­li­cher­wei­se auch grö­ße­re Gewit­ter oder Voll­mond­näch­te zur Unter­ma­lung. Die Song­struk­tu­ren sind kom­ple­xer gewor­den, mit­un­ter wer­den zwei Lie­der in einem Track ver­eint, was auch nur im Fall „Lovers In Japan/​Reign Of Love“ auf der offi­zi­el­len Track­list ver­merkt wird. „42“ besteht aus min­des­tens drei ver­schie­de­nen Tei­len und wirkt ein biss­chen, als hät­ten sich a‑ha „Para­no­id Android“ von Radio­head vor­ge­nom­men. ((Über­haupt a‑ha: So eini­ges auf „Viva La Vida“ erin­nert an die chro­nisch unter­schätz­te nor­we­gi­sche Band, zu deren Kon­zer­ten Fri­seu­sen und allen­falls ehe­ma­li­ge Medi­zin­stu­den­tin­nen gehen. Hören Sie sich deren letz­tes Album „Ana­lo­gue“ an – was Sie sowie­so tun soll­ten – und Sie wer­den ver­ste­hen, was ich mei­ne.))

Bei den ers­ten Hör­durch­gän­gen von „Viva La Vida“ hat­te ich das Gefühl, der Band gehe in der Mit­te die Luft aus: der Span­nungs­bo­gen fällt ab, das Gefühl, alles schon ein­mal gehört zu haben, nimmt zu. Aber dann grät­schen bei „Yes“ plötz­lich bal­ka­ni­sche Strei­cher ins Lied, ganz so, als habe man noch Chan­cen auf eine erfolg­rei­che Grand-Prix-Teil­nah­me wah­ren wol­len.

Spä­tes­tens beim Titel­track hat mich die Band dann aber wie­der: Four-To-The-Flo­or-Beats fin­de ich außer­halb ihres natür­li­chen Lebens­raums Kir­mes­tech­no fast immer gut und Stak­ka­to-Strei­cher, Glo­cken und Pau­ken haben auf mich genau die Aus­wir­kun­gen, die ihnen Edmund Bur­ke in sei­ner Ästhe­tik des Erha­be­nen zuschreibt. Für die Par­al­le­len, die die ame­ri­ka­ni­sche Band Cre­aky Boards zwi­schen „Viva La Vida“ und einem ihrer Songs erkannt haben will, bin ich hin­ge­gen taub. An „Vio­let Hill“, die Vor­ab­sin­gle, hat man sich inzwi­schen so gewöhnt, dass es nicht wei­ter stört, „Straw­ber­ry Hill“ lässt kurz vor Schluss schon mal die Füße sanft ent­schlum­mern, ehe „Death And All His Fri­ends“ und das ange­häng­te „The Esca­pist“ den Rest des Kör­pers ins Reich der Träu­me über­füh­ren.

„Viva La Vida“ ist ein gutes, wenn auch kein genia­les, Album und nach dem ufer­lo­sen Vor­gän­ger „X&Y“ mit 45 Minu­ten auch wie­der schön kom­pakt gera­ten. Ich kann mir vor­stel­len, dass man Cold­play wegen die­ses Albums has­sen kann ((Über die mit­un­ter recht gewag­ten Tex­te haben wir ja noch gar nicht gespro­chen.)), aber mir gefällt es zufäl­li­ger­wei­se. Und wenn Fri­seu­sen und Medi­zin­stu­den­tin­nen der­art anspruchs­vol­len Pop hören statt die neu­es­te DSDS-Grüt­ze, ist das doch auch schon mal was.

Coldplay - Viva La Vida (Albumcover)
Cold­play – Viva La Vida

VÖ: 13.06.2008
Label: Par­lo­pho­ne
Ver­trieb: EMI

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Blasmusik

Ges­tern spiel­ten also die Kili­ans ein „exklu­si­ves Radio­kon­zert“ in Bochum. Da mein Com­pu­ter immer noch in der Repa­ra­tur ist, kann ich gera­de nicht nach­gu­cken, wie oft ich die Band schon gese­hen habe, aber es dürf­te ges­tern so unge­fähr das fünf­zehn­te Mal gewe­sen sein.

Vor dem Kon­zert waren die Her­ren Musi­ker etwas miss­ge­stimmt, weil Orga­ni­sa­ti­on und Ablauf wohl zu wün­schen übrig­ge­las­sen hat­ten, aber schon ab dem ers­ten Akkord war alles wie­der bes­tens und sie rock­ten so unge­stüm und auf den Punkt wie eh und je.

Das alles wäre also von so gerin­gem Neu­ig­kei­ten­wert, dass nicht mal ich dar­über blog­gen wür­de. Aber die Ansa­gen von Simon den Har­tog, dem klei­nen gro­ßen Mann am Mikro­fon, waren ges­tern so exor­bi­tant unter­halt­sam, dass sie ein­fach für die Nach­welt fes­ge­hal­ten wer­den müs­sen – was Dank der Auf­zeich­nung für die Radio­aus­strah­lung auch kein Pro­blem gewe­sen sein dürf­te.

Im hin­te­ren Bereich des Kon­zert­saals, wo gleich meh­re­re Dins­la­ke­ner zusam­men­gluck­ten, macht das Wort vom „Dins­la­ken-Humor“ die Run­de – wenn wir nicht gera­de wie­hernd über den Fuß­bo­den kugel­ten. Wie, Sie fin­den „Ich muss­te dem Kav­ka sei­nen Schwanz lut­schen, damit das bei MTV gespielt wird“, als Anmo­de­ra­ti­on für „Enforce Yours­elf“ nicht brüll­ko­misch? Dann gibt es nur noch zwei Mög­lich­kei­ten: a) Sie müs­sen mehr Alko­hol trin­ken oder nach Dins­la­ken zie­hen (das kommt aufs Glei­che raus); b) Wir ver­set­zen die­ser Anek­do­te den abso­lu­ten Todes­stoß und sagen „Viel­leicht hät­te man dabei­ge­we­sen sein müs­sen.“

Not­aus­gang: Die Kili­ans und deren stän­di­ge Erwäh­nung hier gehen Ihnen auf die Ket­ten? Sie fin­den, Bands aus der deut­schen Pro­vinz dür­fen nicht klin­gen, als kämen sie aus dem eng­lisch­spra­chi­gen Aus­land? Sie glau­ben, wer Locken hat, will wie die Strokes aus­se­hen? Dann fin­den Sie hier sicher eine neue Hei­mat. Und wenn Sie sich auch noch anmel­den wol­len, bevor Sie lesen kön­nen, was die ande­ren Indi­en­a­zis so den­ken, dann ken­nen Sie das hier bestimmt eh schon.