Kategorien
Digital

Wie Barack Obama Twitter am Laufen hielt

Bei den Protesten, die derzeit im Iran stattfinden, spielt Twitter eine wichtige Rolle: Demonstranten können sich darüber koordinieren und Botschaften ins Ausland absetzen. Um diesen Kommunikationsweg aufrecht zu erhalten, hat Twitter am Montag kurzfristig seit langem für gestern geplante Wartungsarbeiten auf einen Zeitpunkt verschoben, als im Iran eh gerade Nacht war.

Gestern verbreitete Reuters die Nachricht, das US-Außenministerium habe Twitter gedrängt, die Wartungsarbeiten zu verschieben:

The U.S. State Department said on Tuesday it had contacted the social networking service Twitter to urge it to delay a planned upgrade that would have cut daytime service to Iranians who are disputing their election.

Twitter widersprach dieser Darstellung schon kurz darauf im eigenen Blog:

However, it’s important to note that the State Department does not have access to our decision making process. Nevertheless, we can both agree that the open exchange of information is a positive force in the world.

Das war heute Nacht um 00:21 Uhr deutscher Zeit.

Um 03:15 Uhr tickerte afp:

Twitter: Wartungsarbeiten nicht wegen US-Regierung verschoben

Der Kurznachrichtendienst Twitter pocht auf seine Unabhängigkeit: Die Verschiebung von Wartungsarbeiten inmitten der dramatischen Ereignisse im Iran sei nicht auf Bitten der US-Regierung erfolgt, teilte Twitter-Mitbegründer Biz Stone am Dienstag mit.

Nun weiß man natürlich nicht, ob Twitter da die Wahrheit sagt. Aber die bisherigen Fakten lauten: Das Außenministerium spricht von Kontakten, Twitter erklärt, die Entscheidung selbst getroffen zu haben.

Bei Associated Press hatte man von all dem offenbar nichts mitbekommen und so war aus der “Bitte” des Außenministeriums heute morgen um 08:36 Uhr das hier geworden:

Twitter-Wartung auf Wunsch des US-Außenministeriums verschoben

Um 11:04 ging eine weitere AP-Meldung über die Ticker, in der unter anderem stand:

Wie in Washington verlautete, intervenierte deshalb das US-Außenministerium und bat die Betreiber, die Wartung auf eine Zeit zu verschieben, wenn es im Iran Nacht ist. Twitter folgte diesem Wunsch.

Während viele Medien immerhin offen ließen, ob Twitter dem Wunsch der US-Regierung “gefolgt” sei, und “Focus Online” explizit auf Twitters Gegendarstellung verwies, waren Medien, die sich auf AP verließen, aufgeschmissen:

Wie in Washington verlautete, intervenierte deshalb das US-Außenministerium und bat die Betreiber, die Wartung auf eine Zeit zu verschieben, wenn es im Iran Nacht ist. Twitter folgte diesem Wunsch.

(Handelsblatt.com)

Angesichts der Bedeutung der Onlinemedien für die Information der Weltöffentlichkeit über die Ereignisse im Iran intervenierte das US-Außenministeriums beim Kurznachrichtendienst Twitter. Dieser verschob auf Wunsch des Außenministeriums geplante Wartungsarbeiten, wie mehrere Gewährsleute am Dienstag in Washington berichteten.

(heute.de)

Eine ganz eigene Herangehensweise fand Bild.de, wo statt Mitarbeitern des Außenministeriums gleich jemand ganz anderes mit Twitter gesprochen haben soll:

Auch der Einsatz von US-Präsident Barack Obama dürfte bei der iranischen Regierung für Missmut gesorgt haben. Obama hatte Twitter gebeten, die angesetzten Wartungsarbeiten auszusetzen, um die Kommunikation im Iran irgendwie aufrecht zu erhalten.

Mit Dank auch an Dani S.

Kategorien
Print

Hilfe! (Ambulant oder stationär)

Es ist beunruhigend, ja geradezu skandalös, was da seit gestern durch die deutsche Medienlandschaft geistert: Der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) veröffentlichte gestern seinen Prüfbericht zur Qualität in der ambulanten und stationären Pflege. Noch bevor das Papier offiziell vorgestellt wurde, hatte die “Bild”-Zeitung eine große Titelgeschichte zu dem Thema gebracht, die jetzt nicht so hunderprozentig exakt war, um es mal vorsichtig auszudrücken.

Was folgte, zeigte mal wieder, dass Journalisten einer dpa-getickerten “Bild”-Schlagzeile mehr vertrauen als ihrer eigenen Lesekompetenz, denn statt auch nur mal nachzugucken, ob die Behauptungen von “Bild” richtig sind, schrieben sie diese munter ab.

Oft kreisen die Berichte um die Behauptung von “Bild”, jeder dritte Patient bekomme nicht genug zu essen oder zu trinken.

“Spiegel Online” schreibt ab:

Der aktuelle Prüfbericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) offenbart einem Bericht der “Bild”-Zeitung zufolge skandalöse Zustände bei ambulanten Pflegediensten und in deutschen Pflegeheimen. Demnach bekommt nach diesem Bericht jeder dritte Pflegefall (Heime: 34,4 Prozent; ambulante Pflege: 29,6 Prozent) nicht genug zu essen und zu trinken.

Auch die “Süddeutsche Zeitung” beruft sich lieber auf “Bild” statt auf den Bericht selbst:

Jeder dritte Pflegefall bekomme nicht genug zu Essen und zu Trinken, schreibt die Bild-Zeitung unter Berufung auf den Bericht. In Heimen seien es 34,4 Prozent der Fälle, bei der ambulanten Pflege 29,6 Prozent.

Dieses Spiel über Bande ist immerhin ein bisschen weniger irreführend als das, was tagesschau.de behauptet:

Demnach bekommt offenbar jede dritte zu pflegende Person nicht genug Essen und Trinken.

Und der Vollständigkeit halber auch noch n-tv.de:

Etwa jeder dritte Pflegebedürftige bekomme nicht genug zu essen und zu trinken.

Nun mag es einigermaßen verständlich erscheinen, dass kein Journalist mal eben 212 Seiten voll Daten und Fakten durcharbeiten will. Muss er aber gar nicht, denn eine schlichte Suche nach dem Wort “Ernährung” im PDF-Dokument hätte zum Beispiel auf Seite 48 verwiesen, wo es heißt:

Die festgestellten Mängeln bei der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung sind nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer bereits eingetretenen Unterernährung oder einer Dehydratation.

Auf Seite 66 steht:

Bei 65,6 % der im 1. HJ 2006 in die Prüfung eingezogenen Bewohner lagen bei der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung keine Qualitätsprobleme vor. Bei 34,4 % der Personen wurden Mängel festgestellt. Auch hier sind diese Mängel nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer eingetretenen Unterernährung oder einer Dehydratation.

Immerhin heute.de hat es irgendwie geschafft, die Tatsachen richtig aus dem Bericht abzupinnen:

Der Bericht weist nach wie vor Mängel bei der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung der Pflegebedürftigen aus. Bei etwa jedem dritten Fall (Heime: 34,4 Prozent; ambulante Pflege: 29,6 Prozent) stellten die Prüfer Defizite fest. Sie kritisierten etwa unzureichende Gewichtskontrollen oder eine fehlende Ermittlung des Energiebedarfs der Bewohner. Dies bedeute aber nicht unbedingt, dass die Betroffenen jeweils unterversorgt oder mangelhaft ernährt seien, hieß es.

Im Vergleich zum letzten Bericht, der das 2. Halbjahr 2003 erfasste, hat sich die Qualität der Pflege auf beinahe jedem Gebiet verbessert, wenn auch mitunter nur ganz leicht.
“Bild” würdigte diesen Sachverhalt mit vier Worten:

Geändert hat sich wenig.

Das mag bei einer entsprechenden Auslegung des Wortes “wenig” ja sogar noch richtig sein, bei Heribert Prantls Kommentar in der heutigen “Süddeutschen Zeitung” wurde daraus aber schon ein:

Seit Jahren hat sich nichts verbessert – doch niemand reagiert.

(Dass Prantl 34,4 bzw. 29,6 % für “Fast die Hälfte der Menschen in den untersuchten Pflegeheimen” hält, die auch noch “Hunger und Durst” “leidet”, schlägt dann dem Fass die Krone ins Gesicht.)

Dabei hätte man nur das Vorwort lesen müssen, um von der Verbesserung der Situation zu erfahren:

Die Pflegeeinrichtungen haben in den zurückliegenden drei Jahren erkennbare Anstrengungen unternommen, um die Pflegequalität in den Pflegeeinrichtungen weiterzuentwickeln. Bei vielen Qualitätskriterien lassen sich Verbesserungen nachweisen. Ein Teil dieser Entwicklungen ist auch auf die Wirkung der Arbeit des MDK zurückzuführen. Der Bericht zeigt aber auch, dass die Pflege nach wie vor ein Qualitätsproblem hat, aus dem sich ein erheblicher Optimierungsbedarf in den ambulanten Pflegediensten und stationären Pflegeeinrichtungen ergibt.

“Spiegel Online” schaffte es immerhin, einen zweiten Artikel hinterherzuschieben, wo man unter der Überschrift “Pflege verbessert – Probleme bleiben” folgendes lesen kann:

“Die Pflege-Schande”, titelt die “Bild”-Zeitung heute und prangert die skandalösen Missstände in deutschen Altenheimen an. Die Prüfer der Krankenkassen sind überrascht: Denn seit ihrem letzten Bericht hat sich die Lage fast überall verbessert – auch wenn die Probleme bleiben.

Leider ist diese partielle Richtigstellung im ersten Artikel, wo “Spiegel Online” noch munter den “Bild”-Blödsinn zitiert, nicht verlinkt.

Regelrecht reflektiert wirkt da schon der Artikel bei “RP Online”:

Der jüngste Prüfbericht des Medizinischen Dienstes zeige, dass es in den vergangenen Jahren bei allen wichtigen Versorgungskriterien Verbesserungen gegeben habe, wenn auch auf niedrigem Niveau. “Die Pflege hat nach wie vor ein Qualitätsproblem”, räumte Gerdelmann ein. […] Dies bedeute aber nicht, dass es einen “Pflegeskandal” gebe.

Und so haben wir seit gestern zwei Skandale in Deutschland: Die von der “Bild”-Zeitung ausgerufene “Pflegeschande”, bei der genau genommen natürlich jeder Fall von unzureichender Behandlung schrecklich und skandalös ist, und die kaum wahrgenommene, leider auch kaum noch überraschende Tatsache, dass die Verfechter des Qualitätsjournalismus lieber schnell irgendwas weiterplappern, als nur mal für zehn Minuten selbst zu recherchieren.