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Musik Leben

25 Jahre „Hallo Endorphin“

Dieser Eintrag ist Teil 9 von bisher 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschienen jede Menge Alben, die für unsere Autor*innen prägend waren. Zu ihrem 25. Jubiläum wollen wir sie der Reihe nach vorstellen.

...But Alive - Hallo Endorphin (abfotografiert von Lukas Heinser)

Dafür, dass ich in den 1990er Jahren in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen bin, fehlt ein wichtiges, eigentlich natürliches, Puzzleteil in meiner Popkultur-Sozialisation: Deutschpunk. Zwischen der ZDF-Hitparaden-Welt meiner Großeltern und dem WDR-2-Pop-Internationalismus meiner Eltern (plus BAP und Grönemeyer) war kein Platz vorgesehen für Fehlfarben, EA 80 oder Wohlstandskinder und auch nicht für WIZO, Dackelblut oder Die Goldenen Zitronen. Natürlich fanden Die Toten Hosen und Die Ärzte im Musikfernsehen und im Radio statt, aber beide Bands haben mich bis heute nie interessieren können (um das mal diplomatisch auszudrücken). Ich meine: Ich lebe seit 20 Jahren in Bochum und hab diesen Sommer zum ersten Mal Die Kassierer live gesehen!

Insofern waren mir auch …But Alive kein Begriff, als im Spätsommer/Herbst 2002 plötzlich alle über kettcar sprachen. Deren Sänger, so lernte ich, hieß Marcus Wiebusch und hatte zuvor bei eben jenen …But Alive und bei Rantanplan gesungen. Und weil kettcar für mich mit „Du und wieviel von Deinen Freunden“ ein Tor in eine neue Welt aufgestoßen hatten (die zu einer jahrzehntelangen Freundschaft zu ihnen, Thees Uhlmann und ihrem Label Grand Hotel van Cleef führen sollte), es aber noch nicht mehr als dieses Debütalbum gab, brauchte ich ein Jahr später Methadon.

„Hallo Endorphin“ war das vierte und letzte Album von …But Alive gewesen und in gewisser Weise das Bindeglied zu kettcar: Musikalisch und textlich schon recht weit von dem eher klassischen Punkrock entfernt, mit dem die Band angefangen hatte. Zwar ging es in manchen Texten immer noch gegen alles, vor allem gegen gleichaltrige Spießer, Pop-Akademiker und Lifestyle-Linke, aber anderes war weniger konkret ausformuliert. Themen wie Selbstermächtigung schauten genauso vorbei wie Trennungen. Über „Entlassen (Vor der Winterpause)“ und „Erinnert sich jemand an Kalle ‘del Haye“, in denen Marcus Fußball als Bildspender für eine gescheiterte Beziehung und entfremdete Freundschaften habe ich ein paar Jahre später in meinem Germanistik-Studium eine ganze Hausarbeit geschrieben.

Hatte das kettcar-Debüt meinen Stehsatz für Liedzitate, die ich im Alltag und in eigenen Texten unterbringen konnte, eigentlich schon bis unter das Dach gefüllt, erwies sich „Hallo Endorphin“ (allein der Albumtitel!) als weiterer Steinbruch für Referenzen. Schon der Song „Beste Waffe“ hat mich auf Jahre mit Formulierungen für Internetforen und ähnliche Orte versorgt: „Und da steht Thomas Helmer — oh nee, doch nicht, sah nur so aus“, „Klar kannst Du Dich mal melden, halt nur nicht bei mir“, „Musikgeschmack wird überbewertet“.

Weil ich mir die …But Alive-Diskografie umgekehrt chronologisch erschlossen habe, blieb „Hallo Endorphin“ immer das Album dazwischen: Der Drumcomputer-Anfang von „Vergiss den Quatsch“ nimmt „Deiche“ vorweg, ein kurzes Gitarrensolo in „Friedlich“ und eine Keyboard-Melodie in „Entlassen (Vor der Winterpause)“ täuschen schon mal die spätere „Landungsbrücken raus“-Hook an. Den Sprechgesang würde Marcus erst auf den späteren kettcar-Alben wieder auspacken, dafür bekommt man bei „Selbstmitleid sells“ noch mal Uptempo-Punkrock und bei „Weniger als 5 Sekunden“ etwas, was man eigentlich nur als Nu-Metal-Energie beschreiben kann — was ja 1999 noch nicht so lachhaft war wie zwei, drei Jahre später.

Wenn ich recht überlege, knallten kettcar und Tomte in ein sehr kurzes Zeitfenster, in dem ich mich überhaupt für deutschsprachige Musik interessieren und erwärmen konnte: Was mit Tom Liwas „St. Amour“ und ein bisschen Nachhol-Programm von Tocotronic und Die Sterne im Jahr 2000 begann, endete eigentlich schon wieder 2005 mit dem zweiten Wir-Sind-Helden-Album. Dass es Marcus Wiebusch mit kettcar geschafft hat, auch 2024 mit „Gute Laune ungerecht verteilt“ ein Album zu veröffentlichen, das zu meinen Highlights des Jahres zählt, und sich die Band seit 2017 eigentlich permanent selbst übertrifft, kann ich ihnen also gar nicht hoch genug anrechnen. Neun und zehn und raus!

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…But Alive – Hallo Endorphin
(B.A. Records/Indigo, 20. September 1999)
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Unterwegs Gesellschaft

Als man damals nach Hamburg kam

Ich wünschte wirklich, es würde nicht stimmen, aber natürlich musste sich die „Du und wieviel von Deinen Freunden“ von kettcar in meinem Sony-Discman drehen, als ich heute vor 20 Jahren mit der U3 vom Hauptbahnhof nach St. Pauli fuhr und über den Spielbudenplatz ging. Mit meiner damaligen Freundin hatte ich mich auf den Weg nach Hamburg gemacht; die erste gemeinsame Reise, ein Besuch bei Internetfreunden, vor allem aber natürlich im Mythos Hamburg.

Das Grand Hotel van Cleef und seine Acts, Bands wie Tocotronic und Die Sterne und „Absolute Giganten“ — die Stadt und vor allem die Gegend um St. Pauli, Karolinenviertel und Sternschanze waren durch die Popkultur der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit so aufgeladen, dass sie zumindest für uns eigentlich schon den gleichen touristischen Stellenwert hatten wie Michel, Fischmarkt und Landungsbrücken (die natürlich gleich doppelt): hingehen, Foto machen, abhaken, dort gewesen sein. Ich war gerade erst auf dem Sprung von Dinslaken nach Bochum, aber so, wie diese coolen Menschen in Cordhosen und Trainingsjacken mit einem Stadtnamen-Schriftzug drauf, die die entscheidenden paar Jahre älter waren als ich mit 20 und irgendwas „Kreatives“ machten, so wollte ich auch einmal sein und leben: Platten kaufen bei Zardoz, abends einfach vor die Tür gehen und ein Konzert besuchen; Miles in der Tanzhalle St. Pauli, Ash im Logo, mit der Bierflasche in der Hand vorm Molotow stehen.

Wenn ich die Fotos von damals betrachte, sehe ich vor allem, was nicht mehr da ist: die Esso-Hochhäuser und die Tankstelle davor, der Astra-Turm, der Kaispeicher A ohne Elbphilharmonie drauf — ich war, wie bei meinem ersten Berlin-Besuch 1995, rechtzeitig dagewesen, um heute nostalgisch zu sein. Dabei sind die wahren Opfer natürlich die, die da jahrzehntelang gewohnt haben. Die Gentrifizierung ist über Hamburg hinweggerauscht, alles ist voll mit Bio-Supermärkten, Lastenrädern, Cafés und alternden Hipstern, die jetzt Eltern sind und aussehen wie ich und meine peer group hier in Bochum — nur, dass wir viel weniger Miete zahlen. Wir sind alle Teil des Problems; die Investoren folgen den Kreativen wie Geier; am Ende wollen wir alle eine lichtdurchflutete Altbauscheiße. Aber sowas wie die Hafen City, das haben wir doch nie gewollt!

2009 hatte ich überlegt, nach Hamburg zu ziehen, aber es war mir damals schon zu teuer. Ich liebe die Stadt noch immer: das Licht, die Luft an der Elbe, das Schanzenviertel, trotz all der Gentrifizierung, und der schönste Regiolekt, den das Deutsche zu bieten hat. In meiner DNA bin ich zu zwei Achteln Hamburger und ich bilde mir ein, dass sich das bemerkbar macht (die zwei Achtel Aachener Revier spüre ich nullkommanull). Einige der besten Menschen, die ich kenne, leben in Hamburg. Falls ich Bochum jemals verlasse, dann nur für Hamburg, Wien oder San Francisco. I’d like to thank the academy (academy, academy).

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Musik

Goodbye Trouble

Gestern war ich auf einer Trauerfeier. Und auf einem Klassentreffen. Und auf dem ersten (indoor) Konzert seit drei Jahren. Pale hatten zum One-Night-Only-Konzert ins Kölner Gloria gebeten und die Indie-Crowd, die vor 20 Jahren auf Visions-Partys Smirnoff Ice getrunken hatte, war geschlossen angetreten — mit Mützen über dem lichter werdenden Haar, ohne Trainingsjacken mit Städtenamen drauf und mit nur einem Bier in der Hand, denn man muss ja noch fahren und die Kinder werden so früh wach.

Die erste Welle der Ekstase schwappt schon hoch, als das Licht für die Vorband ausgeht. Pale hatten vage „Gäste“ und „Freunde“ angekündigt und so geht es als kollektive Selbstbestätigung durch, als wir sehen, dass es wirklich Thees Uhlmann ist, der da auf die Bühne schlurft. Doch – behold! – er ist nicht alleine, mit ihm kommt Marcus Wiebusch raus. Das macht Sinn, sind doch das letzte Pale-Album 2006 und das jetzt aber wirklich allerletzte Pale-Album 2022 beim Grand Hotel van Cleef erschienen, dem Label, das die beiden 2002 gegründet hatten und dessentwegen wir uns alle kennen und gute Musik hören. „Gebt dem Nachwuchs eine Chance“, scherzt Thees, dann spielen die beiden sechs Songs aus dem großen kettcar/Tomte/Thees-Uhlmann-Werk. Wir hätten auch 20 genommen, aber sie sind ja nur als Warm-Up hier und bringen das Gloria erfolgreich auf Betriebstemperatur. Leider auch buchstäblich.

Vor dem Pale-Konzert (Foto: Lukas Heinser)

Dann leuchtet der Pale-Schriftzug über der Bühne auf und die Band (oder das, was von ihr übrig ist) betritt unter einem der dicksten Auftrittsapplause, die ich je erlebt habe, das Scheinwerferlicht. Nach dem ersten Song sagt Sänger/Gitarrist Holger Kochs, er habe sich in den letzten Tagen eine lange Ansage ausgedacht und wieder verworfen, denn wir wüssten ja eh alle, warum wir da sind: „Für Christian!“

Christian Dang-anh war der Gitarrist von Pale, „der einzige richtige Musiker innerhalb der Band“, wie die anderen selbst sagen. 2019, zehn Jahre nach der Auflösung der Band, wurde bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert, was die Mitglieder auf die Idee brachte, wieder gemeinsam Musik zu machen. Schlagzeuger und Holgers Bruder Stephan Kochs hatte mit einer eigenen schweren Erkrankung zu kämpfen, dann kam die Pandemie und im Frühjahr 2021 ist Christian leider gestorben.

Aus diesen Sessions und Erfahrungen ist „The Night, The Dawn And What Remains“ entstanden, das wirklich allerletzte Album, dessen Songs heute Abend alle zur Aufführung kommen — neben den ganzen Hits, natürlich, wobei mir irgendwann auffällt, dass es false memory meinerseits war, zu glauben, ich hätte die Musik der Band „schon damals“ „immer viel“ gehört.

Zwischen den Songs sagt Holger so viele kluge Sachen über das Leben und die Gegenwart, die man genießen und feiern solle, dass ich mir denke, dass ich mir die alle merken werde. Jetzt könnte ich natürlich nichts mehr davon zitieren, aber das ist total egal, weil ich ja WEISS, dass er Recht hat.

Sie spielen „Man Of 20 Lives“ für Stephan, der heute nur im Publikum ist. Zu „Bigger Than Life“ werden im Hintergrund alte Videos und Bilder von Christian projiziert und ich denke mal wieder, wie so oft, über Musik: „This is my church / This is where I heal my hurts“. (Maxi Jazz von Faithless ist übrigens im Dezember auch gestorben.) Holger singt – „auch wenn’s pathetisch klingt“ – „Wake Up!“ für seine Kinder und ich stehe da inmitten einer wild zusammengewürfelten Gruppe alter Freunde und Bekannter, jetzt sind wir alle Väter, und ich muss mich gar nicht umgucken, weil ich weiß, dass wir gerade alle Tränen in den Augen haben. Das Publikum weiß auch, wann Holger Unterstützung gebrauchen kann, und umarmt ihn mit langem, frenetischen Applaus. Das Gloria ist heute ein einziger großer Liebeskreis. (Rocco Clein ist jetzt auch schon 19 Jahre tot.)

Beim Pale-Konzert (Foto: Lukas Heinser)

„Still You Feel“, eine Hymne auf die Musik, die einem Zuhause ist, nachdem man die furchtbare Heimatstadt verlassen hat, ist auf dem Album ein Duett mit Simon den Hartog von den Kilians. (Auf dem Popkultur-Altar auf dem Albumcover steht ein Mixtape namens „Hometown Mix“, dessen B-Seite mit „Dinslaken 2002“ beschriftet ist — Simons und meiner alten Heimatstadt und meinem Abi-Jahr. Ich bin mir auch nach Monaten noch nicht sicher, was das mit mir macht.) Und natürlich kommt Simon, den Holger als seine Lieblingsstimme in Deutschland bezeichnet, auch auf die Bühne im Gloria. Und er bleibt noch für einen zweiten Song: „Fight The Start“ von den Kilians. Ich habe diesen Song mindestens 30 Mal live gehört, im Publikum, beim Soundcheck, neben der Bühne — zuletzt vor neun Jahren, ein paar Leben her, und ich bin sehr froh, dass mir die ganze emotionale Bedeutung dieses Moments nicht schon gestern Abend aufgefallen ist, sondern erst jetzt. Durchatmen.

„Someday You Will Know“ („The last song of a band that already played its final show“) wird auf dem Album von einem Saxofon-Solo von Steve Norman von Spandau Ballet gekrönt — und es ist jetzt wirklich keine große Überraschung mehr, dass auch er heute Abend hier ist und mitspielt. (Tatsächlich wäre es auch nur konsequent gewesen, wenn zum abschließenden The-Jam-Cover „Town Called Malice“ Paul Weller zur Band hinzugestoßen wäre. Oder Noel Gallagher. Oder John Lennon, because why the fuck not?) Etwas überraschender ist schon, dass auch er für einen zweiten Song bleibt und wir so in den Genuss kommen, „Gold“ von Spandau Ballet auch einmal live zu hören. You’ve got the power to know you’re indestructible!

Er habe unterschätzt, wie viel 27 Songs sind, meint Holger lachend vor den letzten Zugaben, als er das Publikum bittet, gerne etwas lauter mitzusingen. Drei Stunden stehen sind auch schon ziemlich anstrengend, denke ich. Und drei Stunden Rückweg vom Club zum eigenen Bett haben sich früher auch nicht so schlimm angefühlt. Aber wer hätte gedacht, damals, als man anfing, Musik als etwas wahrzunehmen, was mehr ist als das, was im Radio zwischen den Politik-Beiträgen läuft, dass sie einem mal so viel bedeuten und einen durch schwere Zeiten (und großartige!) begleiten würde, dass sie mal zu Freundschaften führen würde und zu Abenden wie diesem?

This is how it feels when nothing can ever make you stop / This is how it feels when nothing’s wrong.

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Musik

Songs des Jahres 2022

Ich brauche traditionell immer ein bisschen länger, um meine Songs des Jahres zusammenzustellen, aber ich finde das besser, als das Jahr schon im November einpacken zu wollen; hier ist mein Blog mit meinen Regeln und außerdem ist ja noch Januar. Also: Hier sind – Stand jetzt – meine Lieblingslieder des Jahres 2022!

25. Death Cab For Cutie – Here To Forever
Ben Gibbards Lyrics sind ja mitunter so spezifisch, dass sie schon zum Meme taugen. Das muss natürlich nicht schlecht sein, im Gegenteil:

In every movie I watch from the ’50s
There’s only one thought that swirls
Around my head now
And that’s that everyone there on the screen
Yeah, everyone there on the screen
Well, they’re all dead now

Damit hat er einmal mehr einen Gedanken ausformuliert, den ich so oder so ähnlich selbst schon oft hatte. Und wenn Du dann am Tag nach dem Tod Deiner Großmutter im Wohnzimmer des Großelternhauses stehst, auf einem Regal die Fotos all der Großtanten und -onkel, dann knallen diese Zeilen noch mal ganz neu in die offene Wunde: Die sind jetzt alle tot. Das neue Death-Cab-Album „Asphalt Meadows“ hat mich irgendwie nicht so richtig abgeholt, aber dieser Song wird immer Teil meiner Geschichte sein.

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24. Nina Chuba – Wildberry Lillet
Ich bin jetzt in einem Alter, wo es zunehmend schwer wird, mit den jungen Leuten Schritt zu halten — vor allem, wenn man keinen Bock hat, sich chinesische Spionage-Software aufs Handy zu laden. Ich habe dieses Lied also erst relativ spät in einem prähistorischen Medium namens Musikfernsehen entdeckt, aber mir war sofort klar, warum das ein Hit ist: Diese Hook, die gekonnt auf der Grenze zwischen „eingängig“ und „nervig“ hüpft; diese Lyrics, die im klassischsten Sinne das durchspielen, was wir musical theater kids den „I Want“-Song nennen, und dabei sowohl im Dicke-Hose-Rap („Ich will Immos, ich will Dollars, ich will fliegen wie bei Marvel“) abschöpfen, als auch fast rührend kindlich („Will, dass alle meine Freunde bei mir wohnen in der Straße“) daherkommen; diese fröhlich-rumpelige Pippi-Langstrumpf-Haltung, mit der wieder mal eine neue Generation ihren Teil vom Kuchen einfordert — oder hier gleich die ganze Bäckerei („Ich hab’ Hunger, also nehm’ ich mir alles vom Buffet“). Und mittendrin eine Zeile, die man als immer jugendlichen Trotz lesen kann — oder als wahnsinnig traurigen Fatalismus: „Ich will nicht alt werden“. Wenn man den Song feuilletonistisch naserümpfend neben den „Fridays For Future“-Aktivismus legt, wird man feststellen, dass die Jugend (Nina Chuba ist da mit 24 gerade noch im richtigen Alter für den Song) ganz schön widersprüchlich sein kann: „We’re the young generation, and we’ve got something to say“ hatten die Monkees ja schon 1967 gesungen — und darüber hinaus nichts zu sagen gehabt, während zeitgleich mal wieder eine Zeitenwende ausbrach.

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23. Harry Styles – As It Was
Damit hätte jetzt auch niemand rechnen können, dass ausgerechnet „Take On Me“ von a-ha mal zu einem der prägendsten Einflüsse auf eine neue Generation Popmusik werden würde: Schon „Blinding Lights“ von The Weeknd war von der legendären Keyboard-Hook … sagen wir mal: „inspiriert“ und auch „As It Was“ kann eine gewisse Verwandtschaft nicht bestreiten. Aber erstens bitte nichts gegen a-ha und zweitens passiert hier in 2:47 Minuten (während die Kinofilme immer länger werden, werden die Popsongs immer kürzer — die Menschen haben ja auch nicht unendlich viel Zeit) so viel, dass man kaum hinterher kommt. Und über Harry Styles muss man ja eh nichts mehr sagen. ((Außer: Hat er jetzt eigentlich Chris Pine angespuckt?))

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22. The National feat. Bon Iver – Weird Goodbyes
„What your favorite sad dad band says about you“ titelte McSweeney’s im Januar 2022, dabei war der Witz da schon mindestens viereinhalb Jahre alt. The National und Bon Iver sind natürlich auf beiden Listen und wenn sie nicht gerade mit Taylor Swift Musik machen, machen sie die halt gemeinsam (dass Aaron Dessner von The National und Justin Vernon von Bon Iver auch noch gemeinsam bei Big Red Machine spielen, verwirrt an dieser Stelle zwar nur, ich muss es aber erwähnen, weil sonst meine Mitgliedschaft in der „Musikjournalisten-Nerds“-Unterabteilung des Bochumer „Sad Dad“-Clubs in Gefahr wäre). So wie bei diesem Song, der nicht Teil des neuen The-National-Albums sein wird, das inzwischen angekündigt wurde und „First Two Pages of Frankenstein“ (man ahnt eine etwas umständliche Referenz, die da irgendwo als Witz im Hintergrund lauert) heißt. Es ist trotzdem ein schöner Song! Und die Band verkauft inzwischen „Sad Dad“-Merchandise.

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21. Rae Morris – No Woman Is An Island
Rae Morris ist der erste und bisher einzige Act, der schon zwei Mal meine Liste der „Songs des Jahres“ angeführt hat: 2012 und 2018. Rechnerisch wäre sie also erst 2024 wieder dran, was ja auch gut sein kann. „No Woman Is An Island“ ist natürlich auch nicht schlecht, ich hab nur eben 20 Songs (von ca. 4.000 gehörten) gefunden, die ich 2022 besser fand als diese leicht theatralische (im Sinne von Bühnenaufführung, nicht im Sinne von übertrieben) Feminismus-Ballade.

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Musik Leben

Was den Himmel erhellt

Ich erinnere mich, wie ich am ersten Arbeitstag des Jahres 2006 die Post in der Musikredaktion von CT das radio öffnete und darin die Promo für die neue Tomte-CD („Watermarked #89“) lag. Wie ich die CD am Abend zum ersten Mal hörte und wusste, dass ich viel Zeit mit diesem Album verbringen würde.

Ich erinnere mich, wie ich Thees Uhlmann zum Interview im Düsseldorfer Zakk traf. Wie ich ihm unbeholfen das Demo einer befreundeten Band in die Hand drückte, das ich eigentlich für Simon Rass vom Grand Hotel van Cleef mitgebracht hatte, der aber gar nicht vor Ort war, und wie Thees zum ersten Mal die Kilians hörte.

Ich erinner mich, wie ich um vier Uhr morgens in Dinslaken aufstand und zum Düsseldorfer Flughafen fuhr, um nach Nürnberg zu fliegen (mein allererster Flug ohne Eltern!). Wie ich mit dem Zug nach Erlangen weiterfuhr, um die Kilians zu treffen, die jetzt, acht Wochen nach dem Interview, bei Tomte im Vorprogramm spielten. Ich stellte mich als Backliner und Roadie vor, bekam meinen eigenen Backstage-Pass und vergaß direkt am ersten Abend den Teppich, der auf der Bühne unter Micka Schürmanns Schlagzeug liegen sollte, in einer Ecke des E-Werks.

Ich erinnere mich daran, Tomte vier Tage hintereinander live zu sehen, die neuen Songs zu hören, die ich schon in- und auswendig kannte, und zu spüren, wie diese Band auf der Welle der Emotionen surfte, die ihnen entgegengebracht wurde. An die Zeile „Und du sagtest: Da ist zu viel Krebs in deiner Familie“, die mir jeden Abend die Tränen in die Augen trieb, weil mein geliebter Großonkel gerade im Krankenhaus lag und vier Monate später an dieser Arschloch-Krankheit starb. An Soundchecks, Backstageräume und den Deckel einer Rohlingspindel, aus dem Thees Wodka-O trank, bevor ich ihn auf die Stirn küsste.

Ich erinnere mich an zahlreiche Festivals im Sommer, auf denen ich Tomte immer wieder live sah, und wie wir beim Essen Original so nass wurden, dass das Wasser beim Gehen aus unseren Schuhen schwappte.

Ich erinnere mich, wie ich für CT eine eigene Version von „New York“ zusammenschnitt, weil die Albumversion zu lang war, aber auf der Singleversion das tolle Intro fehlte. (Ich glaube, das ist illegal, und die Band und ihr Produzent Swen Meyer könnten mich wahrscheinlich heute noch verklagen.)

Ich erinnere mich, wie ich im September für drei Monate zu meiner amerikanischen Familie nach San Francisco flog und dachte, dass es ja ein merkwürdiger Zufall ist, dass Thees mit „Walter & Gail“ ein Lied über seine amerikanische Familie geschrieben hatte.

Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Onkel nach New York flog, das damals wirklich noch die „Stadt mit Loch“ war. Dass ich am Chelsea Hotel vorbeiging und wir am Sonntagnachmittag durch den Central Park spazierten und bei Sonnenuntergang das Reservoir erreichten und wie ich dachte, dass manchmal einfach alles einen Sinn ergibt.

Ich erinnere mich, wie ich im Dezember wieder in meinem WG-Zimmer im Bochumer Studentenwohnheim saß, die Platte und „New York“ in all meinen Jahresbestenlisten auf Platz 1 setzte und dachte, dass es wahrscheinlich nie wieder ein Album geben würde, das so eng mit meinem Leben verbunden ist — und dass das auch okay sein würde.

Heute vor 15 Jahren erschien „Buchstaben über der Stadt“ von Tomte. L.Y.B.E.

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Musik Leben

Another Decade Under The Influence: 2017

Dieser Eintrag ist Teil 8 von bisher 10 in der Serie Another Decade Under The Influence

2017. Schnee! Meine Oma zieht ins Seniorenheim. Ich habe eine neue Brille, ein „New Yorker“-Abo (plus Stoffbeutel) und eine Therapeutin — jetzt noch ein Cordsakko und ich bin ein echter Ostküsten-Intellektueller! Ein neues Tattoo. Ganz viele Ausflüge mit U-Bahnen, Straßenbahnen und Zügen. Ich entwerfe und baue mein erstes ganz eigenes Möbel! The Ataris, Wanda und Soulwax live. Ostern ohne Eltern, aber mit eigenem Kaffeetrinken. Wir fallen runter wie Glitzer auf Beton / Und malen die Stadt so bunt wie wir eben sind. ESC in Kiew: Dr. Peter Urban ist zum 20. Mal dabei, ich inzwischen auch schon zum achten. Eltern-und-Kind-Turnen, ein Euphemismus für „Eltern die letzte Lebensenergie aussaugen“. Mein MacBook, treuer Begleiter seit Duslog-Tagen, raucht ab. Endlich wieder Stadtpark-Nachmittage! I want a life, that’s all I need lately / I am alive but all alone. Meine Oma verabschiedet sich für immer. I got loyalty, got royalty inside my DNA. Flugzeuge gucken in Düsseldorf. Wie die Starken die Schwachen, die Müden die Wachen / Umarmen, umarmen. Einen ganzen Tag Geburtstag feiern! Ein Familientreffen in Freiburg. kettcar sind zurück — aber sowas von! Wir gehen zur Eröffnung von neuen Stadtbahnhaltestellen und Straßenbahnlinien. Ich hab jetzt lange Haare. Plätzchenbacken und Weihnachtsmärkte. Eine Schneeballschlacht vor der eigenen Haustür. Eine Modelleisenbahn unterm Weihnachtsbaum. An Weihnachten wird klar: Das ist das letzte Mal mit unserem Opa; was keiner ahnt: 96 Stunden später ist er tot. Nobody else will be there then / Nobody else will be there. Einmal Silvester mit Raclette und Bleigießen feiern, wie so ganz normale Erwachsene.

Ein ziemlich okayes Jahr, auch wenn gleich zwei meiner Großeltern gestorben sind. Ein Jahr, das aber auch einigermaßen öde gewesen wäre, wenn meine beste Freundin mich nicht ständig vor die Tür und ins Leben geschleift hätte: zu Phil Collins, ins Stadion, auf die Cranger Kirmes, zu 15 Jahre Grand Hotel van Cleef, an meinem Geburtstag ins Phantasialand und ein Wochenende nach Holland an den Strand. Und nicht eher schlafen, bevor wir hier / Heute Nacht das Meer sehen / Spüren, wie kalt es wirklich ist.

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Musik Leben

Another Decade Under The Influence: 2012

Dieser Eintrag ist Teil 3 von bisher 10 in der Serie Another Decade Under The Influence

2012. Ein WDR-Kamerateam in meiner Wohnung, das mich für eine Reportage über „Bild“ interviewt. Eine East-17-Autogrammstunde in einem Kölner Einkaufszentrum. Viel auf Konzerten gewesen, viel im Schauspielhaus Bochum. Bergwerksbesichtigung: Nach vier Generationen Bergleuten über mir bin ich zum ersten und letzten Mal unter Tage. Manche Freundschaften halten länger, als man denkt. Meine kleine Schwester verlobt sich. Ein ESC in Baku und eine Bewerbung für neue Aufgaben. Ein Abend auf Ina Müllers Küchenbank mit Stefan Niggemeier und Michalis Pantelouris. Baby, bitte mach Dir nie mehr Sorgen um Geld! Ein blink-182-Konzert, auf dem bei „All The Small Things“ die Welt stehen bleibt und sich danach in die andere Richtung weiterdreht. Und wenn Du mich küsst / Schreibt Noel wieder Songs für Liam. Ein toter Opa, den ich nicht kannte. Ein Sommer im Stadtpark und ein bisschen in Berlin. Zehn Jahre Grand Hotel van Cleef in Hamburg mit allen, die zur Familie gehören. Die erste Geburtstagsparty zuhause und die Geburtsstunde des Instituts für Apokalyptischen Schlager. „The Fault In Our Stars“, eines der beeindruckendsten Bücher, das ich je gelesen habe. Ein Tagesausflug zum Bewerbungsgespräch nach München. Schon wieder so viele Abende in Kneipen und WG-Küchen. Hearts from hell collide / On fire’s highway tonight / We dreamed it, now we know. Der Weltuntergang fällt (vorerst) aus, aber etwas Neues beginnt. Nicht, was man empfindet / Es ist das, was man tut.

Ein Jahr, in dem alles gleichzeitig stattfand, und das sich anfühlte wie ein Leben: lang, laut, bunt, lustig, traurig, zwischen Pausetaste, Vor- und Zurückspulen. I need time to stop moving / I need time to stay useless. Ein Jahr voller Musik, mit der weitesten Anreise zu einem Konzert ever: Um das 13 Jahre alte Trauma eines verpassten Konzerts zu überwinden, fliege ich bis nach Manchester, um Ben Folds Five endlich live zu sehen. Fresh white snow for miles / Every footstep will be mine.

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Musik

Endlich einmal etwas, das länger als vier Jahre hält

In “Almost Famous” warnt der Musikjournalist Lester Bangs seinen jungen Kollegen William Miller davor, sich mit Musikern anzufreunden. Die wollten eh nur, dass man gut über sie schreibe, und wenn die Distanz weg sei, könne man auch gleich aufhören.

So gesehen habe ich meine Musikjournalisten-Karriere im Frühjahr 2006 in den Wind geschossen, als ich Thees Uhlmann nicht nur das Demo einer jungen Nachwuchsband aus meiner niederrheinischen Heimat in die Hand gedrückt habe, sondern acht Wochen später auch noch als Teil des Tomte/Kilians-Trosses durch den Süden der Republik getourt bin.

Das erste Album, das ich Anfang des Jahres bei CT das radio aus dem Berg von Bemusterungspost gefischt hatte, war die “Buchstaben über der Stadt” gewesen, deren Songs ich dann vier Abende hintereinander live gehört habe, und als ich Anfang November im Central Park am Reservoir (ja, das aus “New York”) stand, dachte ich: Von so einem Jahr kann man sich nur erholen, wenn man beim ESC live vor Ort ist, wenn Deutschland gewinnt.

Jahrelang trafen wir uns immer wieder in den Backstageräumen nordrhein-westfälischer Indierock-Veranstaltungsorte, auf Festivals und im legendären, inzwischen natürlich geschlossenen, Dinslakener Jägerhof, wo Thees mich bei der Kilians-Releaseparty auf die Stirn küsste. (Die genaueren Details sind mir entfleucht und ich möchte diesbezüglich nur Falco paraphrasieren.)

Thees Uhlmann und Lukas Heinser, 2009

Wie es sich für eine ordentliche Freundschaft gehört, wurde unsere aber auch auf eine harte Probe gestellt: Tomte liefen nach jede Menge Line-Up-Wechseln aus und Thees veröffentlichte 2011 ein selbstbetiteltes Soloalbum, mit dem ich auch nach gründlichem Hören irgendwie nicht warm wurde. Auf “Walter & Gail” hatte er 2006 noch gegen das Mittelmaß angesungen, jetzt feierte er “Das Mädchen von Kasse 2” und das Leben auf dem Dorf, obwohl doch alle Songs, die wir jemals gut gefunden hatten, davon handelten, das Scheiß-Leben auf dem Land endlich hinter sich zu lassen. Ich fühlte mich betrogen.

Thees war damals weiter als ich: Vater geworden, Beziehung zerbrochen, dabei, das Glück im Kleinen zu suchen. Nun wäre es bescheuert, zum besseren Verständnis von Pop-Platten die eigenen Pläne vom Familienleben zu sabotieren, aber ein paar Jahre stand ich da in seinen Schuhen und als Thees und seine Band vor zwei Jahren in Hamburg auf dem 15. Geburtstag seines Labels Grand Hotel van Cleef spielten, stellte ich fest, dass ich die Songs des ersten Soloalbums mit großer Hingabe und Gänsehaut mitsang (“Meine Wahrheit in 17 Worten: Ich hab ein Kind zu erziehen, Dir einen Brief zu schreiben und ein Fußball Team zu supporten”). Dann kam diese Millisekunde, als inmitten dieses Sets mit Solo-Songs das Schlagzeug-Intro zu einem Tomte-Song erklang und noch ehe mein Gehirn exakt erfasst hatte, welcher das eigentlich war, war ich in der Luft und in meiner Erinnerung habe ich für die nächsten 4 Minuten und 20 Sekunden den Boden nicht mehr berührt — ich flog, während ich mir gemeinsam mit dem Text zu “Schreit den Namen meiner Mutter” die Seele aus dem Leib brüllte, und alles war aus Gold. Fünf Tage zuvor war meine Oma gestorben und das hier war genau das, was ich in diesem Moment brauchte, die letzten drei Jahre gebraucht hätte.

Anfang August kam nun endlich das erste musikalische Lebenszeichen seit sechs Jahren: die Single “Fünf Jahre nicht gesungen”. Mein Sohn und ich waren gerade zu Besuch in Berlin, er schlief neben mir im Bett, als ich um Mitternacht Spotify öffnete und auf “Play” drückte:

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Ich würde nicht behaupten, dass ich komplett verstehe, wovon Thees da singt, aber die Stellen, die ich verstehe, fühle ich sehr hart. Drei Wochen später war ich beim Konzert in Essen, was auf den Tag zehn Jahre nach einem der letzten Tomte-Konzerte war, das ich gemeinsam mit den Kilians besucht hatte. Thees und ich sahen uns nach der Show zum ersten Mal seit Jahren wieder, ich bestellte brav Grüße von meiner Mutter (“Der Thees hat mir damals beim Kilians-Konzert den Tipp gegeben, einfach Taschentücher ins Ohr zu stopfen, wenn es zu laut ist. Das ist gut!” — wenn das nicht Rock’n’Roll ist, weiß ich es auch nicht!) und wir sabbelten über The Clash, “Paw Patrol” und Berlin, als hätten wir uns vor ein paar Wochen zuletzt gesehen.

Thees Uhlmann und Lukas Heinser, 2019

Eine Woche später bekam ich vom Grand Hotel das zugeschickt, was im Jahr 2019 einer gebrannten Bemusterungs-CD entspricht: Einen personalisierten Streaming-Link, unter dem ich Thees’ neues Album “Junkies und Scientologen” hören konnte. Ich klickte drauf, legte den Sound meines MacBooks auf meine Anlage und drückte etwas unsicher auf “Play”. Fünfzig Minuten später saß ich erschöpft (ich hatte ein paar Mal headbangend durch die Wohnung hüpfen müssen) und aufgewühlt (ich hatte ein paar Mal Tränen in den Augen gehabt) auf meiner Couch und verfluchte mich dafür, dass ich an dem Abend verabredet war und das Album jetzt nicht direkt zehn Mal hintereinander hören konnte.

Olli Schulz sagt, “Junkies und Scientologen” sei das Beste, was Thees seit “Hinter all diesen Fenstern” gemacht hat, was ich nur deswegen nicht unterschreiben kann, weil deren Nachfolger “Buchstaben über der Stadt” bei mir eben so eine unglaubliche Sonderstellung einnimmt. Genauso wie kettcar die lange Pause vor “Ich vs. Wir” so gut getan hat, dass sie mal eben ihr vielleicht bestes Album aufgenommen haben, ist auch Thees nach so langem Warten auf dem Höhepunkt seines Schaffens: Auf “Junkies und Scientologen” sind er und seine Band musikalisch so tight wie selten, textlich ist er noch besser geworden.

Thees hat ja schon immer versucht, Denkmäler zu errichten, hier beschriftet er die Messingtafeln teilweise ganz schlicht: “Avicii” ist tatsächlich ein völlig unironisches Loblied auf den verstorbenen DJ, den er gerne gerettet hätte; “Katy Grayson Perry” schon ein Stück komplexer, weil er sowohl die amerikanische Sängerin als auch den britischen Künstler gemeinsam zu seinem Label holen will. In “Was wird aus Hannover” feiert er die Stadt, die vor allem für ihre völlige Egalheit bekannt ist, und singt über deren bekannteste Band: “Du hast über die Scorpions gelacht, aber die sind in ‘Stranger Things'” — da muss man die Serie nicht mal geguckt haben, um zu verstehen, wie er das meint.

Dieses Abkulten von Menschen, berühmten wie unbekannten, erreicht im Titeltrack seinen Höhepunkt: Die Strophen sind eine einzige Aneinanderreihung von Widmungen (“Für das Mädchen im Ramones Shirt”, “Für jeden, der in seiner Straße Stolpersteine poliert”, “Für die Vierfaltigkeit der Bobs: Bob Marley, Bob Dylan, Bob Andrews und Bob Ross”), der Refrain ein leuchtender Bengalo im Morgengrauen:

Aber die Zukunft ist ungeschrieben
Die Zukunft ist so schön vakant
Und ich komme dich besuchen
Egal ob Stammheim oder Bundeskanzleramt

Da haben wir in vier Zeilen: Ein Joe-Strummer-Zitat, ein Fremdwort, das sonst kaum in Liedtexten auftaucht, und das Name-Checking von zwei zentralen Orten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nenn mir einen dieser jungen Deutschpop-Clowns, der etwas Ähnliches hinbekommen würde!

Natürlich konnte man Thees dieses Pathos seiner Texte auch schon immer vorwerfen. Aber es ist ein anderes Pathos als das von “Auf uns” oder “Tage wie dieser”, denn Thees’ Lieder taugen nicht zur Untermalung von Fußballturnier-Supercuts. Vielleicht gibt es für Außenstehende auf dem Papier auch gar keinen Unterschied, aber für mich ist es auch eine hermeneutische Kategorie, wer da spricht oder singt. Ich weiß noch, wie ich damals erst die Texte von Tomte und dann Thees selbst kennenlernte und dachte: Da ist jemand, der packt das in Worte, was ich irgendwo in mir drin gefühlt habe und niemals hätte ausdrücken können. Thees gab mir das Vokabular für Liebesbekundungen, Therapiesitzungen und Blog-Einträge.

Morgen erscheint “Junkies und Scientologen” dann offiziell. Für mich endet damit diese Phase, in der man sich wie ein Mitverschwörer fühlen kann, weil man Songs kennt, die erst wenige Menschen gehört haben. Aber ich bin mir sicher, dass es da draußen Tausende gibt, die diese Lieder genauso lieben werden wie ich und denen sie genauso viel (und gleichzeitig etwas völlig anderes) bedeuten werden.

Im letzten Lied der Platte singt Thees:

Ich bin der Letzte mit einem Bierglas in einer Welt voller Champagner
Die Welt ist von sich selbst besoffen, aber ich bleib beim Bier

Du Astra, ich Fiege! Auf “Junkies und Scientologen”!

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Musik

Eine Liebe zur Musik, eine Liebe zu den Tönen

Ich hab’s verpasst: Am Sonntag jährte sich zum zehnten Mal das Tomte-Konzert im Düsseldorfer Zakk, wenige Tage vor Veröffentlichung der “Buchstaben über der Stadt”. Ich war zum Interview mit Thees Uhlmann verabredet und entsprechend früh da, war aber trotzdem etwas erstaunt, als mich der Künstler dann höchstselbst auf dem Handy anrief und zum Gespräch bat.

Als er die Tür zum Backstageraum öffnete, trug er einen Blink-182-Kapuzenpullover, hatte ein Rotweinglas in der Hand und grinste mich an. Es war unser zweites Interview, wovon er aber vermutlich nichts wusste. Ich hatte das Album schon seit Anfang des Jahres und war schwer begeistert, musste aber erst noch was anderes loswerden:
“Hi, ist Simon nicht da? Ich hätte hier ein Demo für ihn. Sind Bekannte von mir, die machen so Strokes-mäßigen Indierock.”

Und Thees sagte so was wie: “Zeig mal hier”, guckte auf die Tracklist und sagte triumphierend: “Gott sei Dank, sie singen Englisch!” Dann legte er die CD in seinen Laptop und drückte auf Play. Zu den ersten Takten von “At All” sang er “Ein Volk steht wieder auf …”, weil der Beat was von kettcars “Deiche” hat. Er skippte sich durch die sechs Songs und sagte die goldenen Worte: “Wenn ich die morgen noch geil finde, wenn ich wieder nüchtern bin, dann sign ich die!” Dann erst konnte ich mein Interview beginnen.

Als Gerne Poets, der Manager, während des Interviews kurz vorbeischaute, erklärte ihm Thees im Überschwung, er habe gerade ein Demo gehört und werde eine neue Band beim Grand Hotel van Cleef unter Vertrag nehmen. Gerne dachte vermutlich das gleiche wie ich: “Ja, klar. Laberlaber!” Acht Wochen später stand ich im E-Werk in Erlangen und sah die Kilians im Vorprogramm von Tomte spielen.

Seitdem ist viel passiert: Die Bands gibt es nicht mehr, einige von uns sind Väter geworden, die meisten Leute habe ich seit Jahren nicht gesehen. Aber diese vier Tage, die ich mit Tomte und den Kilians auf Tour war, als wir in Stuttgart im Copy Shop hunderte von CD-Booklets nachdrucken lassen mussten und auf allen verfügbaren Laptops diese EP gebrannt haben (teilweise am Merchstand: “Hi, ich hätte gerne die CD von der Vorgruppe!” — “Ja, kleinen Moment, gleich ist wieder eine fertig!”), als ich die Songs von Tomte Abend für Abend gehört habe, als sich mein Leben wie “Almost Famous” anfühlte und wir für eine kurze Zeit überzeugt davon waren, dass es im Leben nichts wichtigeres, bedeutsameres und größeres geben könne als Rockmusik, das alles wird für immer bleiben. Auf einem Platz in meinem Herz steht Dein Name an der Wand und ich will, dass Du es erfährst.

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Musik

Never Go To Work Again

Ich habe noch ziemlich lebhaft vor Augen, wie mein kleiner Bruder mir irgendwann Ende September 2005 ein paar MP3s mit dem Hinweis schickte: “Hier, das sind Kumpels von mir — hör Dir das mal an!” Ich hatte ungefähr 20 Sekunden gehört, als mein Unterkiefer buchstäblich herunterklappte. “Kumpels von Dir, ja? Aus Dinslaken?! Nicht aus New York?!”

Rund vier Wochen später sah ich die Band zum ersten Mal live, am vielleicht un-rock’n’rolligsten Ort der Welt: Im Bochumer “Haus der Freunde” auf einer Party des Modellstudiengangs Medizin. Neben einem kalten Buffet standen fünf Jungs mit ihren Instrumenten und ich weiß noch, dass ich damals dachte: “Das sind ja noch Kinder!” Gerockt haben sie damals aber schon wie die ganz Großen und so notierte ich am folgenden Tag in meinem Tagebuch:

The Kilians gestern waren so fein, wie ich es erwartet hatte. Mann, die werden hoffentlich mal richtig groß.

Vier Monate später spielte die Band im Vorprogramm von Tomte — ein Triumphzug durch die mittelgroßen Konzerthallen der Republik. Der Artikel aus dem Bandnamen verschwand, das Debütalbum wurde von der Musikpresse vorsichtig euphorisch aufgenommen, die Band wurde zwei Mal für die “Einslive-Krone” nominiert und erspielte sich als Support von Coldplay, auf den Festivals und in den Clubs der Republik eine treue Fangemeinde.

Aus den Kindern von damals sind inzwischen erwachsene Männer geworden und das ist auch der Grund, warum die Kilians jetzt den Stecker ziehen:

Job, Studium und Familie ließen sich kaum mit einer Festivalsaison oder gar einem neuen Album vereinen.

Bevor die Band in die ewigen Jagdgründe – oder in den Limbus vor der Comeback-Tour – geschickt wird und sich die Jüngeren nur noch an das Sample in Cros “Einmal um die Welt” erinnern können, haben die Kilians im Sommer eine Abschiedstour angekündigt.

Unter der knackigen Überschrift “Das letzte Mal live und in Farbe, fresh und unbekannt, die Strokes vom Niederrhein” geht es in zwei Wochen ein letztes Mal auf die Straße:

Tourplakat4. Dezember: Düsseldorf, Zakk
5. Dezember: Hamburg, Knust
6. Dezember: Dortmund, FZW (VISIONS Party)
7. Dezember: Bremen, Tower
8. Dezember: Berlin, Postbahnhof
10. Dezember: Hannover, Lux
11. Dezember: München, Backstage
12. Dezember: Stuttgart, Keller Klub
13. Dezember: Wiesbaden, Schlachthof
15. Dezember: Köln, Gebäude 9

Das “Haus der Freunde” in Bochum oder die Kathrin-Türks-Halle in Dinslaken sind diesmal also nicht dabei, aber für den Dortmunder Auftritt verlosen wir mit der freundlichen Unterstützung vom Grand Hotel van Cleef 2×2 Gästelistenplätze.

Beantworten Sie dazu bitte folgende Frage: Welchen Kilians-Song hat Cro bei “Einmal um die Welt” gesampelt?

Die Gewinner werden unter all denen gezogen, die die richtige Antwort bis zum 3. Dezember 2013, 23:59:59, an gewinnegewinnegewinne@coffeeandtv.de schicken, und anschließend benachrichtigt.

Kleingedrucktes: Die E-Mails und dazugehörigen E-Mail-Adressen werden nur für das Gewinnspiel verwendet und danach entsorgt. Jeder Teilnehmer darf nur eine E-Mail schicken. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

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Musik

Was macht ein Klischee zum Klischee?

Ich bekomm ja irgendwie gar nichts mehr mit.

Im April, zum Record Store Day, hatte das Hamburger Traditionslabel Grand Hotel van Cleef bekanntgegeben, dass Labelgründer und kettcar-Chef Marcus Wiebusch eine Solo-EP veröffentlichen werde. (Aufmerksame Beobachter von Wiebuschs Leben ‘n’ Werk wissen natürlich, dass es sich dabei nicht um seine “erste” Solo-Veröffentlichung handelt.) Ich hab die Vinyl-Scheibe am Record Store Day nicht bekommen und das ganze dann völlig aus den Augen verloren.

Letzte Woche fiel mir dann wieder ein, dass ich die EP ja auch digital kaufen könnte — seitdem läuft “Nur einmal rächen” bei mir auf Dauerrotation:

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Mal davon ab, dass das neben “Safe And Sound” die eingängigste Bläser-Hookline des Jahres sein dürfte, ist das auch textlich ein großer Wurf: Die Geschichte vom ewigen Nerd (“Nur Einmal Rächen, Digger”), der es geschafft hat und jetzt auf die – schon bei R.E.M. zitierte – George-Herbert-Sentenz setzt, wonach ein gutes Leben die beste Rache sei. Das klingt schon beim zweiten Hören nicht mehr ganz so überzeugend und genau dieses Kippeln auf dem schmalen Grat macht den Reiz dieses Liedes aus.

Das dazugehörige Album soll, wie Marcus Wiebusch im April mitteilte, “bald” erscheinen.

Schon das zweite Soloalbum veröffentlicht Thees Uhlmann, inzwischen dann wohl tatsächlich Ex-Sänger von Tomte und ein weiterer GHvC-Labelgründer. Mit dem Erstwerk “Thees Uhlmann” bin ich ja nie so recht warm geworden und es spricht vieles dafür, dass mich der Nachfolger “#2” noch kälter lassen wird.

Oder auch: noch ratloser.

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Schönes Video, war sicher nicht billig, aber … puh.

Die Aussage, jemand könne “auch das Telefonbuch von Wuppertal vorsingen” ist ja eher selten wörtlich zu nehmen und auf den Wikipedia-Eintrag zum 7. März zu übertragen.

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Musik

Haut es mit Edding an die Wände

Irgendwann im Herbst 2002 sagte ein Kumpel zu mir: “Ey, ich war grad auf der Visions-Party. kettcar haben gespielt, die könnten Dir auch gefallen!” Also machte ich das, was man damals so machte, ging in die Tauschbörsen und schaute, was es dort so gab.

Ich weiß nicht mehr ganz genau, welches Lied ich dann als erstes gehört habe, aber es müsste “Im Taxi weinen” oder “Genauer betrachtet” gewesen sein. Letzteres ist bis heute meine Lieblingslied von kettcar, ersteres berührte mich damals auf Anhieb, ohne dass ich gleich verstanden hätte, worum es eigentlich ging. Überhaupt hatten die Songs über frisch gescheiterte Beziehungen, Partynächte mit den besten Freunden und das Scheitern von Lebensentwürfen vergleichsweise wenig mit meiner Lebenswirklichkeit als Zivildienstleistender in einer niederrheinischen Kleinstadt zu tun — aber ich liebte sie von Anfang an.

Nach ein paar Wochen kaufte ich mir in der CD-Abteilung der Drogerie Müller in Essen dann endlich “Du und wieviel von Deinen Freunden”, das mich seitdem geprägt hat wie kaum ein anderes Album. Über Jahre waren die Texte, die ich in mein privates Blog hämmerte, und die Musik-Rezensionen, die ich im Internet veröffentlichte, voll von direkten Zitaten aus und Verweisen auf kettcar-Songs.

Na dann herzlichen Glückwunsch.
Das Geld kommt aus der Wand.
Entschuldigung, sind Sie? Wir müssen Ihnen mitteilen.
Und wer bei zehn noch steht hat recht.
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
Komm schon, Großhirn, wünsch mir Glück.
Die Summe unseres Alltags in zwei gepackten Koffern.
Dieses Bild verdient Applaus.
Der Tag an dem wir uns “We’re gonna live forever” auf die Oberschenkel tätowierten.
Solang die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende.
Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt, den Rest kriegt mein Friseur.
Ist man jetzt, wo man nicht mehr high ist, froh dass es vorbei ist?
Ich danke der Academy.
Aufstehen, atmen, anziehen und hingehen, zurückkommen, essen und einsehen zum Schluss, dass man weitermachen muss.

Von …But Alive und Rantanplan, den Vorgängerbands von kettcar, hatte ich damals natürlich schon gehört, hatte sie aber nicht genug auf dem Schirm gehabt, um von Anfang an mitzukriegen, wie Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff erst kettcar und dann, weil keine Plattenfirma der Republik das Album rausbringen wollte, gemeinsam mit Thees Uhlmann das Grand Hotel van Cleef gründeten. Aber ab Dezember 2002 war ich dabei.

Ich erinnere mich an mein erstes kettcar-Konzert im Zakk in Düsseldorf im Januar 2003, an den Tourabschluss im Index in Voerde (of all places!) und an die vielen, vielen Konzerte in kleinen Clubs, größeren Hallen und auf Festivals, die danach kamen. An die langen Monate, in denen ich gefühlt nur ein Album im Discman hatte.

Ich erinnere mich an meine erste Reise nach Hamburg und daran, wie ich am Hauptbahnhof “Du und wieviel von Deinen Freunden” einlegte und es auf der S-Bahn-Fahrt nach St. Pauli beinahe schaffte, dass “Landungsbrücken raus” an genau der richtigen Stelle lief. Dass ich damals nach Hamburg ziehen wollte, wegen “Absolute Giganten” und dieser Band.

Ich erinnere mich daran, wie ich wegen einer Verkettung von Zufällen als einer der Ersten die Promo zum zweiten Album “Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen” zugeschickt bekam, weil ich eine Presseinfo dazu schreiben sollte. Der Text wurde glücklicherweise nie veröffentlicht, weil Thees Uhlmann auch einen geschrieben hatte, der natürlich besser und näher dran war. Und ich erinnere mich daran, wie ich dann am Veröffentlichungstag bei ElPi in Bochum stand und die Special Edition des Albums nach hause schleppte.

Ich erinnere mich an die Beiträge in den “Tagesthemen”, bei “Polylux” und an die fast ganzseitige Geschichte in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”, an die vielen Konzerte, die ich zum zweiten Album besucht habe, und an das Plakat zum Album, das meine gute Freundin Martina Drignat gestaltet hatte, und das jahrelang an meiner Zimmertür im Studentenwohnheim hing (abwechselnd innen und außen).

Ich erinnere mich an “Sylt”, das dritte Album, zu dem ich erst keinen rechten Zugang fand, und das, als ich dann in die Erwachsenenwelt von Ökonomie, Abschieden und Älterwerden hineinstolperte, schon da war und auf mich wartete. Ich erinnere mich an das Konzert in Dortmund im Oktober 2009, bei dem Marcus Wiebusch Texte und Akkorde vergaß und die Band vor den Augen der Zuschauer auseinander zu fallen drohte. Sie standen auf und machten weiter.

Ich erinnere mich ans Bochum Total 2011, als kettcar ihren neuen Song “Nach Süden” spielten, über einen Mann der nach anderthalb Jahren die Krebsstation im Krankenhaus lebend verlässt. Es war auf den Tag genau der fünfte Jahrestag der Beerdigung eines sehr lieben Verwandten, der das nicht geschafft hatte, und ich stand da mit Gänsehaut und feuchten Augen und wollte die Band wie so oft umarmen.

Im Frühjahr erschien dann “Zwischen den Runden”, das vierte Album der Band. Es war, wie schon “Sylt”, anders, nicht so leicht zugänglich und weit von den Hymnen der ersten beiden Alben entfernt. Aber es beginnt mit “Rettung”, dem schönsten Liebeslied, das je geschrieben wurde:

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Ende August feierte das Grand Hotel seinen zehnten Geburtstag auf der Trabrennbahn in Hamburg. kettcar spielten als letztes und ihr Auftritt war von Anfang an wie ein Klassentreffen — nur im positiven Sinne. Um mich herum standen lauter Menschen, die mit kettcar erwachsen geworden waren, und es tat gut zu sehen, dass die Band immer noch da war. Bei “Landungsbrücken raus”, an der wichtigen Stelle “2002 the year Schwachsinn broke”, ging plötzlich Pyrotechnik los und es regnete Gold. Eigentlich ein bisschen too much für diese bescheidene Band, die es nie drauf angelegt hat, im Radio gespielt zu werden, aber in diesem Moment verdammt angemessen.

kettcar waren schon kurz vor der Neuesten Deutschen Welle da gewesen, und sie sind jetzt immer noch da, wo man kaum noch das Radio einschalten kann, ohne von einem dieser neuen Schlagerheinis angenuschelt zu werden, auf die das Adjektiv zutrifft, dass kettcar damals vielleicht sogar erfunden haben: “befindlichkeitsfixiert”. Von meinen Helden von damals sind sie die letzten Verbliebenen: Tomte sind einfach nicht mehr da und Thees Uhlmann besingt tote Fische, muff potter. haben sich selbst den Stecker gezogen und Jupiter Jones, denen ich ihren späten Durchbruch ja eigentlich wirklich von Herzen gönne, spielen jetzt gemeinsam mit Anastacia und fucking Mick Hucknall (“The Voice Of Simply Red”) bei der “AIDA Night of the Proms”.

Am Freitag erschien “Du und wieviel von Deinen Freunden” in der “10 Jahre Deluxe Edition”, die man vielleicht nicht ganz zwingend braucht, wenn man eh schon alles von kettcar hat, aber die mit diesem wunderschönen Trailer daherkommt:

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Am Sonntag habe ich kettcar beim Visions Westend in Dortmund wieder live gesehen, zum insgesamt 15. Mal, wenn ich richtig gezählt habe. Es war einer ihren besten Auftritte. Die Menschen, an die ich beim Hören denke, sind im Laufe der Jahre andere geworden, aber die Songs sind immer noch so gigantisch groß wie damals, als ich sie zum ersten Mal gehört habe.

I’d like to thank the academy (academy, academy).