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Musik

Listenpanik 09/​09

Irgend­wie habe ich das Gefühl, dass immer mehr Musik ver­öf­fent­licht wird. Kau­fen tut die zwar außer mir nie­mand mehr, aber ich bin doch ger­ne Kon­junk­tur­mo­tor für die Die­ter Gor­nys die­ser Welt. Nur hören muss man den gan­zen Quatsch ja auch noch irgend­wann, auch dann, wenn man eigent­lich voll mit der Wert­schät­zung des Beat­les-Box-Sets beschäf­tigt ist.

Aber irgend­wie habe ich dann doch noch ganz viel neue Musik gehört und für irgend­wie emp­fehl­bar gehal­ten. Wie immer ist alles streng sub­jek­tiv und in Kür­ze wie­der ganz anders, aber begin­nen wol­len wir eh mit einem Kan­di­da­ten fürs Album des Jah­res:

Alben
Ele­ment Of Crime – Immer da wo Du bist bin ich nie
In den ver­gan­ge­nen drei Jah­ren habe ich im Herbst jeweils eines von Sven Rege­ners phä­no­me­na­len Frank-Leh­mann-Büchern (näm­lich, in der Rei­hen­fol­ge: „Neue Vahr Süd“, „Herr Leh­mann“, „Der klei­ne Bru­der“) gele­sen. Die­ses Jahr gibt es kein neu­es Buch, aber glück­li­cher­wei­se ein neu­es Album von Rege­ners Band Ele­ment Of Crime. Dass das famos ist und ganz locker das Bes­te, was in die­sem Jahr bis­her in deut­scher Spra­che erschie­nen ist, muss man ja kaum noch erwäh­nen, das erzählt einem ja eh jeder, ohne danach gefragt wor­den zu sein. Musi­ka­lisch gibt’s ein paar Tex-Mex-Anlei­hen, es rockt ins­ge­samt ein biss­chen mehr (bei man­chen Stü­cken sind gar ech­te Drum­sticks zu hören!), aber die an sich schon gute Musik der Band ver­blasst natür­lich weit­ge­hend gegen die Tex­te, die auch dies­mal wie­der – las­sen Sie mich hier eine For­mu­lie­rung mei­nes liebs­ten Ger­ma­nis­tik-Dozen­ten ver­wen­den – unend­lich gut sind. Zita­te ver­bie­ten sich, alles top!

Vol­ca­no Choir – Unmap
Jus­tin Ver­non ist mit sei­ner Band Bon Iver inner­halb von andert­halb Jah­ren zum Lieb­ling des Indie-Folk gewor­den. Inzwi­schen bin auch ich mir sicher: Es gab 2008 kein Album, das bes­ser war als „For Emma, Fore­ver Ago“. Jetzt hat Ver­non mit Mit­glie­dern der Band Coll­ec­tions Of Colo­nies Of Bees das Pro­hekt Vol­ca­no Choir gegrün­det. Sein Fal­sett-Gesang ist wie­der herz­zer­rei­ßend (und viel­leicht etwas spe­zi­ell), auch wenn es nicht all­zu viel Text gibt. Man­che Stü­cke sind kaum noch Songs, son­dern eher Klang­col­la­gen. Aber die Atmo­sphä­re ist beein­dru­ckend, man­ches, wie „Still“ (das den Auto­tu­ne-Trip „Woods“ von Bon Ivers „Blood Bank“-EP recy­celt) erin­nert gar an Radio­heads „Kid A“.

Mika – The Boy Who Knew Too Much
Das berühm­te schwie­ri­ge zwei­te Album, mit dem man an die Erfol­ge des Ers­ten anschlie­ßen muss/​will/​soll. Mikas Pop­per­len erwe­cken nicht den Ein­druck, als sei­en sie ihrem Schöp­fer schwer gefal­len – also ste­cken ver­mut­lich Ton­nen von Blut, Schweiß und Trä­nen in die­sen schil­lern­den Klein­oden. Unglaub­lich, wie vie­le Anklän­ge und Ver­wei­se der „Para­dies­vo­gel“ Mika (aus dem Voka­bu­lar von Men­schen, für die ein Abend im Chi­na­re­stau­rant „exo­tisch“ ist) in jeden ein­zel­nen sei­ner Songs packen kann: Alles erin­nert an irgend­et­was ande­res und ist doch ein­deu­tig Mika. Die Abgrün­de, die sich unter dem Zucker­guss auf­tun, sind die der Ado­les­zenz. Dar­an will sich nie­mand mehr erin­nern, wes­we­gen man lie­ber stumm der Plat­te lauscht und spä­tes­tens bei „By The Time“, der Kol­la­bo­ra­ti­on mit Imo­gen Heap (s.a. unten), eine amt­li­che Gän­se­haut bekommt.

Imo­gen Heap – Ellip­se
Wenn man ein Album wirk­lich liebt, hat es der Nach­fol­ger oft schwer. „Speak For Yours­elf“ von Imo­gen Heap war so ein Album und „Ellip­se“ hat den Nach­teil, einer­seits sehr ähn­lich zu klin­gen, ande­rer­seits nicht über die ganz gro­ßen Top-Songs zu ver­fü­gen wie der Vor­gän­ger. Das wich­tigs­te Instru­ment ist natür­lich Imo­gen Heaps Stim­me selbst, die wie­der viel­sei­tig ein­ge­setzt über­ein­an­der geschich­tet wird, dazu gibt es mal schnel­le­re, mal lang­sa­me­re Elek­tro­beats. Den­noch ist „Ellip­se“ ein orga­nisch klin­gen­des, atmo­sphä­risch dich­tes Album, das sich jetzt schon für kal­te Win­ter­aben­de emp­fiehlt („The Fire“ kommt sogar gleich mit Kamin­knis­tern).

Zoot Woman – Things Are What They Used To Be
Wenn Stuart Pri­ce nicht gera­de Musi­cal Direc­tor bei Madon­na ist, die alte Tanz­trul­la oder die Kil­lers pro­du­ziert, oder unter einem sei­ner Tau­send Ali­a­se Remi­xe erstellt, hat er ja auch noch eine Band namens Zoot Woman. Deren drit­tes Album erschien nur andert­halb Jah­re nach der Vor­ab­sin­gle „We Won’t Break“ (was aber auch noch zügig ist, ver­gli­chen mit – sagen wir mal – Geor­ge Micha­el). Über­all zirpt und plu­ckert es in bes­ter Acht­zi­ger-Jah­re-Tra­di­ti­on und ein paar sym­pa­thi­sche Tanz­bo­den­fül­ler sind auch dabei.

Kings Of Con­ve­ni­ence – Decla­ra­ti­on Of Depen­dence
Nach­dem Erlend Øye mit The Whitest Boy Ali­ve eines der Alben für den Som­mer gelie­fert hat­te, legt er jetzt mit den Kings Of Con­ve­ni­ence nach und will auch noch den Herbst domi­nie­ren. Das wird ihm sicher gelin­gen, denn die mal schwel­gen­den, mal groo­ven­den Akus­tik­songs, die er mit sei­nem Band­kol­le­gen Eirik Glam­bek Bøe auf­ge­nom­men hat, füh­len sich unge­fähr so woh­lig an wie eine Kan­ne hei­ßen Kakaos. Das kann man ganz und gar unspek­ta­ku­lär fin­den, aber auch ein­fach toll – viel­leicht sogar gleich­zei­tig.

Gods Of Blitz – Under The Radar
Bei einer Bestands­auf­nah­me deut­scher Bands, die eng­lisch sin­gen, ver­gisst man ja ger­ne alles unter­halb von Kili­ans und Slut – die Zei­ten, wo Bands wie Rea­dy­ma­de und Miles von ein­hei­mi­sche Musik­zeit­schrif­ten und sogar ‑sen­dern (die Älte­ren wer­den sich erin­nern) gewür­digt wur­den, sind eben vor­bei, heut­zu­ta­ge singt man deutsch. Bei den Gods Of Blitz aus Ber­lin wird hin­ge­gen auf Eng­lisch gesun­gen (und das auch noch von einem neu­en Sän­ger, denn der alte ist weg). Eine kla­re Linie ist auch beim drit­ten Album noch nicht zu erken­nen, da wird viel belie­hen und zitiert, und doch ist „Under The Radar“ ein sym­pa­thi­sches Indie­rock-Album, das in sei­nen guten Momen­ten schön nach vor­ne prescht. In eini­gen Songs mei­ne ich, Danko-Jones-Refe­ren­zen erkannt zu haben und „New Dimen­si­on“ taugt sogar zum Ohr­wurm.

Songs
Ele­ment Of Crime – Immer da wo Du bist bin ich nie
Jetzt muss ich doch mal was zitie­ren: Ein Lied­text, der mit „Immer wenn ich Pil­len nahm /​ Und hin­ter­her beim Fahr­rad fah­ren /​ Im Stein­tor in die Ril­len kam /​ Gezo­gen für die Stra­ßen­bahn“ beginnt, kann sehr, sehr platt und albern klin­gen. Kann, muss aber nicht, denn bei Sven Rege­ner klingt es immer noch eini­ger­ma­ßen lebens­wei­se. Dazu eine char­mant nach vorn groo­ven­de Band und ein schlich­ter, aber ein­gän­gi­ger Refrain, des­sen kom­plet­ter Text bereits im Titel ver­ra­ten wird.

Mika – We Are Gol­den
„We are not what you think we are /​ We are gol­den /​ We are gol­den“ – Falls Sie sich immer schon gefragt haben, ob man eigent­lich auch von gespro­che­nen Pas­sa­gen einen Ohr­wurm bekom­men kann, beant­wor­tet Mika Ihnen die­se Fra­ge hier völ­lig selbst­los: Aber sicher. Und dann die­ses Intro, das klingt, als hät­ten Queen und Abba gemein­sam mit Phil Spec­tor das Gesamt­werk Richard Strauss‘ in acht Tak­te kon­den­sie­ren wol­len. Der­art ope­ret­ti­ges muss man natür­lich lie­ben (und die Zahn­pas­ta immer griff­be­reit haben), aber ich lie­be es und die von einem Kin­der­chor (Jahaaa! Wenn, dann rich­tig!) gekreisch­te Pas­sa­ge obi­gen Wort­lauts ist mein Man­tra für die­sen Herbst. Was für ein sen­sa­tio­nell über­kan­di­del­ter Song! Fünf vor „beknackt“, aber toll!

Juli­an Casa­blan­cas – 11th Dimen­si­on
Apro­pos „beknackt“: Ich kann ja ver­ste­hen, wenn man den Song aus volls­tem Her­zen ablehnt, aber ich möch­te zu beden­ken geben, dass die Strokes auf ihrem letz­ten Album ja auch „Man­dy“ von Bar­ry Mani­low geco­vert (und es „Razor­b­la­de“ genannt) haben. Ich kann mir mei­nen soft spot für any­thing eight­ies ja auch nicht rich­tig erklä­ren, aber das ist dann doch schon eine wun­der­bar ver­spul­te Num­mer. „For­gi­ve them /​ Even if they’­re not sor­ry“ – Eben!

Vol­ca­no Choir – Island, IS
Wenn es auf „Unmap“ einen Track gibt, von dem man sich vor­stel­len könn­te, dass er in einem Moment beson­de­rer Unacht­sam­keit sei­tens der Musik­re­dak­ti­on auch mal im Radio läuft, dann „Island, IS“, die Sin­gle. Man könn­te den Song bei­na­he als „tanz­bar“ bezeich­nen, weil er sich durch einen trei­ben­den Beat aus­zeich­net. Text gibt’s auch, wenn auch nicht sehr ver­ständ­lich. Ach, ein­fach anhö­ren!

Kings Of Con­ve­ni­ence – Me In You
„I see you buil­ding that cast­le with one hand while you’­re tearing down ano­ther with the other“ ist so ein Bild, für das man kei­nen Kon­text mehr braucht. Ein­fach eine star­ke Zei­le und ein wun­der­schö­ner Song.

[Lis­ten­pa­nik, die Serie]