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Straßenschäden unter sich

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat heute in einer – zugegebenermaßen schön bebilderten – Presseerklärung bekanntgegeben, wie ihr „Wort des Jahres 2024“ lautet: „Ampel-Aus“.

Gemeint ist damit das Scheitern der Bundesregierung aus SPD (rot), FDP (gelb) und Grünen (nun …), die im sogenannten Volksmund als „Ampel-Koalition“ oder schlicht als „Ampel“ bekannt war.

Nun zögere ich als studierter Linguist, die GfdS (nicht zu verwechseln mit dem „Verein Deutsche Sprache“, einer Art Vorfeld-Organisation der AfD) zu kritisieren, aber ich bin der Meinung, dass mit dieser Auszeichnung eine zunehmende Infantilisierung der Polit-Kommunikation gewürdigt und damit auch weiter vorangetrieben wird.

Bei dem legendär-öden Pressetermin in der Bayerischen Vertretung in Berlin, auf dem er Friedrich Merz mit einem mittel-enthusiastischen „Ich bin damit fein“ zum Kanzlerkandidaten der Union kürte, sprach Markus Söder mehrfach vom „Ampelschaden“, als sei er ehrenamtlicher Bürgermeister einer Kleinstadt, die über eine einzige Kreuzung verfügt. Dem Adjektiv „staatstragend“ kam der bayerische Ministerpräsident damit so nahe wie der Wachtmeister Dimpfelmoser, aber den würde Söders Kernzielgruppe, der Stammtisch (bzw. dessen Bewohner), wahrscheinlich auch nach zwei Maß Bier noch freundlich grüßen.

Ampel-Aus-Symbolbild (Foto: Lukas Heinser)

Die „Ampel“, das ist für Menschen, die auf Social Media gerne erklären, dass sie „selbst denken“, die Vorstufe zu „rot-grün-versifft“, zum „Kinderbuchautor“ Robert Habeck, zum müffeligen Namenswitz „Greta Thunfisch“: eine vermeintlich originelle Formulierung, die man irgendwo zwischen „Welt“-Kommentarspalte, Gabor Steingarts Lebenswerk und Facebook aufgelesen hat, die man als Erkennungszeichen für Gleichgesinnte vor sich herträgt und die ihre eigene Replik gleich mitbringt: „Okay, Boomer!“

„Ampelzoff“ war schon 2023 unter den „Wörtern des Jahres“ gewesen, was eine gewisse Fixierung auf Wörter der Duden-Kategorie „veraltend“ nahelegt (Kunden, die „zoffen“ kauften, interessierten sich auch für „pennen“, „funzen“ und „bumsen“), andererseits sprechen die meisten weiteren Begriffe aus den Top 10 nicht dafür, dass sich die Gesellschaft für deutsche Sprache an das Luther’sche Diktum hält, dem Volk aufs Maul zu schauen: „Klimaschönfärberei“, „kriegstüchtig“, „Rechtsdrift“, „generative Wende“, „SBGG“, „Life-Work-Balance“, „Messerverbot“, „angstsparen“ und „Deckelwahnsinn“ wirken jedenfalls nicht, als könnten sie – um mal ein beliebiges Wort zu verwenden, das 2024 tatsächlich viel zu hören war – das popular vote gewinnen.

Von Guido Westerwelle ist ein überraschend poetischer (auch Joachim Ringelnatz und Ernst Jandl sind Poesie) Moment überliefert, in dem er einmal erklärte: „Wir gehen in keine Ampel, Schwampel und andere Hampeleien sind mit uns nicht zu machen.“ Das ist allerdings so lange her, dass der Fußballverein, für den Kevin Kampl heute spielt, noch gar nicht gegründet war.

Die allererste Regierungskoalition der Bundesrepublik aus CDU/CSU, FDP und DP hatte keinen Spitznamen, der sich bis heute erhalten hätte, was auch daran gelegen haben mag, dass man die Farben der Deutschen Partei (schwarz-weiß-rot) jetzt vielleicht nicht mehr als unbedingt nötig hervorheben wollte. 1953 wurde diese Koalition noch um den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten erweitert, wirklich in Erinnerung blieb aber eh nur der Bundeskanzler: Konrad Adenauer. Der konnte von 1957 bis 1961 alleine (also: mit absoluter Mehrheit für die Union) regieren und saß ab 1961 einer Koalition vor, die man heute „schwarz-gelb“ nennen würde (oder, für die Teilzeit-Komiker der Hauptstadtpresse: „BVB“), damals aber nicht, weil die FDP Gelb erst seit 1972 einsetzt. Entsprechend regierte sie mit der SPD zusammen auch als „sozial-liberale Koalition“, was heute geradezu rührend aussagekräftig wirkt, wo man derlei Inhaltsangaben nur noch in bizarren Schwundstufen wie dem „Gute-Kita-Gesetz“ begegnet. Die Regierungen von 1966-1969, 2005-2009 und 2013-2021, die aus Union und SPD bestanden, nannte man „große Koalition“, weil sie – zumindest anfangs – eine erhebliche Mehrheit der Abgeordneten abdeckte.

In den 1980er Jahren begann das Farbenspiel. Das hat wenig mit dem gleichnamigen Album von Helene Fischer zu tun, wohl aber mit ihrem Namensvetter Joschka. Einer der vielen ungeschriebenen Artikel meines Jahres hätte deshalb die Geschichte dieses Begriffs zurückverfolgen sollen (denn ich liebe wenig mehr an meiner journalistischen Arbeit, als mich stundenlang durch Archive zu wühlen, eine erstaunliche Menge Beifang mit meinen peers zu teilen und daraus hinterher einen Text zu schnitzen, bei dem die Redaktion kritisch eine Augenbraue hebt und sagt: „Das ist jetzt selbst für Deine Verhältnisse extrem nerdig!“), bis in die frühen 1990er Jahre und zu einem Mann namens Björn Engholm, der für kurze Zeit das war, was nach ihm viele waren: Der schnell vergessene Hoffnungsträger der SPD.

Vorbei die Zeiten wie im November 1992, als die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb:

Fertig ist sie, die ‘Ampelkoalition’, die wir deshalb in Gänsefüßchen setzen, weil wir uns unter diesem Gebilde technisch nichts vorstellen können.

Dass Naturwissenschaften im öffentlichen Diskurs eher eine Nebenrolle spielen, wissen wir spätestens seit der Covid-19-Pandemie, und zu den Dingen, die über Eure Vorstellungskraft gehen, gehört allenfalls eine Bobmannschaft aus, genau: Jamaika.

In der medialen Dauer-Erregung schon lang vergessen ist das Wort „Schwampel“ (für: „schwarze Ampel“), das Jörg Schönenborn am Wahlabend 2005 mit besorgniserrgendem Verve in den aktiven Wortschatz seiner Gesprächspartner*innen und Zuschauer*innen überführen wollte. Es klingt, als würde es etwas sehr, sehr Ekliges beschreiben — mutmaßlich das knorpelige Stück Fleisch, das man beim Mittagessen bei der „feinen“ Oma plötzlich im Mund hat und sich nicht auszuspucken traut (was, seien wir ehrlich, andererseits nah dran ist an dem, was man von einer schwarz-gelb-grünen Koalition erwarten kann).

Dann hat irgendjemand den Flaggen-Atlas seines Kindergartenkindes mit in irgendeine Redaktion gebracht und nach intensivem Studium und sicherlich tagelangen Konferenzen wurde beschlossen, fürderhin den Begriff „Jamaika-Koalition“ zu verwenden. Heute könnte man über die Gleichsetzung der Begriffe „schwarze Ampel“ und „Jamaika“ noch mal ganze post-koloniale, rassismuskritische Diskurse aufsperren, aber der Gelbe Wagen, er ist inzwischen in jeder Hinsicht weitergerollt, und es liegt eine feine Ironie darin, dass die Cannabis-Legalisierung eben nicht von einer Jamaika-Koalition beschlossen wurde. (Als Led Zeppelin einen Reggae-lastigen Song aufnahmen, nannten sie ihn „D’yer Mak’er“, was man [dʒəˈmeɪkə] aussprechen sollte, also wie den Inselstaat, was The Hold Steady in ihrem Song „Joke About Jamaica“ noch mal thematisieren, uns aber leider gerade nirgendwohin bringt.)

Der Flaggen-Atlas blieb in der Redaktion und erwies sich als praktisch, als schwarz-rot-grüne Regierungsbündnisse gebildet und benamt werden mussten: „Afghanistan“ hatte einen in vieler Hinsicht unglücklichen Beiklang (und nach Gras auch noch Opium in die politische Kommunikation einzuführen, hätte vielleicht auch merkwürdig gewirkt — eine „Kolumbien“-Koalition aus SPD, FDP und AfD scheint wenigstens erstmal ausgeschlossen), weswegen sich die Medien mehrheitlich auf „Kenia“ verständigten.

Die weiteren tektonischen Ereignisse in der Parteienlandschaft stellen Redaktionen und Parteien vor immer neue Probleme: Für schwarz-rot-lila hatte nichtmal mehr Sheldon Cooper eine Flagge parat, weswegen sich Berichte aus Thüringen nun um eine „Brombeer-Koalition“ ranken. Und anstatt dass irgendjemand mal innehält und sich (und bestenfalls auch andere) fragt, ob das nicht langsam alles ein bisschen albern wird, wird wahrscheinlich schon wertvolle Arbeitszeit mit der Frage verschwendet, was – zum Henker – eigentlich rot-grün-lila sein könnte oder schwarz-gelb-lila (Menschen mit Gastro-Erfahrungen wissen: Erbrochenes nach Weihnachtsmarkt-Besuch).

Angesichts der angeblichen Polarisierung der Gesellschaft (auch hier hilft ein Blick in Zeitungen von, sagen wir mal: 1968) und der damit einhergehenden Schwarz-Weiß-Einteilung bietet sich als nächste Eskalationsstufe vielleicht eine „Panda-Koalition“ an. Oder einfach, denn jetzt ist auch alles egal: eine „Koalalition“.

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Politik

Nazi und Indianer

Weder Deutsche noch Schweizer sind bekannt für ihren Humor. Das macht ein Aufeinandertreffen der beiden Völker meist zu einem gequälten, drögen Ereignis.

Überhaupt keine Witze verstehen die Schweizer, wenn es ums Geld geht. Nachdem die Schweiz aus Angst vor einer “schwarzen Liste” der OECD angekündigt hatte, in Zukunft stärker mit ausländischen Finanzbehörden zu kooperieren, ließ sich der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück zu einem abenteuerlichen kleinen Vergleich hinreißen:

Steinbrück hatte am letzten Samstag am Rande des Treffens der Finanzminister der G-20 in London die Drohung mit einer schwarzen Liste gegenüber der Schweiz mit der «siebten Kavallerie vor Yuma» verglichen, die man auch ausreiten lassen könne. «Aber die muss man nicht unbedingt ausreiten. Die Indianer müssen nur wissen, dass es sie gibt», hatte Steinbrück in einer vom Schweizer Fernsehen (SF) aufgezeichneten Stellungnahme gesagt.

In der Schweiz wollte man aber nicht mit Indianern verglichen werden und bestellte den deutschen Botschafter ein.

Das offizielle Protokoll der schweizer Bundesversammlung notiert für gestern dann folgende Ausführungen des Abgeordneten Thomas Müller aus der christlich-demokratische Fraktion CEg:

Wenn die deutsche Politik in Schwierigkeiten steckt, und das tut sie im Moment, dann braucht sie Geld und Sündenböcke. Peer Steinbrück, das darf man in aller Offenheit sagen, definiert das Bild des hässlichen Deutschen neu. Er erinnert mich an jene Generation von Deutschen, die vor sechzig Jahren mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde durch die Gassen gegangen sind. (Teilweiser Beifall, Unruhe)

Damit wäre zumindest geklärt, wie gut der Geschichtsunterricht an schweizer Schulen ist — denn vor sechzig Jahren dürfte der Anteil der Deutschen, die mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde durch die Gassen gingen, eher überschaubar gewesen sein.

Ratspräsidentin Chiara Simoneschi-Cortesi wies Müller später zurecht, übersah das historische Detail aber ebenfalls:

Herr Nationalrat Müller Thomas hat in seinem Votum von heute Morgen gesagt, dass ihn der deutsche Finanzminister Steinbrück an die Generation von Deutschen erinnere, die vor sechzig Jahren mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde durch die Gassen gegangen seien. Hätte ich diese Aussage in diesem Moment richtig wahrgenommen, hätte ich Herrn Müller zurechtgewiesen. Seine Aussage ist deplaziert und beleidigend. Ich habe es Herrn Müller persönlich gesagt. Ich entschuldige mich als Ratspräsidentin dafür. (Teilweiser Beifall)

Herr Müller darf sich damit als Erfinder der Kategorie “Verkleidete-Gründerväter-der-Bundesrepublik-Vergleich” fühlen. Der Einfachheit halber heften wir es hier im Blog aber trotzdem bei den Nazi-Vergleichen ab.

[Mit Dank auch an Hans Martin U. für den Hinweis!]

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Politik Gesellschaft

“Mit größter Präzision”

Mahnmal in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm

Zu den ganz großen Rätseln der Menschheitsgeschichte, die einem den Glauben an Zufälle einigermaßen madig machen, zählt der 9. November. Zu dem Umstand, dass so viele wichtige Ereignisse an jenem 9.11., dem “Schicksalstag der Deutschen”, stattfanden (wobei die Ereignisse von 1923 und 1938 natürlich auf die von 1918 aufbauten), kommt auch noch hinzu, dass die amerikanische Schreibweise des 11. Septembers “9/11” lautet. Darüber haben sich überhaupt noch nicht genug Verschwörungstheoretiker Gedanken gemacht.

Anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Novemberpogrome von 1938 möchte ich Sie heute auf einen Text aufmerksam machen, den ich vor einiger Zeit im Internet gefunden habe. Yitzhak Sophoni Herz, der zu dieser Zeit Direktor des jüdischen Waisenhauses in Dinslaken war, hat ihn geschrieben.

At 9:30 A.M. the bell at the main gate rang persistently. I opened the door: about 50 men stormed into the house, many of them with their coat- or jacket-collars turned up. At first they rushed into the dining room, which fortunately was empty, and there they began their work of destruction, which was carried out with the utmost precision.

Hier errichteten 1885 die Juden unserer Stadt ein Waisenhaus. Bis zur Zerstörung durch die Naziverbrecher wurden hier jüdische Vollwaisen betreut.

Herz beschreibt darin mit erstaunlicher Sachlichkeit die Zerstörung des jüdischen Waisenhauses und der Synagoge, also von zwei Gebäuden, von denen ich nicht viel mehr weiß als dass sie dort standen, “wo jetzt die Bohlen-Passage ist” und “da, wo jetzt die Spielhalle ist”. Und er schreibt über Leute, mit denen ich noch im gleichen Supermarkt eingekauft oder in der gleichen Kirche gesessen haben kann, ohne von ihrer Geschichte zu wissen:

[T]he senior police officer, Freihahn, shouted at us: “Jews do not get protection from us! Vacate the area together with your children as quickly as possible!” Freihahn then chased us back to a side street in the direction of the backyard of the orphanage. As I was unable to hand over the key of the back gate, the policeman drew his bayonet and forced open the door. I then said to Freihahn: “The best thing is to kill me and the children, then our ordeal will be over quickly!” The officer responded to my “suggestion” merely with cynical laughter.

Der frühere Standort der Synagoge in DinslakenIch halte solche Schilderungen aus der eigenen Heimatstadt für aussagekräftiger als jede Tabelle mit abstrakten Zahlen. Man beginnt zu begreifen, was da in der Stadt los war, in der man selber 45 Jahre später lebte.

Aber auch wenn Sie noch nie in Dinslaken waren, sei Ihnen “Description of the Riot at Dinslaken” von Yitzhak Sophoni Herz dringend zur Lektüre empfohlen.

Eine gekürzte deutsche Übersetzung des Textes und weitere Augenzeugenberichte aus jener Nacht in Dinslaken finden Sie auf der Website der Städtepartnerschaft von Dinslaken mit dem israelischen Arad.

Weitere Fakten zur jüdischen Gemeinde in Dinslaken gibt es hier, einen Auszug aus einem Buch des Dinslakener Holocaust-Überlebenden Fred Spiegel können Sie hier lesen.

Das Foto ganz oben zeigt das Mahnmal für die Opfer der Pogromnacht in Dinslaken, geschaffen von Alfred Grimm.

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Rundfunk Politik

Präsidiales Liveblog

00:00 Uhr: Jetzt geht’s lo-hos!

Blogger und Arbeitsplatz sind bereit:

Ich gucke seit zehn Minuten ARD und bezweifle jetzt schon, dass ich das wach überstehen werde. Was schon mal ein Fortschritt ist: vor vier Jahren saß in dieser Maischberger-Runde Henryk M. Broder.

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Gesellschaft

Experten

Nun, da wir uns alle einmal über den Mann mit dem albernen Bart und dem unpassenden Namen erregt haben und dieser in einem offenen Brief an den Zentralrat der Juden in Deutschland um Entschuldigung gebeten hat, können wir uns einer wichtigen Frage widmen: Wer ist dieser Hans-Werner Sinn überhaupt?

Vermutlich habe ich in den Nachrichten schon hundertfach von seinem Ifo-Institut gehört und als ich in der Wikipedia vom Ifo-Geschäftsklimaindex las, klingelte es tatsächlich. Aber davon mal ab: Wer ist dieser Mann und was sollte mich dazu bringen, seinen Ausführungen (wenn sie nicht gerade von verfolgten Managern handeln) Glauben zu schenken?

Wenn ein Medium zeigen will, was mit unserer Umwelt passiert oder wie man Energie sparen kann, werden O-Töne von Claudia Kemfert herangeschafft, wenn’s etwas seriöser sein soll Mojib Latif. Tun Jugendliche irgendwo das, was Jugendliche mindestens seit Kain und Abel tun, nämlich zuschlagen, steht das Telefon von Christian Pfeiffer nicht mehr still, und bis vor kurzem konnten Sie sicher sein, Ihre Ernährungstipps von Hademar Bankhofer zu bekommen — egal, welches Medium Sie nutzten.

Braucht ein Journalist ein Statement zum Thema Blogs oder Internet, wendet er sich an Stefan Niggemeier. Der darf auch beim Thema “Medien allgemein” ran, aber nur, solange seine Meinung nicht der Linie des Journalisten zu widersprechen droht – sonst ist Jo Groebel dran. Selbst im Fußball, zu dem nun wirklich jeder Deutsche eine Meinung hat, muss bei jeder Fernsehübertragung ein Experte bereitstehen und erklären, was wir gerade gesehen, aber nur bedingt verstanden haben. Und Henryk M. Broder darf seine Meinung sowieso zu jedem Thema verbreiten.

Der einfache Bürger weiß ja gar nicht, wer diese Menschen sind, die ihm da immer als Experten vorgesetzt werden. Woher kommen sie, was haben sie gelernt, welche eigenen Interessen verfolgen sie gegebenenfalls? (Es soll ja ganze Talkshow-Runden geben, die nur mit Mitgliedern der “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” besetzt sind, einer Lobby-Vereinigung des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall.) Selbst von möglicherweise honorigen Professoren kennt man nur ihre Drei-Satz-Erklärungen aus dem Boulevardfernsehen (“Explosiv”, “Brisant”, “Anne Will”) und wenn man sie nur oft genug gesehen hat, kann man sie sowieso nicht mehr ertragen.

Dabei wäre es ja eigentlich nur wünschenswert, wenn sich tatsächlich die verdientesten und klügsten Leute zu Themen äußern und nicht etwa Ronald Pofalla. Es gibt eher zu wenige Denker in der Öffentlichkeit als zu viele. Die Zeiten, in denen sich der Weimarer Hof mit den weisesten Herren der damaligen Welt schmückte, sind lange vorbei. Fachleute werden von der Politik zwar noch herangekarrt, aber sofort wieder fallen gelassen, wenn ihr Fachwissen sich als unpopulär herausstellen könnte. Fragen Sie mal Paul Kirchhof, den “Professor aus Heidelberg”. (Es geht natürlich noch perfider: Hartz will heute ja nun wirklich niemand heißen.)

Der Grund, warum Medien diese Experten brauchen, ist natürlich klar: Zum einen braucht jedes Thema ein Gesicht, weswegen Hip-Hop ja auch aussieht wie Eminem und Indierock wie Pete Doherty. Zum anderen braucht man jemanden, der Ahnung von einem Thema hat, mit dem man sich gerade zum ersten Mal beschäftigt: Wer morgens in der Redaktionskonferenz die Bekanntgabe des “Vogels des Jahres” aufs Auge gedrückt bekommt, kann nicht bis zur Abgabe noch eine Ornithologie-Studium abschließen.

Vor einiger Zeit behelligte ich einen Geschichtsprofessor mit der Frage, ob er mir für eine Reportage (die immer noch zu schreiben ist) einige Einstiegsfragen beantworten könne. Er teilte mir höflich, aber bestimmt mit, dass Professoren entgegen der weitläufigen Annahme von Journalisten keine Auskunfteien seien, für solche Zwecke gebe es Fachliteratur. Der Mann hat wissenschaftlich natürlich vollkommen recht, aber kein Journalist wird im Tagesgeschäft mal eben ein, zwei, drei Fachbücher lesen können — und der Professor hat sich freilich selbst um eine Karriere als vielzitierter (weil ungelesener) Experte gebracht.

Mehr zum Thema in diesem Beitrag von “Zapp” aus dem letzten Jahr.

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Politik

Ich wär wohl euer Präsident

So langsam bin ich mir nicht mehr sicher, ob die Partei “Die Linke” nicht vielleicht doch ein irres Langzeitprojekt von … sagen wir mal: Christoph Schlingensief ist. Heute jedenfalls hat sie den Schauspieler Peter Sodann als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorgestellt. Warum auch nicht, den USA ging es unter Ronald Reagan ja auch ganz gut und auf einen Kandidaten mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an.

Als Wähler fragt man sich natürlich, warum es bei der Wahl für ein repräsentatives Amt, an der man selbst aktiv gar nicht teilnehmen darf, eine größere Auswahl an Alternativen gibt als bei der Wahl zum deutschen Regierungschef.

Sodann ist aber mitnichten der abwegigste Kandidat, der je Bundespräsident werden sollte, er reiht sich da nur ganz gut ein. Das Politik-und Geschichtsblog Coffee And TV fasst die schillerndsten Persönlichkeiten zusammen:

  • Heinrich Lübke (Präsident von 1959-1969) Auch wenn der berühmte Ausspruch mit den Negern offensichtlich Quatsch ist und der Mann schwer krank war, wird er doch am Ehesten als der “lustige” Präsident in Erinnerung bleiben.
  • Walter Scheel (Präsident von 1969-1974) Der Mann des Volkslieds, der im Fernsehen “Hoch auf dem gelben Wagen” gesungen hat.
  • Luise Rinser (Kandidatin 1984) Kaum durften die Grünen jemanden vorschlagen, taten sie es auch: In Form einer linkskatholischen Schriftstellerin, die sich einmal als “Freundin fürs Leben” von Gudrun Ensslin bezeichnet hatte. Hach, so was ging natürlich gar nicht!
  • Steffen Heitmann (Beinahe-Kandidat 1994) Helmut Kohl wünschte sich einen Ostdeutschen als Bundespräsidenten und fand ihn in Form eines erzkonservativen Fettnäpfchen-Springers. Als der nicht mehr haltbar war, bekamen wir Roman Herzog.
  • Hans Hirzel (Kandidat 1994) Vom Mitglied der “Weißen Rose” zum Republikaner: Ein typisch deutsches Leben halt.
  • Uta Ranke-Heinemann (Kandidatin 1999) Bundespräsidenten-Tochter, Papst-Kommilitonin, streitbare Theologin. Eine kluge Frau, die aus Gründen, die auch nicht wirklich nachzuvollziehen sind, als “die Frau im türkisen Kostüm” in die Geschichte eingehen wird.

Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang doch die Aktion “Be My Kandidat” noch einmal aufwärmen …

PS: Die Überschrift ist natürlich wieder geklaut. Diesmal bei Jens Friebe.

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Literatur Gesellschaft

Don’t party like it’s 1999

Kürzlich blätterte ich mal wieder in “Tristesse Royale”, dem Reader der deutschsprachigen Popliteratur der 1990er Jahre, dem Zeitdokument der ersten Tage der Berliner Republik. Und mir wurde klar: Wer verstehen will, wie sehr sich unsere Gesellschaft und unsere Welt im letzten Jahrzehnt verändert haben, der muss nur diese Protokolle der Gespräche lesen, die Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre im späten April des Jahres 1999 im frisch wiedereröffneten Berliner Hotel “Adlon” geführt haben.

Nehmen wir nur einen kurzen Ausschnitt, der eigentlich alles sagt:

JOACHIM BESSING Gibt es denn eigentlich überhaupt noch sogenannte gesellschaftliche Tabus?
ALEXANDER V. SCHÖNBURG Die katholische Kirche zu verteidigen ist zum Beispiel ein modernes Tabu. Es ist ein Allgemeinplatz, für die Antibabypille und gegen die Familienpolitik des Papstes zu sein. Wer heute, wie ich, sagt: Ich bin für den Papst und gegen die “Pille danach”, bricht ein gesellschaftlich vereinbartes Tabu. Vielleicht ist es auch ein ähnlicher Tabubruch, wenn eine Frau sagt: Ich gehöre hinter den Herd und möchte gerne meine Kinder erziehen. Ich möchte gar nicht in die Drei-Wetter-Taft-Welt eintreten.

“Tristesse Royale”, S. 118

Lesen Sie diese Ausführungen ruhig mehrmals. Und versuchen Sie dann, sich vorzustellen, dass es eine Welt gab, in der “wir” noch nicht Papst waren und in der Eva Herman nur die Nachrichten vorgelesen hat. Es war eine Welt, in der alles noch so war, wie es war, bevor nichts mehr so war, wie es zuvor gewesen war. Eine Welt in einem anderen Jahrtausend – aber wer heute aufs Gymnasium kommt, war damals schon geboren.

Natürlich ist “Tristesse Royale” kein Protokoll einer tatsächlichen Gesellschaft. Die weltmännischen Posen der fünf jungen, konservativen Herren ließen sich auch damals nur schwerlich mit der Weltsicht der Mehrheit der Bevölkerung auf eine Line bringen. Aber sie passten stilistisch in die Euphorie des Aufbruchs. Das Buch ist deshalb eine gute Erinnerung an diese ersten Tage der sogenannten Berliner Republik, als es so aussah, als würden Gerhard Schröder und die rot-grüne Koalition Deutschland alleine aus der Krise führen. In gewisser Weise haben sie das getan, aber das Volk hat es ihnen nicht gedankt, weil die als große “Reform” anmoderierte Agenda 2010 weh tat und sie zu einem nicht unerheblichen Teil auch unsozial war. Niemand fragt, warum es Deutschland unter einer Kanzlerin Merkel, die bisher keine einzige innenpolitische Entscheidung größerer Tragweite getroffen hat, plötzlich so gut gehen soll, wie lange nicht mehr. Niemand ist erstaunt, wenn die SPD unter dem Pfälzer Teddy Kurt Beck plötzlich wieder Sozialdemokratie der 1960er Jahre betreiben will. Aber alle jammern über diese wahnsinnigen Teuerungsraten und über die Gefahr, schon morgen auf dem Koblenzer Marktplatz Opfer einer islamistischen Atombombe zu werden.

Zwischen April ’99 und Oktober ’07 lag der 11. September 2001, der natürlich viel verändert hat und der für zwei neue große Kriege auf diesem Planeten verantwortlich ist. Aber ich glaube nicht, dass diese Terroranschläge, so schlimm sie auch waren und so viele danach auch noch kamen, der Hauptgrund für diese Verschiebung gesellschaftlicher Vorstellungen ist.

Zwischen 1999 und 2007 lag nämlich auch und vor allem ein Jahrtausendwechsel, egal ob man den am 1. Januar 2000 oder erst ein Jahr später begossen hat. Wenn wir uns ansehen, welche Auswirkungen schon eine schlichte Jahrhundertwende gehabt hat, dann müssen wir erstaunt sein, dass dieser Übergang vom zweiten zum dritten Millennium häufig so einfach übergangen wird: Das späte 19. Jahrhundert hatte das Fin de siècle, das Zeitalter des Dekadentismus, und genau das finden wir auch in “Tristesse Royale” und der Gesellschaft dieser späten 1990er Tage wieder. Nicht wenige erwarteten für die Silvesternacht 1999/2000 den sofortigen Weltuntergang und entsprechend wurde auch gefeiert und gelebt. Dieser Überschwung hielt diesmal aber keine 14 Jahre, bis ein Ereignis die Welt erschütterte, sondern die paar Monate bis zum September 2001.

Als Peter Scholl-Latour am Abend des 12. September 2001 in der Talkshow von Michel Friedman das Ende der Spaßgesellschaft postulierte, hinterließ das zwar keinen allzu bleibenden Eindruck bei der Weltbevölkerung, aber nach so einer Ansage fielen die Champagnerbäder in Berlin-Mitte vielleicht doch zunächst ein bisschen kleiner aus. Und ehe man sich’s versah, war auch auf höherer Ebene aus einer apolitischen Dekadenzgesellschaft eine apolitische Biedermeiergesellschaft geworden, in der man seinen dunkelhaarigen Nachbarn sofort für einen potentiellen Massenmörder hält, weil der sich dreimal am Tag die Hände wäscht und betet. Andererseits wird ein alter Kirchenmann von Jugendlichen wie ein Popstar verehrt und Fernsehmoderatorinnen erheben das Gegenteil ihres eigenen Lebensweges zum Heilsversprechen für alle Frauen.

Damit sind wir, auf Umwegen, wieder beim Ausgangszitat angekommen. Was machen eigentlich diese großen Männer der deutschsprachigen Dekadenz heute? Nun: Alexander von Schönburg war kurzzeitig Chefredakteur des Edelmagazins “Park Avenue” und kollumniert für “Bild”; Joachim Bessing schreibt Bücher, die auf dem “Lebenshilfe”-Tisch der Buchhandlungen neben denen von Eva Herman liegen; Eckhart Nickel und Christian Kracht gründeten die sehr interessante, leider aber nicht sehr erfolgreiche Literaturzeitschrift “Der Freund”; Kracht selbst entschwebt in seinen Reportagen in immer unzugänglichere Sphären und Benjamin von Stuckrad-Barre war zuletzt als Rosenverkäufer im neuen Horst-Schlämmer-Video zu sehen.