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One More Night

Es ist jetzt fast auf den Tag genau 15 Jah­re her, dass ich mein Abi-Zeug­nis aus­ge­hän­digt bekam und ins soge­nann­te Erwach­se­nen­le­ben ent­las­sen wur­de. Ein Abi­tref­fen ist nicht ange­setzt (zumin­dest weiß ich nichts davon) und so wer­de ich auch wei­ter nicht wis­sen, was die frü­he­ren Klas­sen­clowns, Ska­ter, Traum­frau­en und Ner­ven­sä­gen heu­te machen – zumin­dest die­je­ni­gen, deren Eltern mei­ne Mut­ter nicht regel­mä­ßig in Dins­la­ken auf dem Wochen­markt trifft. Das ist aber auch okay, denn Nost­al­gie ist ein Gefühl, das ich (wie die meis­ten ande­ren Gefüh­le auch) am Liebs­ten in den eige­nen vier Wän­den aus­le­be.

Oder eben in der aus­ver­kauf­ten Köln­are­na, wo Phil Coll­ins die­se Woche nicht ein, nicht zwei, nicht drei, nicht vier, son­dern fünf Kon­zer­te spielt. Coll­ins ist, wie ich schon ein­mal in einem eher unge­len­ken Blog-Ein­trag zu beschrei­ben ver­sucht habe, der auch erst kna­cki­ge zehn Jah­re alt ist, ein Held mei­ner Kind­heit. Jah­re­lang ging ich als eif­ri­ger, aber fremd­sprach­lich unter­ent­wi­ckel­ter Schlag­zeug-Schü­ler davon aus, der drum fill, also jene Akzen­tu­ie­rung, die einen Über­gang von einem Song­teil (z.B. Stro­phe) zum nächs­ten (z.B. Refrain) mar­kiert, sei nach Phil Coll­ins benannt.

Als Coll­ins die Kon­zer­te (zunächst waren für Köln zwei geplant) im ver­gan­ge­nen Jahr ankün­dig­te, habe ich den Gedan­ken nach kur­zer Über­le­gung ver­wor­fen – hat­te ich mir doch geschwo­ren, dass die 80,40 Euro, die ich im Jahr 2011 für Paul McCart­ney gezahlt hat­te, mei­ne teu­ers­te Kon­zert­kar­te jemals blei­ben soll­ten. Dann saß ich letz­te Woche mit einer Freun­din zusam­men, wir spra­chen über die Kon­zer­te, guck­ten nach wie­der ver­füg­ba­ren Kar­ten und sag­ten uns mit grö­ßen­wahn­sin­ni­ger Selbst­ver­ständ­lich­keit: „Klar, 100 Euro, war­um auch nicht?!“

Erst als wir auf der Auto­bahn Rich­tung Köln sind und die größ­ten Phil-Coll­ins-Hits (also: die, die in eine sieb­zig­mi­nü­ti­ge Auto­fahrt pas­sen) aus den Boxen schal­len, wird mir rich­tig klar, wor­auf wir uns hier ein­ge­las­sen haben: eine pop­kul­tu­rel­le Rück­füh­rung in ein frü­he­res Leben – eines, wo man Kind war, auf dem Wohn­zim­mer­tep­pich lie­gend das hör­te, was die Eltern hör­ten, und Musik noch nicht dem Distink­ti­ons­ge­winn dien­te, son­dern aus­schließ­lich der Unter­hal­tung.

Bereich Arena ab ca. 18 Uhr hohes Verkehrsaufkommen - PHIL COLLINS -

Rund um die Köln­are­na herrscht schon um 18 Uhr gro­ßer Andrang: In lan­gen Schlan­gen ste­hen die Men­schen, um recht­zei­tig … äh, ja: auf ihren num­me­rier­ten Plät­zen sit­zen zu kön­nen. Die größ­te Über­ra­schung ist die, dass wir nicht die Jüngs­ten sind. Ticket­über­ga­be, dann in der angren­zen­den Sys­tem­gas­tro­no­mie essen. Ich füh­le mich wie­der wie 16, als man frei­tags­abends mit Freun­den ins Mul­ti­plex­ki­no am Ein­kaufs­zen­trum der nächs­ten grö­ße­ren Stadt gehen durf­te. (Das kos­tet ja inzwi­schen bestimmt auch genau­so viel.)

Unse­re Plät­ze lie­gen so, dass sie den Ein­druck, hun­dert Euro wert zu sein, ziem­lich gut erwe­cken kön­nen. Auf den LED-Wän­den links und rechts der Büh­ne und auf der Gaze vor der Büh­ne lau­fen Fotos aus allen Lebens- und Schaf­fens­pe­ri­oden des Künst­lers und ich den­ke zum wie­der­hol­ten Male, dass die Ähn­lich­keit zwi­schen ihm und Fran Hea­ly zu jeder Zeit gege­ben war.

Schlag Acht geht die Wer­bung auf dem Video­wür­fel unter der Hal­len­de­cke aus, kurz dar­auf auch die Saal­be­leuch­tung und schließ­lich schlurft der leib­haf­ti­ge, 66-jäh­ri­ge Phil Coll­ins mit einem Krück­stock auf die Büh­ne und setzt sich, wäh­rend sich wei­te Tei­le des Publi­kums erho­ben haben, auf einen Stuhl am Büh­nen­rand. An der Stirn hat er ein gro­ßes Pflas­ter, nach­dem er letz­te Woche in Lon­don im Hotel­zim­mer gestürzt war und zwei Kon­zer­te ver­schie­ben muss­te. „My back hurts, my leg is fucked“, erklärt er, und eigent­lich habe er das alles nicht mehr machen wol­len: „But I missed you so much!“ Das könn­te man jetzt unter klas­si­schem Kon­zert­ge­schmei­chel abtun, aber dann denkt man dar­an, dass der Mann nach sei­ner „Pen­sio­nie­rung“ in sei­nem Schwei­zer Domi­zil vor lau­ter Lan­ge­wei­le ein Alko­hol­pro­blem ent­wi­ckelt hat­te, und man will, nein: muss ihm ein­fach glau­ben!

In die­sen Aus­tausch von Herz­lich­kei­ten hin­ein per­len die ers­ten Kla­vier­tö­ne und es wird direkt klar: Hier wer­den heu­te Abend kei­ne Gefan­ge­nen gemacht, hier wird gleich mal mit dem Rie­sen­hit „Against All Odds“ eröff­net. Die Band steht, für das Publi­kum immer noch unsicht­bar, hin­ter der Gaze und als das Schlag­zeug ein­setzt, wird der Drum­mer von hin­ten so ange­strahlt, dass sein Schat­ten rie­sen­groß über dem sit­zen­den Phil Coll­ins erscheint – was als irgend­wie ver­dreh­te Meta­pher ganz, ganz wun­der­voll ist, denn der Drum­mer ist des­sen 16-jäh­ri­ger Sohn Nicho­las.

Dann geht der Vor­hang hoch, man sieht die Band und die Mess­lat­te wird mit „Ano­ther Day In Para­di­se“ noch mal ein biss­chen höher gelegt. Die­ser Song ist – neben Tina Tur­ners „The Best“ und Miles Davis‘ „Human Nature“-Cover – für mich der Klang elter­li­cher Geburts­ta­ge, an denen wir lan­ge auf­blei­ben und den Erwach­se­nen mit unse­rer Anwe­sen­heit auf die Ner­ven gehen durf­ten. Ja, ich habe Paul McCart­ney „Hey Jude“ sin­gen gese­hen, Rob­bie Wil­liams „Angels“ und a‑ha „Take On Me“, aber das war alles höchs­tens das Warm-Up für die emo­tio­na­le Über­for­de­rung, die nun ein­setzt, und der ich nur zu begeg­nen weiß, indem ich schnell den Refrain auf dem iPho­ne mit­fil­me und an mei­ne gan­ze Fami­lie schi­cke.

Die Stim­mung wird ein wenig run­ter­ge­kühlt mit „One More Night“ und „Wake Up Call“, einem Song aus dem Spät­werk „Testi­fy“, das, wie eine Akkla­ma­ti­on in der Hal­le ergibt, fünf oder sechs Men­schen gekauft haben – „but don’t worry: I did­n’t buy your records, eit­her!“ Und dann: „Fol­low You Fol­low Me“, der gro­ße Gene­sis-Hit. Auf den LED-Wän­den sind Sze­nen aus allen Epo­chen der Band (inkl. Peter Gabri­el) zu sehen und es fühlt sich ein biss­chen beru­hi­gend an, dass ich nicht zur Mehr­heit der Men­schen hier in der Hal­le gehö­re, die die­ser Song jetzt an die damals so genann­ten „Feten“ in den Kel­lern ihrer Eltern­häu­ser erin­nert, son­dern ich ihn schon auf einem Oldie-Sam­pler ken­nen­ge­lernt habe.

Die nächs­ten Minu­ten ver­brin­ge ich damit, mir eine Mei­nung über das zu bil­den, was bei einem Kon­zert in gewis­ser Wei­se das Wich­tigs­te sein könn­te: die Musik. Man­che Songs klin­gen tight und per­fekt ein­ge­spielt (wei­te Tei­le der Band spie­len schon min­des­tens dop­pelt so lan­ge mit Phil Coll­ins, wie Drum­mer Nicho­las auf der Welt ist), ande­re schlep­pen und zer­fa­sern so, dass sie fast aus­ein­an­der zu fal­len dro­hen. Akus­tisch macht die Köln­are­na ihrem schlech­ten Ruf wie­der alle Ehre: kennt man den Text eines Songs, geht’s, kennt man ihn nicht, ver­steht man kein Wort.

Aus mir per­sön­lich nicht ver­ständ­li­chen Grün­den singt Coll­ins auch „Sepa­ra­te Lives“, einen Song, der sei­nen Ruf als pop cul­tu­re pun­ching bag mit­be­grün­det haben dürf­te: chee­sy, auf das aus­ge­legt, was unse­re Eltern „Klam­mer­blues“ nann­ten, und bei aller Lie­be einer sei­ner schlimms­ten Songs – und das, obwohl er ihn gar nicht selbst geschrie­ben hat. Nach „Only You Know And I Know“ geht’s in die zwan­zig­mi­nü­ti­ge Pau­se: „You might need to go the bath­rooms and we will do the same!“

Mei­ne Beglei­tung nutzt die Zeit, um das Mer­chan­di­se zu inspi­zie­ren: T‑Shirts für 30 und Pull­over für 50 Euro erschei­nen einem für ein Are­na-Kon­zert bei­na­he ange­mes­sen.
„Kei­ne Drum­sticks?“, fra­ge ich ent­täuscht. „Für Phil Coll­ins signa­tu­re drum­sticks wür­de ich heu­te Abend jeden Preis bezah­len!“
Schnitt: Zwei jun­ge Frau­en keh­ren in unse­ren Block zurück, in ihren Hän­den jeweils ein Paar Drum­sticks.

Ich fra­ge mich, ob Nicho­las Coll­ins auch mit den Stö­cken trom­meln muss, auf denen die Unter­schrift sei­nes Vaters prangt. Nach der Pau­se darf er in einem aus­führ­li­chen Duett mit Per­cus­sio­nist Luis Con­te jeden­falls noch mal ohne jedes Bei­werk zei­gen, was er so drauf hat. Das hät­te ich ver­mut­lich auch nicht hin­be­kom­men, wenn ich mei­nen Schlag­zeug­un­ter­richt damals ernst genom­men hät­te. Aber wenn ich mei­nen Bio­lo­gie­un­ter­richt ernst genom­men hät­te, könn­te ich jetzt etwas über „Ver­er­bungs­leh­re“ schrei­ben.

Bei „You Know What I Mean“ beweist Nicho­las, dass ein Coll­ins natür­lich mehr als nur ein Instru­ment beherrscht: er spielt die Bal­la­de am Kla­vier, sein Vater, der ver­mut­lich nie mehr irgend­ein Instru­ment wird spie­len kön­nen, sitzt dane­ben und singt und als Nic Phil danach im tosen­den Applaus umarmt und auf die Glat­ze küsst, muss ich mich weg­dre­hen und zu den Wor­ten „Ent­schul­di­gung, ich hab auch einen Sohn“ hek­tisch vor mei­nem Gesicht her­um­we­deln.

Über­haupt kann man sich an die­sem Abend ja kein Stück frei­ma­chen von der gan­zen sto­ry, die hier per­ma­nent mit­schwingt: dass das hier eben Come­back und Abschied zugleich ist, weil es – zumin­dest Stand heu­te Abend – eher unwahr­schein­lich erscheint, dass Phil Coll­ins sich das alles noch mal antun wird. Er ist zwar „Not Dead Yet“, wie Tour und Auto­bio­gra­phie hei­ßen, aber eben auch eher das Gegen­teil eines Mick Jag­ger, der mit 182 Jah­ren immer noch über die Büh­ne gockelt. Man ver­zeiht ihm des­halb, wenn die Stim­me mal nicht mehr ganz so frisch klingt (was aber sel­ten pas­siert), wenn die Band einen tau­send Mal gehör­ten Hit eine Spur zu lang­sam anstimmt, und auch, dass sich die Pro­du­zen­ten der Show in der zwei­ten Hälf­te dafür ent­schie­den haben, auf der Büh­ne eine Art „Wet­ten, dass..?“-Atmosphäre (aus den Frank-Elst­ner-Jah­ren) zu simu­lie­ren: Hin­ter der Büh­ne weht ein ocker­ner Vor­hang, der so ver­mut­lich immer noch in der Stadt­hal­le Böb­lin­gen hängt, die Lich­ter strah­len in Oran­ge und Gelb.

Und dann, nach all den Hits, end­lich der Hit: ange­schlos­sen an ein gefühlt acht­mi­nü­ti­ges Intro beginnt der Roland CR-78 zu zir­pen und der Saal atmet tief durch. „In The Air Tonight“. Alle sin­gen mit, fast alle ste­hen und natür­lich war­ten alle nur auf die­sen einen Moment, der auf der Album­ver­si­on nach 3:41 Minu­ten kommt – der ver­mut­lich berühm­tes­te drum break aller Zei­ten. Es ist dann letzt­lich: ein Takt, zehn Schlä­ge, wahn­sin­nig viel Licht – und es geht wei­ter. Manch­mal kommt es in der Pop­mu­sik, wie im Leben, aber auf die­sen einen Moment an.

Danach bewegt sich – um mal eine beson­ders schie­fe Meta­pher zu ver­wen­den – das Hit-Feu­er­werk auf die Ziel­ge­ra­de: „You Can’t Hur­ry Love“, „Dance Into The Light“, „Invi­si­ble Touch“, „Easy Lover“ und „Sus­su­dio“, dem man an die­sem Abend ein­fach mal ver­zeiht, dass es ein ziem­lich dum­mer Song ist; im Wesent­li­chen ein schlecht umla­ckier­tes „1999“ von Prin­ce, des­sen Fahr­ge­stell­num­mer nur not­dürf­tig raus­ge­feilt wur­de. Dafür gibt es bun­tes Kon­fet­ti und alle tan­zen!

Zur ers­ten Zuga­be, dem Vera-Lynn-Cover „If You Love (Real­ly Love Me)“ steht Coll­ins ange­lehnt ans Kla­vier, danach schließt der Abend mit einem aus­gie­bi­gen „Take Me Home“. Als die Hal­len­be­leuch­tung angeht, ist es 22.47 Uhr. Die Drum­sticks kos­ten 20 Euro – ein nicht völ­lig absur­der Preis, den ich hier und jetzt natür­lich ger­ne zah­le. Wir brau­chen ewig, um zu unse­rem Auto zu kom­men, und noch län­ger, um damit das Park­haus zu ver­las­sen. Heu­te waren wir fünf Jah­re alt. Und 16. Und erwach­sen.