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Politik

Auf jeden Sieger zehn Verlierer

Stellen wir uns für einen Moment bitte Folgendes vor: Ich habe Usain Bolt, den schnellsten Mann der Welt, zu einem Wettrennen über 100 Meter herausgefordert. Usain Bolt hat sich vorher beide Beine gebrochen, tritt aber trotzdem an. Durch dieses Handycap läuft Bolt die Strecke in 12,5 Sekunden, ich brauche 29,2 Sekunden und bin damit so langsam wie noch nie. Nach dem Rennen erkläre ich mich zum klaren Sieger, weil Bolt ja normalerweise viel, viel schneller ist und das muss man ja auch berücksichtigen.

Wenn Sie dieser Argumentation folgen können (und nicht schon bei der Vorstellung, ich könnte 100 Meter geradeaus laufen lachend unter Ihrem Schreibtisch verschwunden sind), sind Sie vermutlich in der SPD. Die hat nämlich gerade bei der bayrischen Landtagswahl das schlechteste Ergebnis ever eingefahren, was sie in der Selbstwahrnehmung zum Sieger macht, weil die CSU (die 2,3 Mal so viele Stimmen erhalten hat) immerhin seit 54 Jahren nicht mehr so schwach war.

Die gebrochenen Beine von Usain Bolt heißen Günther Beckstein und Erwin Huber und sie haben die Wahl natürlich nur derart vor die Wand gefahren, um Edmund Stoiber seinen 67. Geburtstag zu verhageln. Dafür haben sie Stoiber (und ich fürchte, Sie werden sich heute noch mit einigen schiefen Bildern rumschlagen müssen) bei Tempo 180 aus dem fahrenden Wagen geworfen, während Horst Seehofer an der Handbremse nestelte und Gabriele Pauli das Verdeck einfahren wollte. Aber für das führerlose und zertrümmerte Gefährt hätten sie immerhin noch die volle Pendlerpauschale beziehen können.

Die in jeder Hinsicht beeindruckende Schlappe für die CSU, die fast ein Drittel ihrer Wählerstimmen eingebüßt hat, wird aber in den Schatten gestellt von einer SPD, die das eigene Debakel elegant ignoriert (wohl Dank der Erfahrung auf dem Gebiet) und allen Ernstes Ansprüche auf die Regierungsbildung anmeldet.

Frank-Walter Steinmeier, den sie in der Partei mittlerweile vermutlich für einen Albino-Barack-Obama halten, der aber bestenfalls ein ganz sicher nicht gefärbter Gerhard-Schröder-Klon ist (was immerhin schon mal bedeutend besser ist als ein unrasierter Gordon-Brown-Klon), dieser Frank-Walter Steinmeier also stellt sich hinter ein Mikrofon und sagt:

Und immerhin: Es ist zum ersten Mal für viele Wählerinnen und Wähler in Bayern vorstellbar und möglich gewesen, nicht mehr CSU zu wählen. Sie sind noch nicht gleich durchgegangen zur SPD, aber es entsteht eine Perspektive.

Na, hurra! Da könnte ich ja auch in lautstarke Verzückung geraten, weil Natalie Portman nicht mehr mit Devandra Banhart zusammen ist — und mich jetzt sicher endlich heiraten wird.

Franz Maget, der aussieht wie Peter Zwegat, aber SPD-Spitzenkandidat in Bayern war, verspricht, den “halben Weg” beim “nächsten Mal” nachzuholen, und die Wähler nicht nur weg von der CDU, sondern auch hin zur SPD zu holen. Das klingt, als steckten die Wähler zwischen Villariba und Villabajo (formerly known as Not und Elend) auf halber Strecke im Schlamm — und nicht, als hätten sie sich gerade irgendwo ganz anders ein gemütliches kleines Zeltlager am warmen Herd von Gabi Pauli errichtet.

Um die Runde vollzumachen, trat auch noch Andrea Ypsilanti, die das Wortpaar “glaubwürdiger Politiker” im Alleingang zum Oxymoron stempeln will, freudestrahlend vor die Kameras und sprach von der zweiten Wahl, die “gründlich schiefgegangen” sei für … die CDU/CSU. Mit der ersten meint sie wohl ihre eigene in Hessen, diesem armen Bundesland, dass seit einem halben Jahr von einem geschäftsführenden Ministerpräsidenten regiert wird, der auch noch Roland Koch heißt.

Denn das ist die eigentliche Sensation der Wahlen in Hessen und Bayern: dass die Union nicht wegen ihrer politischen Gegner so dumm dasteht, sondern wegen ihres eigenen Führungspersonals. Aber selbst dann schafft es die SPD nicht, wenigstens so viele Wähler zu mobilisieren, dass sie selbst die meisten Stimmen bekommt — was nach meinem Demokratieverständnis (Koch hin, Beckstein her) irgendwie dringend notwendig wäre, um wasauchimmer zu regieren.

Aber vermutlich weiß es der Wähler zu schätzen, wenn eine Partei, der er vielleicht auch noch seine Stimme gegeben hat, in erster Linie durch Schadenfreude über die Verluste des politischen Gegners auf sich aufmerksam macht. Eigentlich ist es da doch inkonsequent, nicht gleich noch einen Schritt weiter zu gehen, auf Österreich zu zeigen und “wenigstens hat bei uns keiner das Nazipack gewählt” zu rufen.

Dass auch ein in Bayern erworbenes Abitur nicht zwangsläufig für große Mathematikkenntnisse steht, bewies dann Claudia Roth, die Mutter Beimer der Grünen. Sie sieht “eine deutliche Mehrheit jenseits der CSU”, die sich in den absoluten Zahlen der Sitzverteilung wohl vor allem darin niederschlägt, dass alle anderen Parteien zusammen exakt drei Sitze mehr haben als besagte CSU. Daraus leitet Frau Roth einen “Auftrag” zur Regierungsbildung ab.

Es ist beeindruckend, mit welcher Unbeirrtheit Politiker große Debakel und mittlere Enttäuschungen (die Grünen haben zwar als einzige vorher im Landtag vertretene Partei hinzugewonnen, sind aber nicht mal mehr drittstärkste Fraktion) in Siege und Triumphe umzuwidmen versuchen. Wie ein Wahlergebnis gedeutet werden soll, das eigentlich nur den Schluss zulässt, dass die Wähler die Schnauze voll haben von den beiden großen Volksparteien, die die Bundesrepublik seit drei Jahren in trauter Zwietracht regieren (und dabei noch jedes zweite Gesetz verfassungswidrig gekriegt haben). Und wie die Lähmung, die so ein Land durch uneindeutige Machtverhältnisse erfährt, gefeiert wird.

Man wartet eigentlich nur noch auf den Tag, an dem irgendeine Partei (mutmaßlich eine von Guido Westerwelle geführte) auf die Idee kommt, bei Wahlergebnissen analog zur Einschaltquote im Fernsehen eine “werberelevante Zielgruppe” auszurufen und nur noch das Abstimmverhalten der 14- bis 49-Jährigen berücksichtigen zu wollen.

Dabei sind die deutschen Vertreter noch blass und harmlos gegen das Personal, das im US-Wahlkampf angetreten ist, um das Amt zu erobern, das man nicht umsonst das wichtigste der Welt nennt. Wir haben ja noch nicht mal eine Sarah Palin (obwohl ich glaube, dass Gabriele Pauli für die Rolle notfalls zur Verfügung stünde), von einem John McCain oder Joe Biden ganz zu schweigen.

Andererseits reichen Ronald Pofalla, Guido Westerwelle und Oskar Lafontaine für den Anfang völlig aus.

[Ausgelöst via twitter]

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Rundfunk Fernsehen

Geladene rote Ampel entgleist

Das “Nachtmagazin” der ARD verhält sich zum “RTL-Nachtjournal” wie “Brisant” zu “Explosiv”: Wenn oben nicht diese kleine Eins in der Ecke wäre, würde man kaum glauben, dass man gerade öffentlich-rechtliches Qualitätsfernsehen schaut. Klar: Um kurz nach Mitternacht richtet sich das “Nachtmagazin” an die Menschen, die dann noch wach sind, und das sind eben eher die jüngeren und die sind eben eher Infotainment gewöhnt. Trotzdem kriege ich regelmäßig die Krise ob dieser zwanghaften Lockerheit, dem schon psychotisch wirkenden ständigen Augenzwinkern und der himmelschreienden Oberflächlichkeit von Beiträgen und Interviews.

Deshalb schauen wir uns die Sendung von gestern (also heute) mal genauer an:

CSU-Vorsitz
Gabriele Pauli hat überraschend gefordert, Ehen auf sieben Jahre zu befristen, mit der Möglichkeit auf eine anschließende Verlängerung. Hier von “verflixten sieben Jahren” zu sprechen, drängt sich dermaßen auf, dass wir Ingo Zamperoni seine augenzwinkernde Anmoderation noch mal durchgehen lassen wollen.

Doch dann geht das Elend richtig los, denn Fernsehen braucht immer Bewegtbilder, auch wenn es nur erklärende und überleitende Worte aus dem Off gibt. Diese Szenen nennt der Fachmann “Schnittbilder” und seit meinem Ausflug in die audiovisuellen Medien weiß ich, wie wichtig diese sind, und bei der ARD weiß man es erst recht:

Schnittbild: Gabriele Pauli steht auf einer Verkehrsinsel neben einer Ampel und posiert für Fotografen.
Sprecherin: “Medienrummel in München – wie so oft, wenn Gabriele Pauli sich zu Wort meldet. Sie weiß sich in Szene zu setzen, doch jetzt stehen die Ampeln auf rot für sie.”

Das wichtigste Buch in der Redaktion von “ARD Aktuell” scheint also immer noch der Metaphern-Duden sein.

EU zu Energiemarkt

Ingo Zamperoni: “Zum Jahreswechsel dürften viele Stromkunden noch geladener sein, denn die Energiepreise drohen erneut zu steigen […]. Für *Ent*spannung will jetzt die Europäische Union sorgen.”

Es folgt ein Beitrag, dessen Aufhänger darin besteht, den EnBW-Chef Utz Claassen auf dem Weg zu seinem Auftritt bei “Hart aber fair” zu begleiten. Man sieht dem armen Wirtschaftsboss förmlich an, wie oft er die Eingangstür des WDR-Funkhauses öffnen und dann forsch (oder besser noch: “energetisch”, haha!) an der Kamera vorbeigehen musste. Dafür hat er beim O-Ton die schmucke Lobby des Fünfziger-Jahre-Baus am Kölner Wallrafplatz im Nacken.

Dann steigt Claassen illegalerweise in den weltberühmten Paternoster ein (die Benutzung ist aus Versicherungsgründen ausschließlich WDR-Angestellten vorbehalten) und entschwindet nach oben aus dem Bild. Es folgt ein Schnitt und Aribert Peters vom Bund der Energieverbraucher fährt im gleichen Paternoster von oben ins Bild hinein. Wollen Sie raten, wie der Off-Kommentar dazu lautet?

Sprecherin: “In genau die andere Richtung bewerten Verbraucherverbände die Vorschläge.”

Herr Peters hatte dann wohl noch das Glück, für weitere Schnittbilder das Funkhaus am hellichten Tag wieder zu verlassen und noch in der Tür sein Mobiltelefon aufzuklappen und ans Ohr zu halten, obwohl es garantiert nicht geklingelt hat.

Deutsche Einheit

Ingo Zamperoni: “Der Aufschwung ist im Osten angekommen, das sagt ein verhalten zuversichtlicher Wolfgang Tiefensee und der müsste es ja schließlich wissen: Ist er doch Verkehrsminister – nicht nur, aber auch der Aufbau-Ost-Beauftragte der Bundesregierung. […] Aber die Schere zwischen Neuen und Alten Bundesländern klaffe immer noch viel zu weit auseinander. Tiefensee könnte das wohl nirgends besser feststellen als in – Tiefensee.”

Yes, indeed: Man hielt es für ein total verrückte Idee, ins brandenburgische Tiefensee zu fahren, um dort mal zu gucken, wie es im Osten denn so aussieht. Und da sage noch einer, Namenswitze seien das Privileg der Privatsender.

Schnittbild: Die Auslage eines Blumenhändlers.
Sprecherin: “Blühende Landschaften am Ortseingang. Kein Bäcker, kein Supermarkt, keine Kneipe – abgeschafft, weil unrentabel.”

Und keine anderthalb Minuten später:

Schnittbild: Verlassenes Bahnhofsgebäude, Schwenk auf zugewachsene Schienen.
Sprecherin: “Ist Tiefensee entgleist? Nein, aber Bahnanschluss gibt es trotzdem keinen mehr.”

Meteoriten-Aufprall

Ingo Zamperoni: “Es war, gängigen Theorien zufolge, ein Meteorit, der vor 65 Millionen Jahren das Schicksal der Dinosaurier auf unserem Planeten besiegelte. Ganz so gewaltig war der Einschlag nicht, der sich am Wochenende in Peru, unweit des Titicacasees ereignete, und doch hat der Meteoriten-Aufprall mysteriöse Folgen.”

Ach, geschenkt, dass wir das schon alle bemerkt hätten, wenn sich die Sonne verfinstert hätte und wir ausgestorben wären. Irgendwie muss man ja das Thema anmoderieren und im Vergleich zu den Vox-Spätnachrichten, wo ein armer Fachmann mit genau einem Satz zitiert wurde (“Ich glaube nicht, dass das Außerirdische waren”), ist der ARD-Beitrag zum Thema völlig in Ordnung.

Wenn ich anfange, kleinlich zu werden, bringt mich diese eine Ausgabe des “Nachtmagazins” noch ins Grab. Widmen wir uns also lieber noch kurz dem letzen Beitrag der Sendung. Es handelt sich um ein klassisches “Nachtmagazin”-Thema: Das Kratzen an der Popkultur.

Popkomm

Ingo Zamperoni: “Der Pop kommt – bei der Popkomm. Aber nicht nur der: Auf der internationalen Musikmesse geht es seit heute wieder um die Trends und Neuheiten in allen Bereichen der Musik- und Unterhaltungsbranche.”

Ein Brüller ohne Ende. Aber mal was ganz anderes: Der Pop kommt bei?! Nicht, dass ich Bastian Sick wäre, aber das ist doch ungefähr so neben der Spur wie das Plakat, das über viele Jahre in meiner Heimatstadt ein umherreisendes Kinderpuppentheater ankündigte. Dort stand: “Der Kasper kommt im Theaterzelt”.

Ich bin mir sicher, dort hat man fast so viel gelernt wie beim “Nachtmagazin” – aber nur halb so viel gelacht.