Ich hatte mir ehrlich gesagt gar keine großen Gedanken gemacht. Meine Freunde hatten mich gewarnt und mir wertvolle Tipps gegeben. Man könne ja ständig im Fernsehen sehen, wie das endet. Dabei sollte ich doch nur mit Henryk M. Broder diskutieren.
Die Freischreiber, der Berufsverband freier Journalisten, hatten mich zu ihrem Kongress eingeladen und weil ich es immer lustig finde, wenn sich Journalisten ausgerechnet von mir etwas erzählen lassen wollen, und der Kongress in Hamburg stattfand, habe ich zugesagt.
Neben Henryk M. Broder und mir saßen noch der frühere Politberater und heutige Blogger Michael Spreng und die frühere “Bunte”-Chefredakteurin und heutige Bloggerin Beate Wedekind auf dem Podium, das im Wortsinne keines war, weil wir genauso hoch saßen wie die Zuhörer. In unserer Mitte saß Gabi Bauer, die die Diskussion moderieren sollte und erstes diplomatisches Talent präsentierte, als sie Broder und mir die jeweils äußeren Plätze in unserer kleinen Sitzgruppe zuteilte.
Vor Beginn der Diskussion führte ich ein bisschen Smalltalk mit den Frauen Bauer und Wedekeind und Herrn Spreng, der übrigens riesengroß ist. Henryk M. Broder gab ich nur kurz die Hand, aber er ist so klein, wie er im Fernsehen immer aussieht und trägt ein Herrenhandtäschchen bei sich. Die Raumtemperatur sinkt allerdings nicht, wenn er neben einem steht, und es wird auch nicht plötzlich dunkel.
Thema der Diskussion sollte Leserbeteiligung in allen Formen sein und wir vier sollten verschiedene Positionen einnehmen. Ich erzählte also, wie wichtig die Leserhinweise unserer Leser beim BILDblog sind und hörte, wie ich die gleichen Beispiele abspulte wie bei ähnlichen Veranstaltungen, zu denen ich gelegentlich eingeladen werde. Es ist mir schleierhaft, wie Schauspieler, Musiker und Politiker Interviewmarathons und Talkshow-Touren überstehen können, ohne vom Wahnsinn oder vom Selbsthass aufgefressen zu werden. “Wir haben bei Coffee And TV mit acht Autoren angefangen, was den Vorteil hatte, dass jeder Text schon mal mindestens sieben Leser hatte …” Sicherer Lacher. Letztlich sind wir alle kleine Mario Barths.
Henryk M. Broder ist noch ein bisschen mehr Mario Barth, nur dass seine todsicheren Lacher nicht “Schuhe” heißen, sondern “Konzentrationslager” — die Reaktionen sind allerdings auch kein hysterisches Gekicher, sondern so ein dumpfes “Hohoho”. Broder aber war am Samstag nicht in Form: Sein Geätze wirkte halbherzig, seine Polemik von sich selbst gelangweilt, er brauchte ganze 25 Minuten, bis er bei Hitler angekommen war. Twitter und Facebook fände er schrecklich, erklärte Broder, ohne eines von beidem mit einem KZ zu vergleichen, und irritierte damit Beate Wedekind, die sich sicher war, bei Facebook mit ihm befreundet zu sein. “Das bin ich nicht!”, machte Broder deutlich und stiftete damit allgemeine Heiterkeit.
Es war eine angenehme Gesprächsatmosphäre, in der jeder jedem irgendwann mal beipflichten oder müde den Kopf schütteln musste. Jeder konnte ein bis zwei große Lacher landen. Gabi Bauer leitete die Runde charmant und interessiert und nahm sich Zeit für jeden. Kurzum: Als ARD-Talkshow wären wir ein völliges Desaster gewesen. Allein der Erkenntnisgewinn war vergleichbar niedrig. Wenn wir noch Zeit gehabt hätten, ein Fazit zu ziehen, hätte es vermutlich lauten müssen: Ja, Leser sind die Hölle — und das Größte, was wir haben. Das kann ja nun wirklich jeder Sportler oder Künstler über die eigenen Fans sagen, jeder Politiker über die Wähler und alle Eltern über ihre Kinder.
Entsprechend ratlos war ich, als mich ein junger Mann anschließend inständig bat, ihm doch mitzuteilen, was ich aus der Veranstaltung denn nun mitnähme. Gabi Bauer, Beate Wedekind und Michael Spreng lesen jeden Tag etwa vier Tageszeitungen, was ich erstaunlich finde, Beate Wedekind verbringt viel Zeit in Facebook, was Michael Spreng erstaunlich findet, und Gabi Bauer sieht sich unter dem Namen einer Freundin bei Facebook um, was nun wirklich alle erstaunlich fanden. Henryk M. Broder hatte schlecht zu Mittag gegessen.
Mein Blutdruck bekam an diesem Tag aber doch noch Gelegenheit, besorgniserregend zu steigen. Aber da standen wir alle um das iPhone von Jens Weinreich herum und guckten auf die Bundesliga-Ergebnisse.