Kategorien
Musik

Ihr wollt ein Liebeslied, ihr kriegt ein liebes Lied

Ver­gan­ge­nen Don­ners­tag stand ich kurz davor, mir meh­re­re Glied­ma­ßen abzu­na­gen: Ich saß in einer Köl­ner Mehr­zweck­hal­le und als wäre das nicht schon schlimm genug, fand in die­ser Hal­le zu die­sem Zeit­punkt auch noch der Bun­des­vi­si­on Song Con­test statt. Ste­fan Raabs inner­deut­scher Grand Prix, der sich nicht so recht zwi­schen staats­tra­gen­dem Ges­tus und iro­ni­scher Distanz ent­schei­den kann, konn­te es in Sachen Show und Unter­hal­tung nicht mit dem euro­päi­schen Vor­bild auf­neh­men. Das war zu erwar­ten gewe­sen. Womit eher nicht zu rech­nen war: Dass der ESC dem BuVi­So­Co auch musi­ka­lisch über­le­gen sein wür­de.

Seit eini­ger Zeit füh­le ich mich, als stün­de ich an irgend­ei­nem Bahn­hof am Gleis und der pop­mu­si­ka­li­sche Zug sei ein­fach ohne mich wei­ter­ge­fah­ren, immer wei­ter in die Pro­vinz hin­ein. BuVi­So­Co-Sie­ger Tim Bendz­ko, Phil­ipp Poi­sel, der Rap­per Cas­per, der Tom­te-lose Thees Uhl­mann – ihre Plat­ten wer­den von vie­len Kri­ti­kern gelobt und von irr­sin­nig vie­len Men­schen gut gefun­den, denen ich sonst durch­aus Musik­ge­schmack unter­stel­len wür­de. Und ich ste­he fas­sungs­los dane­ben und füh­le mich, als wären plötz­lich Alle Fans des VfL Wolfs­burg.

Deutsch­spra­chi­ge Musik, so scheint es, zer­fällt die­ser Tage in zwei Extre­me: Auf der einen Sei­te der Dis­kurs­pop von Toco­tro­nic, Jochen Dis­tel­mey­er oder Ja, Panik, der von Zeit­schrif­ten wie „Spex“ und „Intro“ abge­fei­ert, aber so rich­tig dann doch von nie­man­dem ver­stan­den wird, auf der ande­ren die gefüh­li­gen Singer/​Songwriter, deren Songs die Musik­re­dak­tio­nen deut­scher Radio­sen­der vor zehn Jah­ren noch den Kol­le­gen von WDR 4 rüber­ge­scho­ben hät­ten. Indie ist nicht nur Main­stream gewor­den, son­dern in Tei­len auch zum Schla­ger geron­nen.

Als vor sie­ben, acht Jah­ren die „neu­es­te deut­sche Wel­le“ aus­ge­ru­fen wur­de, weil Bands wie Wir Sind Hel­den, Juli oder Sil­ber­mond plötz­lich in Sachen Absatz­zah­len und Air­play erfolg­reich waren, war schon zu befürch­ten, als was für eine Far­ce sich die Geschich­te wie­der­ho­len wür­de. So wie Anfang der Acht­zi­ger auf Kraft­werk, Ide­al und die Fehl­far­ben irgend­wann Mar­kus, Hubert Kah und Fräu­lein Men­ke gefolgt waren, wür­de auch dies­mal das gan­ze Sys­tem in sich zusam­men­stür­zen, bis nur noch ein paar One Hit Won­der für den Nach­fol­ger der „ZDF-Hit­pa­ra­de“ übrig blie­ben und dann wür­de über Jah­re kein Label mehr deutsch­spra­chi­ge Musi­ker unter Ver­trag neh­men und kein Radio­sen­der sie spie­len.

Doch es kam schlim­mer als befürch­tet: Der Erfolg von Bands wie Sil­ber­mond, Revol­ver­held oder Cul­cha Can­de­la erwies sich als eini­ger­ma­ßen nach­hal­tig und die gan­zen ver­zwei­fel­ten Nach­züg­ler-Sig­nings, die den Plat­ten­fir­men in den Acht­zi­gern irgend­wann um die Ohren geflo­gen waren, erwie­sen sich jetzt, in den Zei­ten ihrer schlimms­ten Kri­se, zumeist als gül­de­ne Glücks­grif­fe. Die ver­damm­te Bla­se woll­te ein­fach nicht mehr plat­zen!

Als Andrea Berg bei der dies­jäh­ri­gen Echo-Ver­lei­hung ein wenig pat­zig mehr als nur eine Schla­ger-Kate­go­rie beim deut­schen Musik­preis ein­for­der­te, brach­te das die ohne­hin schlech­te Stim­mung in der Hal­le nicht gera­de nach vor­ne. Dabei waren unter der Über­schrift „Album des Jah­res (natio­nal oder inter­na­tio­nal)“ fol­gen­de Wer­ke nomi­niert gewe­sen: „Gro­ße Frei­heit“ von Unhei­lig, „Schwe­re­los“ von Andrea Berg, das „Best Of“ von Hele­ne Fischer, „My Cas­set­te Play­er“ von Lena und „A Curious Thing“ von Amy Mac­do­nald. Es muss schon ein erstaun­li­cher gesell­schaft­li­cher Wan­del statt­ge­fun­den haben, wenn die jun­ge, weib­li­che Ant­wort auf Chris de Burgh und das Album der deut­schen ESC-Teil­neh­me­rin („Schla­ger-Grand-Prix“, wie man­che Men­schen heu­te noch sagen) die unschla­ger­haf­tes­ten Ver­tre­ter bei den meist­ver­kauf­ten Alben des Jah­res dar­stel­len.

Mode­ra­to­rin Ina Mül­ler hat­te bei der Ver­lei­hung des Volks­mu­sik-Echos an die Ami­gos laut­stark dazu auf­ge­ru­fen, die Wän­de zwi­schen den Schub­la­den ein­zu­rei­ßen, dabei woll­ten die anwe­sen­den coo­len und klatsch­fau­len Rock­stars und Plat­ten­fir­men­men­schen sich nur nicht ein­ge­ste­hen, dass das längst gesche­hen war. Quer durch alle Kate­go­rien nomi­niert waren ein zot­te­li­ger Gei­ger, der sich kom­mer­zi­ell erfolg­reich an der Inter­pre­ta­ti­on von Rock­songs ver­sucht hat­te; ein altern­der Chan­son­nier; ein jugend­li­cher Chan­son­nier; eine Opern­sän­ger-Boy­group, die Pop­songs nach­schmet­tert; der Erfin­der des Gothic-Schla­gers und nicht zuletzt Ina Mül­ler selbst, deren Songs von Frank Ramond geschrie­ben wer­den, der seit Jah­ren mit sei­nen augen­zwin­kern­den Wort­spie­le­rei­en für Annett Loui­san, Bar­ba­ra Schö­ne­ber­ger und Roger Cice­ro den Mas­sen­ge­schmack trifft wie kaum ein Zwei­ter.

Was uns zu Cas­per bringt, jenem „Kon­sens-Rap­per“, des­sen Album „XOXO“ über­ra­schend, ange­sichts des media­len „Geheimtipp“-Overkills im Vor­feld aber durch­aus kon­se­quen­ter­wei­se auf Platz 1 der Charts ein­ge­stie­gen war. Dies ist die Stel­le, an der ich fai­rer­wei­se erklä­ren soll­te, dass ich bis auf weni­ge Aus­nah­men mit deutsch­spra­chi­gem Hip­hop so rein gar nichts anfan­gen kann. Das war in den 1990ern noch ganz lus­tig, als alle wie die ame­ri­ka­ni­schen Vor­bil­der auf dicke Hose mach­ten, miss­fällt mir jetzt aber zuneh­mend. Dabei will ich nicht mal aus­schlie­ßen, dass man auch auf Deutsch hin­ter­grün­di­ge, wit­zi­ge und gute Tex­te rap­pen kann – allein man­gelt es den meis­ten Ver­tre­tern die­ses Gen­res schon an den dafür not­wen­di­gen Fer­tig­kei­ten, sprich: Skills. Es reicht mir nicht, wenn sich einer holp­rig durch die Sät­ze quält. Womög­lich fehlt mir das not­wen­di­ge Enzym oder Gen, aber in mei­nen Ohren fällt „Das war’s. Auf das, was war /​ Zwi­schen all den Ficks auf dem Tisch aus dem Glas /​ Und hätt‘ ich dich nie gekannt /​ Wär‘ der Ben bloß der Cas­per der rappt /​ Aber du wärst nur die Frau von der Bar“ (Cas­per) sprach­lich und inhalt­lich sogar noch hin­ter „Ver­piss dich /​ Ich weiß genau, Du ver­misst mich“ (Tic Tac Toe) zurück. ((„Aus“! „Dem“! „Glas“! Alter, was ist mit Dir nicht in Ord­nung?!)) Wenn das „Stu­den­ten­rap“ sein soll (und Sie müs­sen sich das auch noch in Cas­pers Schiff­schau­kel­brem­ser­stim­me vor­stel­len), kann ich auf eine Begeg­nung mit „Son­der­schü­ler­rap“ bes­tens ver­zich­ten.

Doch die Ver­to­nung von Tage­buch­ein­trä­gen wird geschätzt. Es ist eine „neue“, womög­lich „scho­nungs­lo­se Offen­heit“. Klop­stock 2.0. Da ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass Tom­te-Sän­ger Thees Uhl­mann (der mit Cas­per bei gleich zwei Tracks koope­riert) auf sei­ner ers­ten Solo-Sin­gle tote Fische besingt.

Doch, tat­säch­lich: „Zum Lai­chen und Ster­ben zie­hen die Lach­se den Fluss hin­auf“ ver­kün­det er und preist auf sei­nem Album wie in zahl­rei­chen Inter­views das Dorf­le­ben. Bei Tom­te hat­te er noch davon gesun­gen, „sein Ver­sa­gen nicht län­ger Über­zeu­gung zu nen­nen“, auf sei­nem selbst­be­ti­tel­ten Solo­de­büt zele­briert er jetzt genau das. Von Jour­na­lis­ten lässt er sich dabei mit Bruce Springsteen ver­glei­chen – und wenn die es nicht tun, macht er es eben selbst. Zwar konn­te nicht ein­mal der Boss über eine Super­markt­kas­sie­re­rin sin­gen, ohne dass man vor Fremd­scham in einen Turm aus Kon­ser­ven­do­sen sprin­gen woll­te, aber das hält Uhl­mann nicht davon ab, die­ses Feld mit „Das Mäd­chen von Kas­se 2“ noch ein­mal zu beackern. Ich erken­ne den Ver­such an, den gesell­schaft­lich Über­se­he­nen ein Denk­mal bau­en zu wol­len, aber, Ent­schul­di­gung!, das konn­ten Pur bes­ser – und die muss­ten dafür zur Stra­fe im Stu­dio­ne­bel der „Hit­pa­ra­de“ ste­hen.

Über­haupt müs­sen wir Abbit­te leis­ten bei Pur, der Mün­che­ner Frei­heit, Rein­hard Mey, Wolf Maahn, Heinz-Rudolf Kun­ze, Klaus Lage, Bap, Pur­ple Schulz und vor allem bei Udo Jür­gens. ((Nicht jedoch und unter kei­nen Umstän­den bei Mari­us Mül­ler-Wes­tern­ha­gen.)) Von mir aus soll Tim Bendz­ko nur noch kurz die Welt ret­ten wol­len und Andre­as Bou­ra­ni (des­sen „Nur in mei­nem Kopf“ ich für ein paar Wochen sogar ziem­lich toll fand) wie ein Eis­berg glän­zen und schei­nen wol­len, aber dann kön­nen wir nicht mehr mit dem Fin­ger auf die Leu­te zei­gen, die ein paar Jahr­zehn­te zuvor das Glei­che gemacht haben.

Die Uhlmann’schen Hei­mat­me­lo­dien und die gan­zen wasch­lap­pi­gen Lie­bes­be­teue­run­gen der jun­gen Lie­der­ma­cher sind die pop­kul­tu­rel­le Rück­kehr zum Bie­der­mei­er. Sie lie­fern das „klei­ne biss­chen Sicher­heit“ in „die­ser schwe­ren Zeit“, das Sil­ber­mond schon vor zwei­ein­halb Jah­ren ein­ge­for­dert hat­ten. Die­ser Eska­pis­mus ins Inners­te zeig­te sich dann auch am Tref­fends­ten im Namen jener Band, die sich beim Bun­des­vi­si­on Song Con­test einen Moment wünsch­te, der „echt“ und „per­fekt“ ist: Glas­per­len­spiel. Her­mann Hes­se ist ja tat­säch­lich das, was uns am volks­wirt­schaft­li­chen Abgrund noch gefehlt hat: Wan­de­run­gen durch Indi­en, ein biss­chen Meta­phy­sik und dann hin­ein in die Selbst­aus­lö­schung. Die Bücher von Mar­got Käß­mann ver­kau­fen sich schon ver­däch­tig gut.

Gewiss, das alles sind Geschmacks­fra­gen. Und die kann man sich ja oft genug selbst nicht beant­wor­ten. Ich ver­ste­he zum Bei­spiel nicht, war­um ich das Debüt­al­bum von Gre­gor Meyle (Zwei­ter bei Ste­fan Raabs vor­letz­ter Cas­ting-Show) immer noch ganz char­mant fin­de, beim ähn­lich roman­tisch gela­ger­ten Phil­ipp Poi­sel aber immer kurz vor der Selbst­ent­lei­bung ste­he. ((Poi­sel hat aller­dings auch eine Stim­me, auf die ich mir kör­per­li­cher Abnei­gung reagie­re – wobei mir der nasa­le Gesang eines Bil­ly Cor­gan oder das Röh­ren eines Kel­ly Jones immer gut gefal­len hat.))

Viel­leicht hängt mei­ne Abnei­gung auch mit der Spra­che zusam­men, wobei Thees Uhl­mann gleich das bes­te Gegen­ar­gu­ment gegen die­se The­se ist, denn bei Tom­te waren sei­ne Tex­te ja über wei­te Tei­le noch unpein­lich bis groß­ar­tig. Ande­rer­seits: Eine Aus­sa­ge wie „Du hast die Art ver­än­dert, wie Du mich küsst“ wür­de man ohne zu Zögern dem Werk der Andrea Berg zuord­nen. Auf Eng­lisch taugt es beim Rap­per Exam­p­le zu einem der bes­ten Songs des Jah­res. Und irgend­wie war es gar nicht so schlimm, als Prin­ce oder Chris Mar­tin auf Eng­lisch san­gen, der Ver­flos­se­nen nie­mals Kum­mer berei­tet haben zu wol­len. Wenn jetzt einer singt, „Ich woll­te nie, dass Du weinst“, wünscht man sich doch drin­gend Ramm­stein her­bei, die bit­te das genaue Gegen­teil dekla­mie­ren sol­len, nur damit mal ein biss­chen Leben in der Bude ist.

„Kei­ner, wirk­lich kei­ner, braucht deut­sche Song­wri­ter“ singt Frie­de­mann Wei­se in sei­nem sehr unter­halt­sa­men Lied, das nur einen klei­nen Haken hat: Das ein­zi­ge, was noch schlim­mer ist als scho­nungs­lo­se Offen­heit in Lied­tex­ten, ist unge­hemm­te Iro­nie. Des­we­gen sind die Toten Hosen bei all ihrer Schlimm­heit immer noch den Ärz­ten vor­zu­zie­hen, die jed­we­den Hin­weis auf eine Hal­tung ver­mis­sen las­sen.

Die zen­tra­le Fra­ge jedoch bleibt: War­um sind heu­te Musi­ker mit Tex­ten erfolg­reich, die jun­ge Men­schen noch vor weni­gen Jah­ren rund­her­aus als kit­schig abge­lehnt hät­ten? Sind die Hörer sen­si­bler gewor­den oder nur tole­ran­ter? Und was hat das alles mit der WM 2006 zu tun?

Offen­le­gung: Ich habe an der dies­jäh­ri­gen Echo-Ver­lei­hung mit­ge­ar­bei­tet und bin mit eini­gen der hier gediss­ten Künst­ler per­sön­lich bekannt.