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Unterwegs

Via con me

Mein Großvater war nach einem ärztlichen Behandlungsfehler und einer Nahtoderfahrung immer noch nicht aus dem Krankenhaus entlassen, weswegen die zwei Plätze einer seit langem geplanten Pilgerreise in der Karwoche an meinen Vater und mich fielen. Am 7. April 2001 flogen wir von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino, am nächsten Morgen standen wir auf dem Petersplatz, um einer der letzten Palmsonntagsmessen von Papst Johannes Paul II. beizuwohnen. Ich bin das Kind einer Mischehe: evangelisch getauft und konfirmiert, aber durch meinen väterliche Linie auch immer wieder in der katholischen Kirche gewesen, natürlich nie bei der Kommunion. Aus einer merkwürdigen Laune heraus, die exakt zu gleichen Teilen aus Respekt (es gibt ja wirklich mindestens 2000 Dinge, die man an der Katholischen Kirche kritisieren kann, aber: Show können sie!) und Trotz (genau der Papst, dem die Jugendlichen aus Mexiko, Kroatien und Argentinien um uns herum zujubelten, würde neben vielen anderen Dingen niemals erlauben, dass ich als Protestant dieses Sakrament empfange) bestand, beschloss ich an jenem Morgen: Wenn ich jemals zur Kommunion gehe, dann jetzt und hier!

Untergebracht war unsere Reisegruppe in einem Gästehaus auf einem Hügel westlich des Vatikans. Die einzigen anderen Menschen unter 40 waren zwei Geschwister, die ungefähr in meinem Alter waren und mit ihren Großeltern reisten. Weil dies keine Nancy-Meyers-Komödie war, sondern mein Leben, entspann sich weder mit dem Mädchen noch mit dem Jungen eine wie auch immer geartete Romanze.

Der Reiseleiter, ein Dr. Frenger, war Theologe und Kunsthistoriker, sah aus wie die Zeichentrickversion von Inspektor Clouseau und litt sichtlich unter dem Desinteresse der leicht trutschigen Mutter-Tochter-Gespanne, die den Großteil unserer Reisegruppe ausmachten. Weil wir das eher deutsch-rustikal geprägte Mittagessen, zu dem die Gruppe jeden Tag zur Herberge zurückgekarrt wurde, lieber zugunsten eigener Erkundungen und lokaler Küche ausfallen lassen wollten, erkannte er in uns alsbald Verbündete, denen er sich anvertrauen konnte: „Wissen Sie, die meisten Menschen hätten es gerne, wenn man ihnen sagt: ‚Das ist das Kolosseum, das ist alt, das ist eine Ruine und das ist berühmt. Darin waren die wilden Tiere, die Gladiatorenkämpfe und die Christenverfolgung. Gehen Sie mal rum und sehen sich das an. Dahinten gibt es Toiletten und dort ein Café!‘“ Mein Vater revanchierte sich mit der Anekdote, wie er gemeinsam mit einem Freund auf einer Studienreise im Jahr 1981 das damals in Reparatur befindliche Reiterstandbild Marc Aurels auf dem Kapitolsplatz nachgestellt habe, was den beiden ein wenig Ärger mit den Carabinieri, aber auch eine gewisse Popularität in den Fotoalben japanischer Touristen eingebracht hätte.

Ich hatte mir ein kleines Reclamheft mit englischsprachigen Gedichten als Reiselektüre mitgenommen und kam mir, wenn ich abends in der Außengastronomie einer Trattoria, zwischendurch am Rotwein nippend, darin blätterte vor wie Patti Smith, Oscar Wilde oder Christian Kracht. An einem Abend ließen wir uns von einem 70-jährigen Kellner, der einst in Remscheid gearbeitet hatte, wortreich in ein Restaurant quatschen, das die Legende, wonach man in Italien „einfach überall phantastisch“ essen könne, eindrucksvoll Lügen strafte, gleichzeitig aber die neue Grundregel aufstellte, in Zukunft jede Gaststätte sofort wieder zu verlassen, in der deutschsprachige Speisekarten vorgehalten werden.

Ich weiß nicht, wie viele Kilometer wir jeden Tag abgerissen haben, und ich weiß ehrlich gesagt auch nicht mehr, was wir an diesen Tagen alles gesehen haben. Irgendwann fangen sehr alte Bauwerke und Plätze, so bedeutsam sie auch sein mögen, an, einander zu gleichen. Überall gab es viele freilaufende Katzen, Eisdielen und fliegende Händler, die laminierte „Dragonball“-Motive, Kolosseen aus Gips und Bronzeimmitatsfiguren feilboten, denen Feuer aus dem Intimbereich steigen konnte. Ich stand an der Stelle, an der Aldo Moro ermordet im Kofferraum eines roten Renault 4 aufgefunden worden war, und sah den weltschlechtesten Elvis-Imitator, einen Amerikaner in einem „Bowling is not a crime“-T-Shirt, Pantomimen, Straßenmaler und natürlich eine Indiotruppe, die den alten Italoschlager „El Cóndor Pasa“ über die Piazza Navona blies. Ich machte also zum ersten Mal eine Erfahrung, die sich im weiteren Verlauf meines Lebens in New York, London und Amsterdam bestätigen sollte: Man kann sich solchen medial und kulturell überbelichteten Orten nicht nähern, ohne sich heillos zwischen den mitgebrachten Erwartungen und den vor Ort festinstallierten Klischees zu verheddern; man muss das dann einfach annehmen und sich seine eigene Erinnerungen prägen. Ich war bis heute nicht in Paris.

Natürlich hatte ich mir extra für die Reise ein Mixtape aufgenommen, das außer Morcheebas „Rome Wasn’t Built In A Day“ nicht viel Bezug zur ewigen Stadt hatte. Dafür muss ich seitdem bei „Overload“ von den Sugababes immer daran denken, wie wir bei der Besichtigung der Caracalla-Thermen in einen charmanten Landregen gerieten. Am dritten Abend saß am Nebentisch der Hamburger Regisseur Fatih Akin und berichtete seinem italienischen Begleiter auf Englisch von seinem nächsten Filmprojekt — ich kam mir als 17-jähriger Kino-Fan wahnsinnig investigativ vor, hatte nur leider damals keinen Kanal, auf dem ich diesen brandheißen Gossip hätte teilen können. Als sich Akin eine Zigarette anzündete und erst dann nach einem Aschenbecher umschaute, sah ich meine Chance gekommen, stellte ihm hektisch ein Exemplar von einem anderen Nebentisch vor die Nase und verwickelte ihn so in ein sehr herzliches, kurzes Gespräch, in dessen Verlauf er mich zu den Dreharbeiten einlud. Ich habe erst sehr viel später verstanden, dass ich ihm in diesem Moment vielleicht wenigstens meine Kontaktdaten hätte aufschreiben sollen. Schließlich wurde „Solino“ nämlich zu weiten Teilen in Duisburg und damit quasi in der Nachbarschaft gedreht.

An Gründonnerstag, also kurz bevor es mit den Feierlichkeiten so richtig losging, verließen wir die Stadt. In besonderer Erinnerung blieb mir noch, dass der Wirt in dem kleinen Bistro, wo wir die letzte Cola tranken, sowohl das Glas als auch die Zitronenscheibe kurz unter fließendem Wasser abspülte. Warum auch immer. Den Ostersegen des Papstes holten wir uns dann wieder vor dem heimischen Fernseher ab — da gilt er ja auch, wenn man’s live guckt, sagt meine Oma.

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Film

Fatih Akin kann es einfach

Dass Yeter sterben wird, erfahren wir noch bevor wir sie kennengelernt haben. Nach einem kurzen Prolog, den wir sehr viel später noch einmal sehen und erst dann verstehen werden, kommt eine Titeleinblendung: “Yeters Tod”.

Yeter (Nursel Köse) arbeitet als Prostituierte in Bremen. Bei ihrer Arbeit lernt sie den pensionierten Witwer Ali (Tuncel Kurtiz) kennen, der sie nach ein paar Besuchen bittet, als seine Lebensgefährtin zu fungieren – den üblichen Satz werde er ihr bezahlen. Alis Sohn Nejat (Baki Davrak) ist nicht sonderlich begeistert von dieser Aktion seines Alkohol- und Herzkranken Vaters, aber er ist beeindruckt von der Tatsache, dass Yeter einen Großteil ihres Verdienstes in die Türkei schickt, um ihrer Tochter das Studium zu finanzieren. Als Yeter stirbt (s.o.), begleitet Nejat den Sarg in die Türkei und macht sich auf die Suche nach Yeters Tochter Ayten, von der Yeter lange nichts mehr gehört hatte.

Nurgül Yeşilçay und Patrycia Ziolkowska in “Auf der anderen Seite” (Pressefreigabe)Auch von Lotte erfahren wir vor ihrem ersten Auftritt, dass sie sterben wird: “Lottes Tod” steht auf dem Zwischentitel. In der Mensa lernt die junge Frau aus gutem Hause (Patrycia Ziolkowska) Ayten kennen, die vor der türkischen Polizei geflohen ist und in Bremen ihre Mutter sucht. Lotte freundet sich mit Ayten (Nurgül Yeşilçay) an und quartiert sie bei ihrer Mutter Susanne (Hanna Schygulla) ein. Als Ayten in die Türkei abgeschoben wird (ebenso lapidare wie irrige – und wohl leider auch authentische – Begründung: im Zuge des geplanten EU-Beitritts der Türkei werde ihr dort auch als politisch Verfolgte schon nichts passieren), reist Lotte ihr hinterher. Durch Zufall zieht sie bei Nejat, der sich inzwischen in Istanbul niedergelassen hat, ein und kommt wenig später unter tragischen Umständen ums Leben.

Die dritte Episode trägt den Namen, der auch auf den Kinoplakaten steht: “Auf der anderen Seite”. Susanne ist nach Istanbul gereist, um zu erfahren, wo und wie ihre Tochter kurz vor ihrem Tod gelebt hat. Auch sie kommt bei Nejat unter und sie geht den Weg, den Lotte eingeschlagen hat, weiter und holt Ayten aus dem Gefängnis. Ganz nebenbei bringt sie Nejat dazu, sich mit seinem Vater versöhnen zu wollen …

Was beim Lesen vielleicht etwas unübersichtlich, arg konstruiert und unwahrscheinlich wirkt, ist in Fatih Akins fünftem Spielfilm völlig organisch. Es sind die Geschichten dreier Elter-und-Kind-Paare1, Hanna Schygulla und Bavi Davrak in “Auf der anderen Seite” (Pressefreigabe)wobei der direkte Kontakt zwischen Eltern und Kindern eher gering ist. Die Handlungsfäden sind kunstvoll miteinander verwoben, die Hauptpersonen aber laufen mehrmals knapp aneinander vorbei. Man ahnt das Reißbrett, an dem Akin seine Geschichten nebeneinander aufgezeichnet und hintereinander arrangiert haben muss um den Überblick zu behalten, und trotzdem sind die Geschichten ebenso glaubwürdig wie die Charaktere. Den Drehbuchpreis in Cannes hat er also völlig zu Recht gewonnen.

Neun Jahre nach seinem Regiedebüt “Kurz und schmerzlos” und dreieinhalb Jahre nach dem furiosen “Gegen die Wand” lässt sich leicht zusammenfassen: Fatih Akin kann es einfach. Zwar sind derartige Erzählmuster längst keine Sensation mehr, aber es gibt ja auch genug Regisseure, die schon an einer völlig linearen Handlung scheitern. Nicht so Fatih Akin: Er bringt die ganz großen Themen, ohne dass diese den Film bemüht oder bedeutungsschwanger erscheinen ließen. Er komponiert Bilder und Dialog so geschickt, dass man sich hinterher fragt, ob überhaupt gesprochen wurde.

Fatih Akin sieht seinen Film nicht als einen “politischen” an und vermutlich hat er recht: Auch wenn es am Rande um Abschiebung, türkische Gefängnisse und “Terrororganisationen” geht; auch wenn der Film einer Bremer Demo zum ersten Mai mit Bratwurst essenden Ver.di-Funktionären und Spielmannszug Randale in Istanbul gegenüberstellt: das Politische ist immer nur Hintergrund für die privaten Schicksale. “Auf der anderen Seite” ist aber ein Film über Ideale. Nejat sucht Ayten, weil er ihr auch nach dem Tod der Mutter das Studium ermöglichen möchte; Lotte nimmt Ayten bei sich auf und folgt ihr in die Türkei, weil es ihr wichtig und richtig erscheint, für ihre Freundin zu kämpfen; Susanne macht schließlich weiter, was Lotte nicht zu Ende führen konnte. So wie Ali und Nejat abwechselnd Deutsch und Türkisch miteinander sprechen, so verschwimmen auch die Grenzen zwischen Deutschland und der Türkei im Film, denn wer wo für jemanden kämpft, ist zweitrangig. Der einzige sichtbare Unterschied besteht in den hellen, farbenfrohen Bildern des lebendigen Istanbuls auf der einen, und den kühl und klar strukturiert erscheinenden deutschen Städten Hamburg und Bremen auf der anderen Seite.

“Auf der anderen Seite” (Filmplakat)Auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind universell: Eltern lügen ihre Kinder an, weil sie nur das Beste für sie wollen; Kinder wollen auf keinen Fall wie ihre Eltern werden und finden sich plötzlich in deren Fußstapfen wieder; Eltern wollen, dass ihre Kinder etwas aus ihrem Leben machen, und sind dann irritiert, wenn die Kinder tatsächlich mal aktiv werden. Gerade Hanna Schygulla spielt die Mutter, die immer wieder über ihre Grenzen geht, erst als hanseatisch-vornehme Dame, die aber die ganze Zeit über ein großes Herz hat und von der man nach und nach erfährt, wie unkonventionell sie eigentlich ist. Außerdem hat sie eine große Nervenzusammenbruch-Szene, die völlig minimalistisch anfängt und dann trotz Auf-dem-Boden-wälzen und Schreien nicht peinlich wird. “Schauspiellegende”, eben.

Die 122 Minuten von “Auf der anderen Seite” kommen einem länger vor. Aber nicht, weil sich der Film so zöge und langatmig würde, sondern weil so viel passiert und es auch neben dem Offensichtlichen noch viel zu entdecken gibt. Fatih Akin schafft es sogar, seine ganz eigene Ringparabel in der Geschichte zu verstauen, indem er Baki Davrak aus dem Koran erzählen lässt, von einem Mann, der Allah seinen Sohn opfern soll. Und wenn Hanna Schygulla an dieser Stelle nicht für das unstudierte Publikum sekundieren müsste: “Die Geschichte gibt es bei uns auch!” (aufmerksame Kindergottesdienstbesucher wissen: Abraham und Isaak), dann wäre das ein richtig weiser und erhellender Moment.

“Auf der anderen Seite” läuft ab heute in Hamburg und ab 27. September in ganz Deutschland.

Offizielle Website

1 Ich hab keinen Nerv, mir von der deutschen Sprache den Singular für “Eltern” ausreden zu lassen. Wenn nur genug mitmachen, wird “ein Elter” irgendwann normal.