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Bruce Banner kauft sich eine neue Hose, geht aber nicht mit mir essen

Es ist Sams­tag­vor­mit­tag, eine hal­be Auto­stun­de außer­halb Man­hat­tans, an einem der ers­ten Tage, die sich mehr nach Früh­ling als nach Win­ter anfüh­len. Bruce Ban­ner stellt sein Auto etwas zu schwung­voll auf dem Park­platz einer Shop­ping Mall ab. Der renom­mier­te Nukle­ar­phy­si­ker fliegt mor­gen zu einer Kon­fe­renz nach Kap­stadt und muss vor­her noch ein paar Ber­sor­gun­gen machen. Vor allem braucht er eine neue Smo­king-Hose: Die letz­te sei ihm bei einem bedau­er­li­chen Zwi­schen­fall geris­sen, erklärt der groß gewach­se­ne Wis­sen­schaft­ler mit einem ent­schul­di­gen­den Schul­ter­zu­cken.

Ban­ner betritt das Ein­kaufs­zen­trum durch einen Sei­ten­ein­gang. Eigent­lich möge er sol­che Orte nicht, sagt er, wäh­rend er sich ein wenig hilf­los umsieht: „Zu vie­le Men­schen, zu viel Hek­tik!“ In der Innen­stadt sei es aber noch anstren­gen­der, ein­zu­kau­fen: „Zu vie­le Tou­ris­ten!“

Nach einem skep­ti­schen Blick auf einen Lage­plan weiß Ban­ner zumin­dest, wo er hin muss: Das Geschäft von Brooks Brot­hers befin­det sich im ers­ten Stock der Mall, etwa 400 Meter nach Süden. „Das soll­te zu schaf­fen sein“, mur­melt er und zieht sein Schritt­tem­po etwas an. Wir schaf­fen es etwa 30 Meter weit, dann errei­chen wir die Roll­trep­pen. Oder genau­er: Wir errei­chen sie erst mal nicht. Vor uns steht ein jun­ges Pär­chen in Mul­ti­funk­ti­ons­ja­cken, das offen­kun­dig unent­schlos­sen ist, ob es die Roll­trep­pe neh­men soll oder nicht. Die Frau sagt mit leicht pat­zi­gem Unter­ton, sie wol­le jetzt aber „da ho-hoch“, der Mann erweckt den Ein­druck, als ob er das Ein­kaufs­zen­trum am Liebs­ten flucht­ar­tig ver­las­sen wol­le, die mög­li­chen Aus­wir­kun­gen auf die wei­te­re Wochen­end­pla­nung ihn aber noch davon abhal­ten. Sekun­den ver­strei­chen, die sich wie Stun­den anfüh­len, dann tre­ten die bei­den erst ein­mal zur Sei­te. Ein Rent­ner­ehe­paar drän­gelt sich an uns vor­bei, wir bestei­gen nach ihnen die Roll­trep­pe.

„Men­schen sind die ein­zi­gen Lebe­we­sen, die sich künst­li­che Umge­bun­gen geschaf­fen haben, in denen sie sich so unwohl füh­len kön­nen wie Tie­re, die von ihren Fress­fein­den in die Enge getrie­ben wer­den“, beginnt Ban­ner zu dozie­ren, muss dann aber abbre­chen, weil die Rent­ner am Ende der Roll­trep­pe unver­mit­telt ste­hen­ge­blie­ben sind und wir auf sie auf­fah­ren wie Fer­ti­gungs­gü­ter in einer Fabrik, deren Pro­duk­ti­ons­ab­lauf emp­find­lich gestört wur­de. Ban­ner flucht lei­se und drän­gelt sich zwi­schen Rent­ner­weib­chen und ‑männ­chen hin­durch.

Die nächs­ten Meter legt der aus Talk­shows bekann­te For­scher stram­men Schrit­tes zurück, wobei er gele­gent­lich ste­hen­den oder ent­ge­gen­kom­men­den Kon­su­men­ten aus­wei­chen muss. Er erle­digt dies mit leicht tän­zeln­den Bewe­gun­gen, die bei einem Mann sei­ner Sta­tur ein wenig fehl am Plat­ze wir­ken, aber auf eine gro­ße Erfah­rung schlie­ßen las­sen. Fast dro­he ich, den Anschluss zu ver­lie­ren.

Wort­los errei­chen wir die Brooks-Brot­hers-Filia­le. Hier ist es bedeu­tend ruhi­ger als in den gro­ßen Wan­del­gän­gen der Mall, das Licht ist gedämpft und auch die Tem­pe­ra­tur liegt ein paar grad unter der im Ein­kaufs­zen­trum. Außer uns ist nur ein ein­zi­ger wei­te­rer Kun­de da, der aber die Auf­merk­sam­keit bei­der Ver­käu­fer (ein Gen­tle­man mit grau­en, zurück gegel­ten Locken und eine hüb­sche Frau Anfang drei­ßig im Kos­tüm) zu bin­den scheint: „Auf dem Weg hier­hin hab ich ’nen Klas­sen­ka­me­ra­den getrof­fen“, berich­tet der Mann, der bestimmt schon acht­zig ist, im Zun­gen­schlag des nörd­li­chen New Jer­sey. „Also: ehe­ma­li­gen Klas­sen­ka­me­ra­den. Wil­liam Fair­banks. Drau­ßen auf dem Park­platz. Bestimmt vier­zig Jah­re nicht gese­hen, aber gleich wie­der­erkannt.“ Bei­de Ver­käu­fer nicken höf­lich und ich mer­ke, wie Bruce Ban­ner neben mir laut durch­schnauft.

„Ent­schul­di­gung“, sagt er und hebt zag­haft den rech­ten Zei­ge­fin­ger. „Ich brau­che eine Smo­king-Hose!“ Die Ver­käu­fe­rin blickt ihn an, macht eine ent­schul­di­gen­de Ges­te gegen­über dem alten Mann und kommt zu uns her­über geschwebt. „Ver­zei­hung“, sagt sie, wiegt ihren Kopf leicht zur Sei­te und blickt uns mit einem erwar­tungs­fro­hen Lächeln an. „Eine Smo­king-Hose“, wie­der­holt Ban­ner, eine Spur zu barsch für die hier vor­herr­schen­de Atmo­sphä­re. Ob er wis­se, aus wel­cher Kol­lek­ti­on die­se sei­en soll, fragt ihn die jun­ge Frau ohne ein Anzei­chen von Krän­kung und führt Dr. Ban­ner mit einer flie­ßen­den Bewe­gung in den hin­te­ren Bereich des Laden­lo­kals. Ich blei­be vor­ne zurück, stu­die­re die Innen­ein­rich­tung und lau­sche noch ein wenig den Aus­füh­run­gen des alten Man­nes.

Nach zehn Minu­ten kommt Ban­ner zurück, die neue Hose bereits bezahlt und in einer papie­re­nen Tasche ver­staut. „Eine Bund­grö­ße mehr als beim letz­ten Mal“, brum­melt er etwas unge­hal­ten. „Schon wie­der zuge­nom­men!“ Wir ver­las­sen das Geschäft und sind kurz von der Atmo­sphä­re im Inne­ren der Shop­ping Mall über­wäl­tigt: Der Strom der Men­schen scheint noch dich­ter gewor­den zu sein, das Gekrei­sche der Kin­der (und ver­ein­zel­ter Ehe­frau­en) noch eine Spur schril­ler. Dem frisch neu ein­ge­klei­de­ten Wis­sen­schaft­ler ent­fährt ein lei­ses Schnau­ben. „Las­sen Sie uns zuse­hen, dass wir hier schnell raus­kom­men“, raunzt er mir zu, dann läuft ein klei­nes Mäd­chen gegen sein Bein und fällt auf ihren Hin­tern. Sie blickt sich kurz um, dann fängt sie an zu wei­nen. Ban­ner seufzt, als eine leicht hys­te­risch wir­ken­de Blon­di­ne, Sor­te Trai­ler-Park-Schön­heit, auf uns zustürzt.

„Was haben Sie mei­ner Toch­ter getan“, herrscht sie Ban­ner in einer ras­peln­den Ton­la­ge an. „Nichts“, mur­melt Ban­ner und lässt die Schul­tern hän­gen. „Wenn’s nichts wäre, wür­de sie ja wohl kaum heu­len“, argu­men­tiert die Frau und bückt sich, um ihre Toch­ter auf den Arm zu neh­men. „Was hat der böse Onkel gemacht, Jana­tha-Fay“, fragt sie das viel­leicht drei­jäh­ri­ge Kind, in des­sen Ohr­läpp­chen ich klei­ne Erd­bee­rohr­ste­cker ent­de­cke.

Das Wort­ge­fecht geht noch ein wenig wei­ter, wobei Dr. Ban­ner sei­ne zunächst etwas defen­si­ve Hal­tung schnell auf­gibt und die Frau schließ­lich anschreit, sie sol­le sich „mit ihrem ver­damm­ten Mist­blag“ gefäl­ligst „ver­pis­sen“. Das ent­spannt die Situa­ti­on nicht wirk­lich, sorgt aber dafür, dass die ohne­hin schon sehr lang­sam lau­fen­den Kun­den um uns her­um nun schlicht ste­hen blei­ben. Wir müs­sen uns durch eine Trau­be von Men­schen kämp­fen, von denen eini­ge Ban­ner kopf­schüt­telnd hin­ter­her­schau­en.

„Kom­men Sie hier lang“, sagt Ban­ner zu mir und öff­net eine Tür, auf der „Not­aus­gang“ steht. „Ich muss drin­gend eine rau­chen!“ Wäh­rend drin­nen eine Alarm­si­re­ne los­heult, ste­hen wir auf einem Git­ter­gang und sehen uns um. Der Weg führt an der Außen­wand des Ein­kaufs­zen­trums ent­lang, in 50 Metern führt eine Metall­trep­pe nach unten. Am Hori­zont zeich­net sich die Sky­line Man­hat­tans ab. Dr. Ban­ner klopft sei­ne Jacken­ta­schen ab, dann ent­fährt ihm ein Fluch: „Schei­ße! Die Kip­pen sind im Auto!“ Er macht Geräu­sche wie ein Vul­kan kurz vor der Erup­ti­on, dann stapft er lang­sam in Rich­tung der Trep­pe.

Wir errei­chen Ban­ners Auto im Lauf­schritt, wobei wir auf dem Weg dort­hin fast noch von einem SUV über­fah­ren wor­den wären – ein Zwi­schen­fall, den der renom­mier­te For­scher mit Wor­ten und Ges­ten kom­men­tier­te, die an die­ser Stel­le nicht wie­der­ge­ge­ben wer­den sol­len. Der Schweiß steht uns bei­den auf der Stirn, auf Ban­ners Kopf sind aber auch die Adern deut­lich her­vor­ge­tre­ten. Er öff­net die Bei­fah­rer­tür, schleu­dert die Tasche mit der Smo­king-Hose (250 Dol­lar) auf die Rück­bank und holt eine Packung Ziga­ret­ten aus dem Hand­schuh­fach. Dann schlägt er die Tür wie­der zu.

Ban­ner steckt sich eine Ziga­ret­te („Marl­bo­ro Red“) in den Mund­win­kel und hält mir die offe­ne Schach­tel hin, doch ich leh­ne dan­kend ab. Er wühlt in sei­nen Hosen­ta­schen und holt ein Sturm­feu­er­zeug her­vor, das er mit einer läs­si­gen Bewe­gung auf­klap­pen lässt. Er betä­tigt das Reib­rad mit dem rech­ten Dau­men, aber nichts pas­siert. „Scheiß­din­ger“, brüllt Ban­ner, „immer ist der ver­fick­te Tank leer!“ Er schleu­dert das Feu­er­zeug mit einer aus­la­den­den Bewe­gung von ober­halb sei­nes Kop­fes auf den Asphalt und tritt es mit dem Fuß weg. Das Feu­er­zeug fliegt ein paar Meter durch die Luft und zer­split­tert die Schei­be eines par­ken­den Mer­ce­des, des­sen Alarm­an­la­ge los kreischt.

„Zahlt die Ver­si­che­rung“, bellt Ban­ner, des­sen Gesichts­far­be auf mich inzwi­schen einen unge­sun­den Ein­druck macht. Womög­lich ist die For­scher­le­gen­de unter­zu­ckert. Doch bevor ich ihm anbie­ten kann, eine Klei­nig­keit zum Mit­tag zu essen, hat Ban­ner schon wie­der die Bei­fah­rer­tür auf- und in die­sem Fall auch: aus den Angeln geris­sen. Er schwingt sich auf den Bei­fah­rer­sitz und fuch­telt an der Mit­tel­kon­so­le her­um. Vor­sich­tig nähe­re ich mich sei­nem Auto und beob­ach­te, wie er den Ziga­ret­ten­an­zün­der fast aus der Innen­aus­stat­tung her­aus­reißt. Doch sein Griff scheint nicht fest genug: Für einen Moment wirkt es, als wol­le Ban­ner mit dem Ziga­ret­ten­an­zün­der jon­glie­ren, dann fällt ihm das Teil mit der glü­hen­den Spi­ra­le vor­an auf den Schoß. Ich höre einen lau­ten Schrei – und das nächs­te, wor­an ich mich erin­nern kann, ist, dass ein paar Autos durch die Luft flie­gen.