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Die Musik von hier nach dort

Drei Monate des Jahres sind schon wieder um (oder “ein Quartal”, wie regelmäßige Arztbesucher sagen) und wir haben fast nichts über Musik geschrieben. Nachdem der geplante Podcast zu aktuellen Neuerscheinungen wegen akuten Irrsinns bürokratischer Hürden auch nicht aus den Puschen kommt, dachte ich mir: Schnell mal irgendwas aufschreiben, bevor ich völlig den Überblick verliere.

Der Popsong des Jahres kommt, wenn in den verbleibenden neun Monaten nicht noch ein Wunder geschieht, von einer Band, die bisher eher nicht so durch Popsongs aufgefallen war. Aber “Shell Games” von Bright Eyes ist einfach ein Meisterwerk von einem Song. Das dazugehörige Album “The People’s Key” ist dann gleich noch das beste Album der Band seit sechs Jahren. Womit wir direkt bei R.E.M. wären, die mit “Collapse Into Now” mal eben ihr bestes Album seit 15 Jahren veröffentlicht haben — das mit “Überlin” einen der besten Songs ihrer inzwischen mehr als dreißigjährigen Karriere enthält.

Das Jahr hat aber bisher auch einige sehr gute Newcomer zu bieten: Über James Blake ist womöglich schon alles gesagt. Im Gegensatz zu Radiohead, die wohl auch ein neues Album veröffentlicht haben, interessieren mich die flackernden Beats und die entrückte Stimme von James Blake — und sie gefallen mir. Ein bisschen, wie wenn Bon Iver auf The Postal Service trifft. Deutlich eingängiger sind die Debütalben von The Naked And Famous und Neon Trees: Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mich noch mal für neue Indie-Bands interessieren würde, aber diese beiden Alben gefallen mir tatsächlich. Wohl auch, weil so viele Synthesizer und Keyboards zum Einsatz kommen und vergleichsweise wenige Gitarrenriffs über Achtelbeats.

Die Cold War Kids hatte ich seit ihrem Debüt vor vier Jahren aus den Augen verloren, aber ihr drittes Album “Mine Is Yours” klingt eh ganz anders als damals: Auch wieder deutlich mehr nach Killers und insgesamt deutlich runder. The Low Anthem hingegen schließen direkt an ihr fantastisches Debüt an und zaubern mit “Smart Flesh” Folkmusik, die einen zudeckt wie eine weiche Wolldecke. Schön zu lesen, dass die Band dieses Jahr direkt wieder auf dem Haldern Pop Festival spielen wird, wo sie mich letztes Jahr schon völlig begeistert zurückgelassen hat.

Neun Jahre nach ihrem Debüt hat Walter Schreifels die Rival Schools wieder zum Leben erweckt. Ein zweites “Used For Glue” fehlt auch auf “Pedals” und insgesamt klingt das Album ein wenig nach angezogener Handbremse (oder wahlweise angegrautem Haupthaar), aber schön ist die Platte dennoch geworden — man sollte sie nur nicht direkt mit dem Frühwerk des Herrn Schreifels vergleichen. Auch die White Lies haben mit “Ritual” kein Meisterwerk geschaffen, aber ein grundsolides Album mit Achtziger-Jahre-angehauchtem Düsterpop, das mit “Bigger Than Us” eine sehr, sehr gelungene Single enthält.

Weitere tolle Singles, bei denen ich die Alben noch nicht gehört habe: “Milk And Honey” von den Beatsteaks, “Post Break-Up Sex” von The Vaccines (sensationell doofer Text, aber dadurch womöglich um so beeindruckenderer Song) und tatsächlich dann auch irgendwann “Rolling In The Deep” von Adele, mit der ich sonst so gar nichts anfangen kann.

Heute dann hörte ich tatsächlich zum ersten Mal Jupiter Jones im Radio — und das gleich auf WDR2. Es könnte am Major-Deal liegen oder daran, dass “Still” einfach ein wahnsinnig guter, anrührender Song ist. Das dazugehörige, vierte Album der Band, das einfach nur “Jupiter Jones” heißt, ist ihr bestes seit dem Debüt. Zwar klingt die Platte an einigen Stellen, als hätte Sänger Nicholas Müller einfach nur über bereits fertige Bänder von Biffy Clyro gesungen, aber das ist ja nicht die schlechteste Ausgangslage. Und wer Songs wie “Berlin”, “Alter Mann wo willst Du hin”, “Hey! Menetekel” und “ImmerFürImmer” auf der Habenseite hat, der hat offenbar sowieso wenig falsch gemacht. Wenn Sell-Out immer so klingen würde, sollten ruhig alle Bands bei großen Plattenfirmen unterschreiben.

Womit wir nicht zwingend bei Thea Gilmore wären: Die Frau hat, obwohl erst 31 Jahre alt, mit “Murphy’s Heart” gerade ihr elftes Album veröffentlicht, was mir womöglich völlig entgangen wäre, wenn im Plattenladen meines Vertrauens nicht ein Label-Sampler gelaufen wäre, auf dem zwei Songs von ihr drauf waren. Schöne, unaufdringliche Folk-Musik, die über das Mädchen-mit-Gitarre-Schema hinausgeht und auch mal auf Bläser und Keyboards zurückgreift. Das ist schon eher Musik zum Nebenherhören, aber durchaus schön.

Schön klang das nicht, was The Get Up Kids vorab von ihrem Comeback-Album hören ließen, weswegen dieses Album von mir bisher ungehört ist. Näherungsweise nicht gehört, bekloppterweise aber gekauft habe ich das Debüt-Album von Beady Eye. Zwar sind Oasis ohne Noel Gallagher nicht ganz so schlimm, wie ich erwartet hätte, aber in Sachen Egalheit unterscheidet sich “Different Gear, Still Speeding” auch nicht groß von den letzten beiden Oasis-Alben. Auch noch nicht gehört habe ich das neue Album von The Strokes, was ich allerdings schon aufgrund der sehr gelungenen Single schnellstmöglich nachholen möchte.

Und sonst? Hat Ben Folds mal wieder in der Kölner Live Music Hall gespielt — und zwar so lange, dass ich vor den Zugaben zum Zug hechten musste. Bis dahin war es ein gutes Konzert gewesen, das alle Schaffensphasen schön abbildete und musikalisch dank vierköpfiger Begleitband nah an den Sound der Alben herankam. Leider wurde der Meister selbst dadurch etwas an den Rand gedrängt, was ihn aber nicht von wüsten Improvisationen abhielt, die wir dann womöglich auf der nächsten Platte wiederfinden werden.

Völlig unabhängig vom öffentlichen Personennahverkehr war ich beim Konzert von Jupiter Jones, die 80 Meter Luftlinie von meiner Wohnung (400 Meter Fußweg, wenn man nicht die Bahngleise überqueren will) spielten und dabei das ausverkaufte Bochumer Riff zum Kochen brachten, wie man so schön sagt. In der Stadt, in der man zuhause ist, und mit den Menschen, die Freunde sind, wirkt ein Song wie “Berlin” (“über Menschen, die glauben, dass sie, wenn sie einen Mietvertrag in Berlin unterschreiben, auch einen Vertrag für das Glück unterschreiben”, Nicholas Müller) noch hundert Mal doller. Und die dazugehörigen Publikumschöre waren gerade noch so viel U2-Haftigkeit, wie ich in meinem Leben ertragen kann.

Das beste Konzert der Monate Januar bis März besuchte ich allerdings am letzten Tag dieses Zeitraums in Düsseldorf: Erdmöbel, deren famoses Album “Krokus” auf Platz 2 meiner letztjährigen Bestenliste gelandet war, spielten im Savoy-Theater auf und obwohl Sitzkonzerte tendenziell eher nicht Rock’n’Roll sind, erlebte ich eines der besten und vor allem beglückendsten Konzerte ever. Wenn man nämlich (versehentlich) in der ersten Reihe hockt und eine bestens eingespielte und aufgelegte Band quasi in Armreichweite wunderbar musiziert, dann muss das gar nicht Rock’n’Roll sein, dann ist das einfach toll. Ich habe jedenfalls vermutlich noch nie bei einem Konzert so entrückt gestrahlt — außer vielleicht bei Auftritten von Lena Meyer-Landrut.

Die hat ja auch ein neues Album draußen und das ist ehrlich gesagt gar nicht so schlecht. Klar: Ein anderer Produzent (und damit ein lebendigerer Sound) würde ihr gut tun und es fällt auch schwer zu glauben, dass das die zwölf besten Songs gewesen sein sollen, die ein paar hundert internationale Songwriter innerhalb von neun Monaten geschrieben haben, aber “Good News” ist schon ein völlig okayes Album. Und “Taken By A Stranger” tatsächlich ein sehr guter Song.

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2010 – the year something broke

In Jahresendzeitstimmung schaut man ja gerne zurück auf das endende Jahr, resümiert und fertigt – wenn man derlei Neurosen pflegt – obskure Listen an. Auf eine Leserwahl haben wir nach dem Muse-Debakel im Vorjahr einfach mal verzichtet und Unheilig per Akklamation zu Ihrer Lieblingsband 2010 ernannt.

Doch die letzten Dezembertage ließen mich auch persönlich nachdenklich zurück: Was hatte ich eigentlich gehört und gut gefunden?

Meine last.fm-Charts waren einigermaßen wertlos: Aus verschiedenen Gründen tauchten Songs wie “Fireflies” (Owl City), “Baby” (Justin Bieber) oder “Catch Me I’m Falling” (Real Life, hätten Sie’s gewusst?) in meinen Jahres-Top-25 auf, was ich in erster Linie besorgniserregend fand. Außerdem waren alle Songs des Albums von The National dabei, was immerhin schon mal einen deutlichen Hinweis auf das Album des Jahres gibt, denn so unfassbar groß wie “High Violet” war 2010 tatsächlich nichts mehr.

Es ist nicht auszuschließen, dass ich das Beste wie üblich übersehen habe: Arcade Fire, Get Cape. Wear Cape. Fly, Eels, Sufjan Stevens — alles nicht oft genug gehört, weil mir der Sinn grad nach etwas Anderem stand. So habe ich ja auch “Only Revolutions” von Biffy Clyro erst im Oktober 2010 für mich entdeckt, es ist also denkbar, dass es auch im letzten Jahr wenigstens ein gutes Gitarrenrock-Album gab — wahrscheinlich ist es allerdings nicht, zu wenig ist in den vergangenen Jahren im Rocksegment passiert. Die Manic Street Preachers etwa haben mit “Postcards From A Young Man” ein durchaus sehr gutes Spätwerk rausgebracht, aber geknallt hat das jetzt auch nicht richtig. Und falls es spannende Neulinge gab, muss ich sie allesamt übersehen haben: The Hold Steady haben souverän gerockt, Jason Lytle hat mit seiner Post-Grandaddy-Band Admiral Radley schön verschrobenen Indierock gemacht, The Gaslight Anthem waren okay, Ende des Jahres kam mit “All Soul’s Day” ein ordentliches Lebenszeichen von The Ataris — aber, Entschuldigung: Wir sprechen vom Jahr 2010! Völlig okay, dass Ben Folds mit lyrischer Unterstützung von Nick Hornby endlich mal wieder ein richtig gutes Album gemacht hat, aber der Mann ist jetzt auch schon seit 17 Jahren dabei.

Immerhin haben nicht alle Bands so enttäuscht wie Wir Sind Helden, Shout Out Louds, Stereophonics oder – richtig schlecht – Jimmy Eat World und Danko Jones. Weezer haben angeblich schon wieder mindestens ein Album veröffentlicht. Die meisten meiner Lieblingsbands hatten sich eh eine Auszeit genommen und ihre Sänger solo vorgeschickt: Alles überragte dabei Jónsi von Sigur Rós, dessen “Go” zu den besten Alben des Jahres gehört. Jakob Dylan war schon zum zweiten Mal ohne Wallflowers unterwegs, hat die Band aber immer noch nicht aufgelöst. Dabei ist das düster-folkige “Women & Country” eigentlich besser als alles, was er vorher gemacht hat. Fran Healy (Travis) und Brandon Flowers (The Killers) ließen erst Therapiesitzungen erwarten, klangen dann aber gar nicht mehr so anders als ihre Bands — eben gut, aber auch nicht mehr so richtig spannend. Carl Barât gehört auch irgendwie in diese Aufzählung, obwohl er die Dirty Pretty Things ja längst aufgelöst hat und es die Libertines wieder gibt. Kele (Bloc Party) und Paul Smith (Maxïmo Park) hab ich verpasst. Und dieses Jahr veröffentlicht dann Thees Uhlmann (Tomte) sein Solo-Debüt …

In Sachen Hip-Hop ging auch nicht mehr so richtig viel: Kid Cudi blieb mit seinem Zweitwerk hinter den Erwartungen zurück, Kanye West hat ein irres Gesamtkunstwerk rausgebracht, das mit dem Album eines Einzelinterpreten wenig gemein hat und sich mir womöglich erst in ein, zwei Jahrhunderten erschließen wird. Eminem war durchaus kraftvoll wieder da, kriegte den meisten Airplay aber für ein Duett mit der langsam unvermeidlichen Rihanna. Aus Großbritannien kam immerhin Professor Green mit einem dreckig-bunten Grime-Strauß.

Im Pop gab es (neben Lady Gaga) vor allem zwei Themen: Das große Comeback von Take That als Quintett und Lena. Mit Hilfe von Stuart Price (s.a. Scissor Sisters) nahm die einstige Vorzeige-Boygroup (Huch, aus welchem Paralleluniversum kam denn diese Klischee-Formulierung?) ein erstaunlich elektronisches Album auf — “reif” hatte die Band seit ihrem Comeback 2006 ja die ganze Zeit geklungen. Die zu “Progress” gehörende Dokumentation “Look Back, Don’t Stare” zeigt die Fünf dann auch als weise ältere Herren, die ihre Dämonen langsam aber sicher alle bekämpft haben und jedem Mann Mitte/Ende Zwanzig Mut machen, in zehn bis fünfzehn Jahren so gut auszusehen wie nie zuvor. Oder man zeugt wenigstens eine Tochter wie Lena Meyer-Landrut, die exakt fünf Takte brauchte, bis sich erst alle Zuschauer von “Unser Star für Oslo” und dann 85% der deutschen Bevölkerung in sie verliebten. Natürlich war der Triumph beim Eurovision Song Contest eine mittelschwere Sensation und auch für mich persönlich ein Erlebnis, aber das Album “My Cassette Player” war leider trotzdem eine ziemliche Enttäuschung. Textlich schwer rührend, aber auch völlig seelenlos produziert, ragt das von Ellie Goulding geschriebene “Not Following” hervor, der Rest ist nett, aber belanglos.

Was kam sonst aus Deutschland? Tocotronic, die mich etwas ratlos zurückließen, Erdmöbel mit dem besten deutschsprachigen Album seit Jahren, Die Fantastischen Vier, die sich irgendwo zwischen “Bild”-Interview (in Morgenmänteln im Bett!) und Werbedeals vollends der Bedeutungslosigkeit hingaben, während Fettes Brot ihr vorläufiges Ende verkündeten. Und dann halt so Leute, die man persönlich kennt wie Tommy Finke, Enno Bunger oder die phantasischen Polyana Felbel.

Auf vier bis acht großartige Alben folgt eine ganze Menge Mittelmaß und die Gewissheit, dass ich vieles sicher noch überhört habe. Dafür haben mich die Alben, die ich dann tatsächlich gehört habe, zu sehr aufgehalten: The National, Erdmöbel, Delphic, Jónsi, Jakob Dylan und die Vorjahresübersehungen Biffy Clyro und Mumford & Sons. Die Liste meiner Lieblingssongs wird irgendwo hinter Platz 8 recht schnell beliebig, hat aber immerhin einen richtigen Kracher auf der Eins: “Tokyo” von The Wombats, mit denen ich ehrlich gesagt am allerwenigsten gerechnet hätte.

In den Charts dominierten erst die Fußballhymnen (das vom Kommerz zerstörte “Wavin’ Flag” von K’naan und das nur nervige “Waka Waka” von Shakira), ehe sich das Land zum Jahresende zwei wahnsinnig unwahrscheinliche Nummer-Eins-Hits gönnte: Eine 17 Jahre alte Kreuzung zweier Evergreens auf der Ukulele, gesungen vom schwergewichtigen und zwischenzeitlich verstorbenen Israel Kamakawiwo’ole und ein aus dem Werbefernsehen bekannter, ursprünglich nicht als Single angedachter Song von Empire Of The Sun, die anderthalb Jahre zuvor erfolglos versucht hatten, mit einem sehr viel eingängigeren Song über das Werbefernsehen erfolgreich zu sein. In den Albumcharts durfte sowieso jeder mal ran und wenn gerade kein großer Name (Peter Maffay, AC/DC, Iron Maiden, Joe Cocker, Depeche Mode, Bruce Springsteen) sein neues Album rausgehauen hatte, schossen wie selbstverständlich Unheilig wieder an die Spitze der Hitparade.

Na ja: Neues Jahr, neues Glück.

Songs & Alben 2010 — Die Listen

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Bevor es zu spät ist

Nachdem ich in den vergangenen Jahren die besten Alben (Bon Iver, The Gaslight Anthem; Mumford & Sons, Emmy The Great, Biffy Clyro) jeweils erst nach Silvester entdeckt habe, dachte ich mir, dass es dieses Jahr anders werden muss: Ich bitte also jetzt schon um Hinweise, was ich eventuell übersehen haben könnte.

Bisher ganz oben auf meiner Shortlist für die besten Alben 2010 stehen:

  • Erdmöbel – Krokus
  • The National – High Violet
  • Delphic – Acolyte
  • Jónsi – Go
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Gesammelte Platten August/September 2010

Dieser Eintrag ist Teil 8 von bisher 8 in der Serie Gesammelte Platten

Best Coast – Crazy For You
Stellen Sie sich vor, Blondie hätten ein Beach-Boys-Tribute-Album aufgenommen. Vergessen Sie wieder, was Sie sich gerade vorgestellt haben, und hören Sie sich “Crazy For You” an, das Debütalbum von Best Coast. Auf dem Cover sieht man eine Katze, deren Hintern die Umrisse Kaliforniens hat. Da frage ich Sie: Was will man mehr?
Anspieltipps: “Boyfriend”, “The End”, “Summer Mood”, “Each And Everyday”. (LH)

The Black Angels – Phosphene Dream
Da wollte ich gerade mit einer Empfehlung angeben, die ich mir in London im renommierten Rough-Trade-Plattenladen geholt habe, und stelle fest, dass das natürlich das neue Hype/Konsens-Thema ist: The Black Angels aus Austin, Texas, wahlweise einsortiert unter “Psychedelic Rock”, “Stoner Rock” oder auch “Blues Rock”. Die Musik klingt jedenfalls, als stamme sie aus dem vergangenen Jahrhundert — “Sunday Afternoon” könnte gar von den späten Beatles stammen, “River Of Blood” von den Doors und so manches erinnert an The Velvet Underground, die auch für den Bandnamen Pate standen. Dröhnende Gitarren, scheppernedes Schlagwerk — herrlich!
Anspieltipps: “Bad Vibrations”, “Sunday Afternoon”, “Telephone”. (LH)

Erdmöbel – Krokus
Ich würde nie behaupten, wirklich zu verstehen, wovon Markus Berges hier singt. Die Worte sind deutsch (zumindest die meisten), aber die Sätze, die daraus entstehen, tragen sieben Siegel. Doch es ist eine verspielte PeterLicht-Rätselhaftigkeit, kein “Oh mein Gott, ich bin zu dumm!”-Gefühl wie bei Tocotronic. Wie bei den frühen R.E.M.-Alben ist es aber auf eine gewisse Weise auch ganz egal, wovon die Texte handeln (obwohl die musikalische Verarbeitung eines witterungsbedingten Nothalts in der niederrheinischen Provinz längst überfällig war und jetzt endlich in “Emma” nachgeholt wurde), weil der Gesang auch als zusätzliches Instrument funktioniert. Musikalisch ist das Album mit seinen vielen Samba- und Jazz-Anleihen eh top und wenn es am Ende heißt “Das Leben ist schön”, dann versteht man das auch beim ersten Hören. Ich bin zu faul, das zu verifizieren, aber es könnte sich um das beste deutschsprachige Album des Jahres handeln.
Anspieltipps: “77ste Liebe”, “Fremdes”, “Wort ist das falsche Wort”, “Emma”, “Krokusse”, “Das Leben ist schön”. (LH)

Ben Folds – Lonely Avenue
Da ist es also endlich, das Album, auf dem Ben Folds Texte von Nick Hornby vertont hat. Alle Zweifel, ob die Texte eines Schriftstellers nicht etwas zu sperrig für Popsongs sein könnten, zerschlagen sich spätestens mit dem zweiten Track des Albums: “Picture Window” ist der beste Folds-Songs seit mindestens fünf Jahren. Und Geschichten über verschiedene Charaktere hat Folds ja immer schon erzählt, war also insofern selbst schon immer schwer literarisch tätig. Nach dem etwas speziellen “Way To Normal” ist “Lonely Avenue” musikalisch wieder deutlich entspannter und melancholischer geworden
Anspieltipps: “Picture Window”, “Doc Pomus”, “From Above”, “Saskia Hamilton”, “Belinda”. (LH)

I Blame Coco – The Preparty
Ich wusste ja von nichts, also nicht wie Sting mit bürgerlichem Namen heißt (Gordon Sumner). Weder, dass er eine modelnde und singende Tochter hat (Coco Sumner alias Eliot Pauline Sumner). Geschweige denn, dass die gute Dame entgegengesetzt aller Klischees, die man dann sofort abspult wenn der Herr Papa ein erfolgreicher und von mir wertgeschätzer Musiker ist, erfüllt.
Ganz und gar nicht, Coco Sumner fetzt! So richtig, eine taffe junge Künstlerin, die sich hinter ihrem Vater nicht verstecken braucht. Die Stimme rauchig, die Songs erfrischend und passend für gediegende Abende mit Freunden, zum herrlich tanzen oder, oder, oder!
Der Opener auf Preparty heißt “Bohemian Love” und so relaxed und gemütlich klingen auch viele der anderen Songs. “Voice In My Head” erinnert dann schon an den Herrn Vater, was aber wunderbar stimmig ist. Ein bisschen Reggae ein wenig Folk, aber vor allem eine angenehm würzige Stimme und eine gefühlte Relaxtheit die sich bei mir einschleicht. Was nicht heißt das die Platte einschläfert, nein, vielmehr gibt es diese Momente, in denen man sich entspannt zurück lehnen kann und genießt.
Die neue Platte “The Constant” ist auch schon draußen und ist auch äußerst hörenswert!
Anspiel-genießer-tipps: “Bohemian Love”, “How Did All These People Get In My Room”, “Voice In My Head”. (AK)

Manic Street Preachers – Postcards From A Young Man
Die Soloalben, die James Dean Bradfield und Nicky Wire 2006 veröffentlicht haben, waren das beste, was den Manic Street Preachers passieren konnte, denn seitdem erlebt die Band ihren zweiten Frühling: “Send Away The Tigers” war groß, “Journal For Plague Lovers” rau — und mit ihrem zehnten Album zielen die Manics noch mal ganz präzise in Richtung Stadion. Streicher, Chöre, eingängigste Melodien — alles ist dabei und Bradfields Stimme klingt sogar noch ein bisschen besser als früher. “Postcards From A Young Man” ist als Alterswerk gewollt, in den Texten klingt einiges an Resignation und Melancholie mit, aber alt klingt die Band kein bisschen. Und wenn es jetzt Tradition wird, dass Nicky Wire auf jedem Album einen Song singen darf, dann dürfen die Manics von mir aus gerne bis zum Rentenalter weitermachen. “The Future Has Been Here 4 Ever” klingt jedenfalls schon mal arg nach den Rolling Stones.
Anspieltipps: “(It’s Not War) Just The End Of Love”, “Some Kind Of Nothingness”, “Hazelton Avenue”. (LH, Rezensionsexemplar)

Lasse Matthiessen – Stray Dog
Manche Dinge sind etwas ganz besonderes. Manche Musiker sind etwas ganz besonderes. Manche Musiker können alleine auf einer Bühne stehen und manche haben noch ein paar mehr Musiker dabei.
Lasse Matthiessen, ursprünglich aus Dänemark und jetzt Parttime-Berliner, ist so ein Besonderer, der alleine und manchmal mit seiner Band im Quartett sein Publikum verzaubert.
Immer mit den leisen Tönen, dem gekonnten Spielen mit Laut und Leise, auch dem Laut und Leise in seiner Stimme. Mit unerwarteten Brüchen, Gefühl und Witz. Mit seiner Gitarre, einer Mundharmonika und seiner Band, bestehend aus Violine (Søren Stensby), Kontrabass (Niels Knudsen) und Schlagzeug (Terkel Nørgaard), hat Lasse Matthiessen etwas ganz besonderes geschaffen. Zwischen Singer/ Songwriter, Folk, Indie und Jazz verwandeln sich die Akkorde zu wunderbaren Melodien.
Ich hatte das große, große Glück ihn in einer meiner kleinen Lieblingsorte (der Popo Bar in Neukölln) in Berlin bei einem Live-Konzert zu sehen. Was mich immer besonders glücklich macht, wenn innerhalb einer Band alle Musiker Raum haben für ihr Instrument und sich zusammen so wunderbar ergänzen.
Am Ende bleibt ein kollektiv zufriedenes Publikum.
Habe mir gleich die CD geschnappt und freu mich, hier CD und Konzert Review in einem Abzuliefern.
Anspieltipps: “Before We Dissappear”, “Soon The Spring”, “Borrowed Time”, “Where Are You”. (AK)

Professor Green – Alive Till I’m Dead
Beschreibungen wie “der englische Eminem” sind natürlich nie wirklich aussagekräftig, helfen einem aber enorm bei der groben Einordnung. “Die männliche Lady Sovereign” würde es schon besser treffen, aber allein die Samples (“Just Be Good To Me” von The SOS Band, gesungen von Lily Allen, und “Need You Tonight” von INXS) sprechen für sich. “Alive Till I’m Dead” ist eine clevere, höchst vergnügliche Rap-Platte für Leute, die Mike Skinners Akzent nicht ertragen.
Anspieltipps: “Just Be Good To Green”, “I Need You Tonight”, “Do For You”, “Monster”, “Closing The Door”. (LH)

Philip Selway – Familial
Ganz bedächtig klingt der erste Song “By Some Miracle”, auf Sanftpfoten tragen sich die Töne ins Ohr. Mit “Familial” beginnt das Soloalbum des Drummers DER Band (Radiohead) wirklich mit leisen Tönen. Ein bisschen mysteriös. Ein wenig wunderlich, aber Radiohead war schon immer wunderlich und mysteriös.
Leise Kanten und anschmiegsame Ecken zeichnen dieses Album aus. Die Melodien sind nicht aufdringlich, die Texte stehen für die Zwischentöne im Leben. Und doch bleibt die Spannung der Platte fast durchgehend aufrecht erhalten.
Und mehr will ich zu dieser Spätsommer/Herbst- und bestimmt wieder entdeckbaren Frühjahrsplatte gar nicht sagen. Selber lauschen, ist eh besser!
Anspieltipp: “Beyond Reason”, “The Ties That Bind Us”. (AK)

Wir Sind Helden – Bring mich nach Hause
Ich will ehrlich sein: Nach unserer enervierenden Listening-Session hatte ich kein Bedürfnis mehr, das Album noch einmal aufzulegen. Das mag der Band gegenüber ungerecht sein, aber da war einfach so viel andere Musik, die mich mehr interessiert hat.
Anspieltipps: “Alles”, “Bring mich nach Hause”. (LH, Rezensionsexemplar)

Mitarbeit an dieser Ausgabe:
AK: Annika Krüger
LH: Lukas Heinser