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Aber hier leben, nein danke!

Am Frei­tag ist das neue Album von Toco­tro­nic erschie­nen. Der Titel­song wäre bei­na­he das ers­te mir bekann­te Lied gewe­sen, in dem der Orts­na­me „Dins­la­ken“ vor­kommt — allein: Es stan­den ästhe­ti­sche Grün­de im Wege, wie Sän­ger Dirk von Lowtzow der „NRZ“ erzähl­te:

Im Titel­song von „Gol­den Years“ geht es um Heim­weh und Lie­bes­sehn­sucht im Künst­ler­le­ben unter­wegs – „Aber man muss dank­bar sein, wenn man den Leu­ten noch begeg­net, nicht nur als Klick auf Spo­ti­fy“. Machen die­se zwei Stun­den am Abend auf der Büh­ne den gan­zen Tour­stress wett?

 

In den aller­meis­ten Fäl­len: ja. Und oft auch auf unvor­her­ge­se­he­ne Art und Wei­se. Eine Inspi­ra­ti­on für die­ses Lied war ein Kon­zert, das wir im Som­mer 2023 in Dins­la­ken gege­ben haben, auf einer Frei­licht­büh­ne. Und ohne Dins­la­ken zu nahe tre­ten zu wol­len: Ich habe das nicht als den Nabel der Welt emp­fun­den. Und es hat zudem noch aus Eimern gereg­net. Trotz­dem war es eines der schöns­ten Kon­zer­te, die wir je gespielt haben. Weil es so toll anzu­se­hen war, wie die Leu­te da im Regen in die­sem ver­wun­sche­nen Park stan­den und durch­ge­hal­ten haben.

Im Text heißt es aller­dings: „Frei­licht­büh­ne Reck­ling­hau­sen /​ Wo die öden Win­de wehen“. Zufäl­li­ge Ver­frem­dung oder ver­bin­den Sie mit Reck­ling­hau­sen etwas Kon­kre­tes?

 

Nee, ich fand ein­fach das Wort­paar gut. Ich dach­te an die­ses Kon­zert in Dins­la­ken, das war die Blau­pau­se. Aber „Frei­licht­büh­ne Reck­ling­hau­sen“ klingt pho­ne­tisch so wahn­sin­nig schön. Das geht einem gut über die Lip­pen und lässt sich gut sin­gen.

Ande­rer­seits dürf­te es bis­her auch nicht vie­le Songs geben, in denen Reck­ling­hau­sen vor­kommt — und Göt­tin­gen:

Lasst uns jeden­falls gemein­sam hof­fen, dass die Pres­se­stel­le der Stadt Dins­la­ken nicht wie­der eine Pres­se­mit­tei­lung raus­gibt!

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Musik Leben

18 Jahre, 18 Songs

Für Gün­ter und Jür­gen, die ich ohne die­ses Blog nie ken­nen­ge­lernt hät­te.
Und für Dör­te, die immer alles gele­sen hat.

Es war die nahe­lie­gends­te Idee der Welt: Zum 18. Geburts­tag des Blogs wäh­le ich einen Song aus jedem Jahr aus — fer­tig ist die Play­list!

Aber nach wel­chen Kri­te­ri­en? Ein­fach das Lied neh­men, das jeweils mei­ne Lis­te „Song des Jah­res“ ange­führt hat? Das wäre ja ein biss­chen lang­wei­lig — und sol­che Lis­ten gab es auch gar nicht in jedem Jahr.

Die Kaffeetasse aus dem ersten Coffee-And-TV-Logo

Also: 18 ande­re Songs. Wel­che, die ihr jewei­li­ges Jahr, aber auch die­ses Blog gut reprä­sen­tie­ren; die für mich eine per­sön­li­che Bedeu­tung haben; die ich auch heu­te noch höre. Eine halb­wegs aus­ge­wo­ge­ne Mischung aus Gen­res, Geschlech­tern und Spra­chen, also eben dann doch auch: Kon­text.

Und so wur­de aus einem klei­nen Gim­mick zum Jubi­lä­um eine aus­ufern­de Recher­che-Akti­on im eige­nen Leben ’n‘ Werk und einer der längs­ten Tex­te, der hier in den letz­ten 18 Jah­ren erschie­nen ist:

2007: Mika – Grace Kel­ly
Als die­ses Blog an den Start geht, sind Gitar­ren­mu­sik im All­ge­mei­nen und Indie­rock im Spe­zi­el­len noch ein Ding. Bei der damals noch statt­fin­den­den „Leser­wahl“ (ein Kon­strukt, das wir uns rela­tiv offen­sicht­lich von „Plat­ten­tests online“ abge­schaut haben), wird „A Weekend In The City“ von Bloc Par­ty (Wann habt Ihr zuletzt an die­se Band gedacht?) zum „Album des Jah­res“ gewählt und „Ruby“ von Kai­ser Chiefs (Oder an die­se Band?!) zum „Song des Jah­res“.

Auf mei­ner Jah­res­bes­ten­lis­te ganz vor­ne ist „Tonight I Have To Lea­ve It“ von Shout Out Louds, das ich auch ewig nicht mehr gehört habe. Und ganz ver­steckt, auf Platz 22: „Grace Kel­ly“ von Mika, ein etwas exal­tier­ter over-the-top-Pop­song mit Vau­de­ville- und Musi­cal-Anlei­hen von einem jun­gen Mann, den das Adjek­tiv „andro­gyn“ beglei­tet. (Es waren, wie gesagt, ande­re Zei­ten.) Ein Song, den mir „Plan B“, die etwas anspruchs­vol­le­re Musik­sen­dung von 1Live (ich unter­schied damals noch puber­tär zwi­schen „guter“ Indie- und „schlech­ter“ Main­stream-Musik; ande­re Zei­ten inde­ed), in die WG-Küche gebracht hat.

15 Jah­re spä­ter sit­ze ich beim Euro­vi­si­on Song Con­test in Turin in der deut­schen Kom­men­ta­to­ren­ka­bi­ne, zum neun­ten Mal als Assis­tent von Peter Urban, der wegen der aus­klin­gen­den COVID-19-Pan­de­mie von Ham­burg aus kom­men­tiert. Gelan­det war ich bei die­ser Ver­an­stal­tung über­haupt nur, weil Ste­fan Nig­ge­mei­er 2007 mei­ne Kom­men­ta­re in sei­nem Blog gele­sen und mich gefragt hat­te, ob ich mit ihm einen „Grand-Prix-Füh­rer“ schrei­ben wür­de. Der Rest ist Geschich­te, bzw. BILD­blog, Oslog, Dus­log, Baku­b­log, besag­ter Job als Kom­men­ta­to­ren-Assis­tent und mein Buch. Und die­ser Mika mit sei­nem Song über Grace Kel­ly (bzw. dar­über, wie man sich anpasst, um den Men­schen zu gefal­len) mode­riert da jetzt die­se Ver­an­stal­tung gemein­sam mit Lau­ra Pausi­ni und Ales­san­dro Cat­tel­an, er bringt inter­na­tio­na­len Gla­mour in eine (vor allem hin­ter den Kulis­sen) eher chao­ti­sche TV-Sen­dung und er singt ein Med­ley sei­ner Hits.

Es ist ein selt­sa­mer, rüh­ren­der full-cir­cle-Moment, der die größ­te Musik­show der Welt mit mei­ner alten WG-Küche und allem dazwi­schen kurz­schließt, und in einem Anfall von Geis­tes­ge­gen­wart und emo­tio­na­ler Über­for­de­rung schrei­be ich auf jener Social-Media-Platt­form, die damals noch Twit­ter heißt: „Es ist schön, an das Jahr 2007 erin­nert zu wer­den. Es ist noch schö­ner, dass in mei­nem Leben heu­te unge­fähr alles bes­ser ist als damals.“ Oder, mit Mikas Wor­ten: „Ca-ching!
[Songs 2007 von damals]

2008: The Hold Ste­ady – Con­s­truc­ti­ve Sum­mer
Die Leser*innen, die ich damals noch „Leser“ nen­ne, wäh­len „Sex On Fire“ von Kings Of Leon zum Song und „Heu­re­ka“ von Tom­te zum Album des Jah­res. Ich samm­le die wich­tigs­ten Nazi-Ver­glei­che (eine Kate­go­rie, der damals noch ein gewis­ser Unter­hal­tungs­fak­tor anzu­haf­ten scheint) und Barack-Oba­ma-Refe­ren­zen und arbei­te den Rest der Zeit fürs BILD­blog.

Mei­ne wich­tigs­te Quel­le für neue Musik ist „All Songs Con­side­red“, ein Pod­cast von NPR, der auch das Vor­bild für mei­ne eige­ne, kurz­le­bi­ge Musik­sen­dung bei Spo­ti­fy 2023/​24 wird. Hier sto­ße ich erst­mals auf The Hold Ste­ady, eine Band aus Brook­lyn (ursprüng­lich: Minneapolis/​St. Paul), die Geschich­ten von Ver­lie­rern und Under­dogs in hym­ni­schen Rock­songs erzählt wie sonst nur Bruce Springsteen. Ihr Album „Stay Posi­ti­ve“ bringt mich durch ein Jahr, von dem ich heu­te so gut wie nichts mehr weiß, des­halb las­se ich mir das Sym­bol vom Album­co­ver 2011 auf mei­ne Wade täto­wie­ren.

Auch ihre Musik bleibt: 2009 kau­fe ich mir alle Alben und höre sie rauf und run­ter (wie man es in einer Welt ohne Strea­ming eben so mach­te), 2010 rufe ich den „Con­s­truc­ti­ve Sum­mer“ aus: „We’­re gon­na build some­thing this sum­mer.“ Hier ent­ste­hen dann end­lich Erin­ne­run­gen, die für immer blei­ben wer­den, unter­malt von „Boys And Girls In Ame­ri­ca“, „Stay Posi­ti­ve“ und dem damals neu­en Nach­fol­ge-Album „Hea­ven Is When­ever“.
[Songs 2008 von damals]

2009: Kili­ans – Home­town
Nach über fünf Jah­ren im Stu­den­ten­wohn­heim muss ich mir mal lang­sam eine eige­ne Woh­nung suchen und ich über­le­ge: In Bochum blei­ben oder nach Ham­burg zie­hen? Es ist ein Jahr der gro­ßen Gefüh­le zwi­schen Welt erobern wol­len und zuhau­se ein­sper­ren, beglei­tet von der ganz gro­ßen, uner­füll­ten Lie­be.

Mei­ne Freun­de von den Kili­ans (Bru­der, Demo-CD, Thees Uhl­mann, Tom­te-Tour — you know the sto­ry!) ver­öf­fent­li­chen im April ihr zwei­tes Album „They Are Cal­ling Your Name“ und spie­len aus die­sem Anlass ein Kon­zert auf dem Hans-Böck­ler-Platz in Dins­la­ken, jener Stadt, in der wir alle – die Kili­ans, ich und die ganz gro­ße, uner­füll­te Lie­be – auf­ge­wach­sen waren. Ihr Song „Home­town“ ist das Ange­bot einer Hym­ne.

Die Band löst sich 2013 auf, da wird der Hans-Böck­ler-Platz gera­de mit einem Ein­kaufs­zen­trum über­baut. Wenn man heu­te „Dins­la­ken“ sagt, reagie­ren nicht mehr vie­le Men­schen mit „Aaaah, die Kili­ans!“ (aber – und das wird die Bür­ger­meis­te­rin freu­en – auch nicht mehr mit „Aaaah, der Wend­ler!“ oder „Aaaah, die Sala­fis­ten!“). Die Stadt hat sogar die Emscher­mün­dung ver­lo­ren. Aber Erin­ne­run­gen und Musik wer­den ja immer blei­ben.

(Ich ent­schei­de mich 2009 übri­gens für Bochum. My home­town.)

2010: Lena – Satel­li­te
„Irgend­wann musst Du Dir das mal vor Ort anschau­en“, hat­te Ste­fan Nig­ge­mei­er 2008 über den Euro­vi­si­on Song Con­test (damals und immer schon: „Euro­vi­si­on Song Con­test“) gesagt, aber weil Mos­kau schon damals kein Ort ist, an dem man ger­ne sein möch­te, ver­schie­ben wir unser Pro­jekt auf das Fol­ge­jahr und nach Oslo. Womit wir nicht rech­nen: dass in Deutsch­land ein regel­rech­ter ESC-Hype um eine 18-jäh­ri­ge Abitu­ri­en­tin aus Han­no­ver aus­bricht und die die­se merk­wür­di­ge Quatsch-Ver­an­stal­tung tat­säch­lich gewinnt. (Also: In der ers­ten Fol­ge des Oslog wet­te ich natür­lich genau das, aller­dings ohne auch nur einen ande­ren Wett­be­werbs­bei­trag zu ken­nen.)

Als altes Thea­ter-Kind zieht mich die jähr­li­che Leis­tungs­schau der Büh­nen­tech­nik-Indus­trie sofort in ihren Bann und auch musi­ka­lisch ist das alles gar nicht mehr so schlimm, wenn man es nur oft genug gehört hat. Aber trotz der ein­schnei­den­den, im Nach­hin­ein lebens­weg­wei­sen­den Erfah­rung in Oslo traue ich mich nicht, „Satel­li­te“ auf mei­ne Jah­res­bes­ten­lis­te zu packen. Da sol­len auch wei­ter nur Indie-kre­di­be­le Sachen zu fin­den zu fin­den sein (und so igno­rie­re ich offen­bar auch das tol­le Take-That-mit-Rob­bie-Album „Pro­gress“ kom­plett). Das passt zu einem Jahr, in dem ich nicht gera­de dadurch auf­fal­le, irgend­wel­che Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, son­dern mich lie­ber vom Großstadt‑, vor allem aber Nacht­le­ben rund um mei­ne neue Woh­nung in der Innen­stadt mit­rei­ßen las­se und als neu­er BILD­blog-Chef in Talk­shows gehe und zu Jour­na­lis­ten­kon­gres­sen ins Aus­land flie­ge. („It’s phy­sics /​ There’s no escape.“)

Hier also spä­te Genug­tu­ung für einen Song und ein Ereig­nis, ohne die ich heu­te nicht da wäre, wo ich bin, und ohne die der ESC in Deutsch­land immer noch als „Schla­ger-Grand-Prix“ fir­mie­ren wür­de, bei dem man ohne­hin nichts rei­ßen kann.
[Songs 2010 von damals]

2011: Thees Uhl­mann – 17 Wor­te
Mein Kum­pel Thees Uhl­mann ist im Jahr 2011 wie so oft wei­ter als ich: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Ich bin vier bis fünf Aben­de die Woche im Frei­beu­ter im Bochu­mer Bermuda3eck und schrei­be neben­her das BILD­blog voll. Des­we­gen igno­rie­re ich Thees‘ selbst­be­ti­tel­tes Solo-Debüt damals auch rüpe­lig bei den „Alben des Jah­res“ (und lobe lie­ber das nächs­te ega­le Cold­play-Album), obwohl ich es wirk­lich oft höre.

Aber die­se Lis­te hier ist auch eine Chan­ce auf Wie­der­gut­ma­chung, denn sechs Jah­re spä­ter ste­he ich beim GHvC-Geburts­tag in Ham­burg im Nie­sel­re­gen: Vater gewor­den, Bezie­hung zer­bro­chen, dabei, das Glück im Klei­nen zu suchen. Also völ­lig ande­re Prio­ri­tä­ten und Prin­zi­pi­en: „Mei­ne Wahr­heit in 17 Wor­ten: /​ Ich hab ein Kind zu erzie­hen /​ Dir einen Brief zu schrei­ben /​ Und ein Fuß­ball-Team zu sup­port­en.“ (Bei Erschei­nen des Albums hat­te ich Thees eine SMS geschrie­ben, dass das nur 16 Wor­te wären, weil man „Fuß­ball­team“ zusam­men­schrei­be. Sei­ne Ant­wort kam natür­lich prompt: „Fuß­ball Team!“)

2021 sehe ich Thees Uhl­mann und Band live im Burg­thea­ter in Dins­la­ken (weil: natür­lich). Es ist mein ers­ter Kon­zert­be­such seit andert­halb Jah­ren, mein Sohn ist an mei­ner Sei­te, mei­ne Eltern irgend­wo in mei­nem Rücken, der VfL Bochum ist auf­ge­stie­gen. Wei­te Tei­le der Öffent­lich­keit sind wäh­rend der immer noch anhal­ten­den Pan­de­mie dem Wahn­sinn anheim­ge­fal­len, aber als Thees „17 Wor­te“ spielt, macht für mich alles Sinn: Wir sin­gen, um uns zu erin­nern.
[Songs 2011 von damals]

2012: Car­ly Rae Jep­sen – Call Me May­be
Die­ser beklopp­te Euro­vi­si­on Song Con­test hat mich nach Aser­bai­dschan ver­schla­gen. Ich sit­ze in Baku im Hotel­zim­mer, gucke rus­si­sches Musik­fern­se­hen und sehe die­ses Video. Als der Song zu Ende ist, zap­pe ich wei­ter und sehe das glei­che Video auf dem nächs­ten Kanal direkt noch mal von vorn. „Komi­sche Rus­sen“, den­ke ich, will den Song bei Face­book pos­ten und stel­le fest, dass ich mit „Call Me May­be“ einen inter­na­tio­na­len Hit ver­passt habe.

Wahr­schein­lich ist es die­ser Moment, in dem ich die­ses eli­tär-puber­tä­re Musik-nur-gut-fin­den-wenn-sie-sonst-kei­ner-hört-Din­gen auf­ge­be und end­lich frei bin, Din­ge gut zu fin­den, nur weil ich sie gut fin­de. Um Din­ge auch öffent­lich gut zu fin­den (jeden­falls meis­tens), star­ten Tom The­len und ich im Blog unse­ren Kino-Pod­cast „Cine­ma And Beer“.

„Befo­re you came into my life /​ I missed you so bad“ ist immer noch eine der bes­ten Zei­len, die je über roman­ti­sche Lie­be geschrie­ben wur­de — und das waren ja nun wirk­lich nicht weni­ge. Car­ly Rae Jep­sen in der Köl­ner Essig­fa­brik ist im Febru­ar 2020 mein letz­tes Kon­zert vor dem Lock­down (ist es nicht Magie, wie hier alles inein­an­der­greift?!) und die fröh­li­che Stim­mung die­ses durch­aus ESC-taug­li­chen Publi­kums trägt mich durch die ers­ten, dunk­len Mona­te der Iso­la­ti­on.
[Songs 2012 von damals]

2013: Daft Punk feat. Phar­rell Wil­liams & Nile Rogers – Get Lucky
Ich sit­ze in einem Auto, das mich vom Hotel zur Mal­mö Are­na bringt, neben mir: ESC-Kom­men­ta­to­ren­le­gen­de Peter Urban. Als wäre das nicht schon absurd genug, wippt die­ser 65-jäh­ri­ge Mann zur Musik aus dem Auto­ra­dio mit: „Get Lucky“ von Daft Punk, Phar­rell Wil­liams und Nile Rogers. Natür­lich kennt er das, denn es ist ja ein inter­na­tio­na­ler Super­hit, dem man nur schwer ent­kom­men kann, und Peter wür­de auch jede Men­ge deut­lich obsku­re­re Songs mit­sin­gen, die in den letz­ten ca. 50 Jah­ren erschie­nen sind, aber irgend­wie über­rascht es mich in die­sem Moment doch, denn Daft Punk, das sind doch die von Viva 2 (wo sie jetzt zuge­ge­be­ner­ma­ßen auch nicht zwin­gend zur Avant­gar­de gezählt hat­ten).

Die Domi­no­stei­ne, von denen die­ses Blog der ers­te war, haben mich hier­her gebracht, ins Epi­zen­trum des Enter­tain­ments. Nur einen Monat spä­ter sol­len sie mich zum Late-Night-Mei­nungs­ma­ga­zin „Tages­schaum“ mit Fried­rich Küp­pers­busch füh­ren und von dort zu unse­rem gemein­sa­men Pod­cast „Lucky & Fred“. Das Leben meint es gut mit mir, beruf­lich wie pri­vat.
[Songs 2013 von damals]

2014: Andrew McMa­hon In The Wil­der­ness – High Dive
Ich hät­te immer gesagt, dass das Jahr 2014 hier im Blog gar nicht statt­ge­fun­den hat, aber es gibt doch eini­ge Ein­trä­ge aus die­ser Zeit — die meis­ten als Teil der kurz­le­bi­gen Serie „Song des Tages“. Ich erin­ne­re mich an nichts, weil ich zu sehr mit ande­ren Sachen beschäf­tigt bin: Umzug, neue Jobs, Hoch­zeit pla­nen und absa­gen, Vater wer­den, irgend­wie ver­su­chen, mei­ne Bezie­hung zu ret­ten. Alles Din­ge, auf die einen Pop­kul­tur nur unzu­rei­chend vor­be­rei­tet; alles Din­ge, die für Pop­kul­tur wenig Zeit las­sen.

Das ers­te neue Album, das ich mit mei­nem Sohn höre, ist das Solo­de­büt von Andrew McMa­hon, der mich mit sei­nen Bands Some­thing Cor­po­ra­te und Jack’s Man­ne­quin jetzt auch schon mehr als zehn Jah­re beglei­tet. Er ist auch gera­de Papa gewor­den, so kann ich die Ver­ar­bei­tung mei­ner Lebens­wirk­lich­keit wie­der mal auf ihn abwäl­zen und ein­fach sei­ne Songs hören. Obwohl wir doch noch jung sind, ist da viel Nost­al­gie in sei­nen Tex­ten wie „High Dive“, aber Face­book ersetzt Knei­pen­aben­de mit Freund*innen ja auch nur bedingt.

2015: Ben Folds feat. yMu­sic – Pho­ne In A Pool
2015 ist dann tat­säch­lich das Jahr, das nicht war, denn ich schrei­be sen­sa­tio­nel­le sie­ben Blog­ein­trä­ge, von denen die meis­ten ursprüng­lich Face­book-Posts waren. Offen­bar schaf­fe ich es immer­hin ein paar Mal ins Kino. (Ach, „The Force Awa­kens“ ist von 2015?!) Ich kann mich an nichts erin­nern und es geht mir wirk­lich nicht gut.

Ein biss­chen Trost kommt von mei­nem ewi­gen Hel­den Ben Folds, der gera­de die vier­te Schei­dung (von inzwi­schen fünf) hin­ter sich hat und mit dem Kam­mer­mu­sik-Ensem­ble yMu­sic ein Album ein­spielt, auf dem auch sein ers­tes Kla­vier­kon­zert zu hören ist. (Wir gehen alle unter­schied­lich mit Lebens­kri­sen um.) In „Pho­ne In A Pool“ berich­tet er: „Found the love of my life again /​ Y’all knows what I means /​ And I’ll be back on the sofa in a pudd­le in a cou­ple of weeks“. Bei all dem Elend ist es schön, dass jemand, der mich mein hal­bes Leben lang beglei­tet, immer noch Songs schrei­ben kann, die so gut zu mei­nem eige­nen Leben pas­sen. Natür­lich gibt es am Ende des Jah­res kei­ne Lis­ten — ich hab ja eh viel zu wenig Musik gehört und wann hät­te ich die denn noch schrei­ben sol­len?

2016: Weezer – Cali­for­nia Kids
Neu­an­fang in einer eige­nen Woh­nung und das Vor­ha­ben, das Blog jetzt aber wirk­lich wie­der zu befeu­ern. Da passt es ganz gut, dass Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re, des­sent­we­gen ich als Teen­ager mit dem Schrei­ben ange­fan­gen hat­te, ein neu­es Buch ver­öf­fent­licht, unge­fähr zeit­gleich mit dem neu­en Album der von uns hoch ver­ehr­ten Pet Shop Boys und dem von Weezer. Alle drei Acts eint, dass ihr Schaf­fen nicht zu jedem Zeit­punkt ihrer Kar­rie­re den Ansprü­chen des eige­nen Publi­kums genüg­te, aber jetzt sind sie wie­der voll da.

Also eigent­lich eine gute Gele­gen­heit, dar­über zu schrei­ben und über ande­re Din­ge, die mir Freu­de berei­ten, aber das Inter­net ist damals im wesent­li­chen Face­book und dort sind wir alle damit beschäf­tigt, mit irgend­wel­chen AfD-Anhän­gern zu dis­ku­tie­ren, die irgend­wo etwas Dum­mes kom­men­tiert haben. Um die­sem gan­zen Irr­sinn zu ent­flie­hen, schrei­be ich nicht etwa wie­der mehr ins Blog, son­dern star­te mei­nen eige­nen News­let­ter. Da macht das Schrei­ben immer­hin auch Spaß.

Weezer, jeden­falls, ken­ne ich seit mehr als 20 Jah­ren, als das Video zu „Bud­dy Hol­ly“ bei „Hit-Clip“ lief und auf der Win­dows-95-CD-Rom ent­hal­ten war. Jetzt ver­öf­fent­li­chen sie schon das vier­te Album namens „Weezer“ (nach dem blau­en, dem grü­nen und dem roten Album jetzt ganz Beat­les-mäßig das wei­ße), das mei­nen Sohn und mich auf vie­len Aus­flü­gen zum Kem­n­ader See beglei­tet und ihr bes­tes seit Jahr­zehn­ten ist. Der ope­ning cut „Cali­for­nia Kids“ han­delt von den glück­li­chen jun­gen Men­schen aus dem Gol­den Sta­te, die einem das Leben ret­ten. Ich nen­ne Kali­for­ni­en ger­ne „my home away from home“, was viel­leicht etwas prä­ten­ti­ös ist, aber ich hab da halt Fami­lie und es ist auch der ein­zi­ge Ort außer­halb des Ruhr­ge­biets, an dem ich je so viel Zeit am Stück ver­bracht habe. Der Staat bleibt auch nach der Wahl von Donald Trump zum US-Prä­si­den­ten das (natür­lich eher theo­re­ti­sche) Ide­al, das ich bewun­de­re, genau­so wie ich Men­schen auch lie­ber aus der Fer­ne toll fin­de — Cali­for­nia Kids halt.

2017: kett­car – Ankunfts­hal­le
Als die­ses Blog an den Start geht, haben kett­car bereits zwei Alben ver­öf­fent­licht: ihr Debüt „Du und wie­viel von Dei­nen Freun­den“, ein instant clas­sic, und – beglei­tet von Fern­seh­auf­trit­ten und ganz­sei­ti­gen Zei­tungs­ar­ti­keln – den Nach­fol­ger „Von Spat­zen und Tau­ben, Dächern und Hän­den“. Trotz­dem schrei­be ich in all den Jah­ren rela­tiv weni­ge Tex­te über die­se Band, die mir so wich­tig ist. Viel­leicht weil ich den­ke, dass das eh klar ist.

2017 liegt das letz­te (eher okaye) kett­car-Album fünf Jah­re zurück, Mar­cus Wie­busch hat in der Zwi­schen­zeit ein (ziem­lich gutes) Solo­al­bum ver­öf­fent­licht, aber plötz­lich ist die Band wie­der ein Macht­block mit­ten in Euro­pa: Ihre stets kla­re poli­ti­sche Hal­tung, die Jah­re vor­her noch ein biss­chen folk­lo­ris­tisch anmu­te­te, ist inzwi­schen not­wen­dig, aber neben Songs wie „Som­mer ’89“, „Wagen­burg“ und „Mann­schafts­auf­stel­lung“ gibt es auch jene, die sich anfüh­len wie Pola­roids (oder Ins­ta-Posts) aus dem All­tag. „Die Stra­ßen unse­res Vier­tels“ ersetzt eine gan­ze Fern­seh­se­rie über das Fami­li­en­le­ben in Hips­ter-Vier­teln, ohne sich für eine Sekun­de Harald-Schmidt-mäßig über Hafer­milch lus­tig zu machen; „Trost­brü­cke Süd“ ist ein Kame­ra­schwenk durch einen Lini­en­bus vol­ler Men­schen, die auf­ste­hen, atmen, sich anzie­hen und hin­ge­hen, und „Ankunfts­hal­le“ der Blog-Ein­trag, News­let­ter oder Song, den ich immer hat­te schrei­ben wol­len: ein Lob­lied auf die hei­len­de Kraft von Flug­ha­fen-Ankunfts­hal­len, wo Men­schen sich nach lan­ger Zeit der Tren­nung wie­der in die Arme fal­len.

Als kett­car und Thees Uhl­mann im August im Ham­bur­ger Nie­sel­re­gen 15 Jah­re Grand Hotel van Cleef fei­ern, ist weni­ge Tage zuvor mei­ne Oma gestor­ben, die hier von Anfang an mit­ge­le­sen hat­te. Ende Dezem­ber liegt mein Opa im Ster­ben und ich fah­re mit mei­nem Sohn zum Düs­sel­dor­fer Flug­ha­fen, Men­schen in der Ankunfts­hal­le gucken.
[Songs des Jah­res 2017 damals]

2018: Rae Mor­ris – Do It
Hat­te ich oben – also vor ca. 18.000 Zei­chen – nicht noch geschrie­ben, dass in die­ser Lis­te expli­zit nicht die jewei­li­gen Songs des Jah­res auf­tau­chen sol­len? Well: We make up the rules as we go along!

Rae Mor­ris hat sich ihre Son­der­rol­le hier im Blog ver­dient: Weil ich mich 2012 instant­ly in ihren Song „Don’t Go“ aus dem (eigent­li­chen) Seri­en­fi­na­le von „Skins“ (der ein­zi­gen Fern­seh­se­rie neben „Die Brü­cke“, von der ich alle Fol­gen gese­hen habe) ver­liebt habe; weil sie der ers­te (und bis heu­te ein­zi­ge) Act in der Geschich­te die­ses Blogs ist, der in einem Jahr (2018) mei­nen per­sön­li­chen „Song des Jah­res“ und mein „Album des Jah­res“ ver­öf­fent­licht hat (das haben Tom­te 2006 zwar auch geschafft, aber halt sechs Wochen, bevor die­ses Blog an den Start ging, also zählt das nur an unge­ra­den Wochen­ta­gen ohne Neu­mond); weil sie der ers­te (und bis heu­te ein­zi­ge) Act ist, der zwei Mal mei­nen per­sön­li­chen Song des Jah­res (2012 und 2018) geschrie­ben hat.

Irgend­wie alles tro­cke­ner Sta­tis­tik-Kram ange­sichts eines Songs, der davon han­delt, auf die Zwei­fel zu pfei­fen und sich kopf­über in die Lie­be zu stür­zen. Rae Mor­ris singt das über ihren musi­ka­li­schen Part­ner und heu­ti­gen Ehe­mann Fryars und sie macht das so toll, dass ich mit ihr an die gro­ße Lie­be glau­ben will, die sich anfühlt wie Feu­er­werk aus­sieht. Doch mei­ne Ver­su­che, „Do It“ in „Joko Win­ter­scheidts Druckerzeug­nis“ zum Som­mer­hit des Jah­res zu pushen, schei­tern und Men­schen wie ich blei­ben bes­ser allein.

Aber, so den­ke ich heu­te, eigent­lich ist die­ses Blog hier ja auch nichts ande­res als die Umset­zung des Gedan­kens „We could just do it“: Gestar­tet als „die Online-Zei­tung, die wir ger­ne lesen wür­den“ (puh!), konn­te ich mich hier an der Tas­ta­tur und vor der Kame­ra aus­to­ben, aus­pro­bie­ren und dar­an wach­sen, um dann für Zei­tun­gen und Fern­seh­sen­dun­gen zu arbei­ten, die ich frü­her nur rezi­piert hat­te. Wenn man aus 18 Jah­ren Cof­fee And TV unbe­dingt irgend­et­was ler­nen will, dann, dass Selbst­er­mäch­ti­gung manch­mal (es gehört ja auch bei mir sicher­lich eini­ges an Glück dazu) wirk­lich funk­tio­nie­ren kann.
[Songs des Jah­res 2018 damals]

2019: LOKI – The Girl With No Eyes
Für die, die hier ernst­haft Buch füh­ren (also: für mich), mag es etwas über­ra­schend sein, dass ein Song, der auf Platz 59 einer Jah­res­bes­ten­lis­te stand, ein Jahr reprä­sen­tie­ren soll. Nun: Ers­tens kön­nen wir uns glaub ich dar­auf eini­gen, dass es eh schon ein ganz klei­nes biss­chen wahn­sin­nig ist, einen „Platz 59“ auf einer per­sön­li­chen Bes­ten­lis­te zu haben; zwei­tens habe ich erst bei der Durch­sicht mei­ner diver­sen Lis­ten, Ein­trä­ge und Play­lists fest­ge­stellt, dass ich tat­säch­lich schon mal Musik von LOKI gehört haben muss, bevor ich sie letz­tes Jahr beim Fes­ti­val Sounds Like Sugar in Her­ne gese­hen habe und so begeis­tert war, dass ich sie beim Bochum Total direkt wie­der sehen muss­te.

Damit steht „The Girl With No Eyes“, des­sen Bon-Iver-Haf­tig­keit mich schon 2019 über­zeugt haben muss, näm­lich für etwas ande­res: Für das wil­de Über­an­ge­bot an Wer­ken (oder: „Con­tent“, wie die Arsch­lö­cher sagen, die in ihrem Leben nicht einen ein­zel­nen genui­nen Gedan­ken hat­ten), aus dem wir theo­re­tisch wäh­len kön­nen, das aber auch das Risi­ko birgt, alles belie­big und egal zu machen. Dass es etwas ande­res ist, tage­lang in phy­si­schen Läden nach einer CD zu fahn­den und sie dann end­lich zu fin­den, als ein­fach alles immer sofort (terms and con­di­ti­ons app­ly) zur Ver­fü­gung zu haben, hab ich schon 2016 auf­ge­schrie­ben. Es ist seit­dem nicht weni­ger gewor­den. Wenn ich mich nicht mehr an irgend­wel­che Acts erin­nern kann (natür­lich auch, weil ihre Namen nur noch über Bild­schir­me flim­mern und nicht aus­ge­druckt vor mir lie­gen, was mei­nem Gehirn immer­hin ein biss­chen hel­fen wür­de), ist es alles ein biss­chen viel.

Ich selbst tra­ge fröh­lich zum Über­an­ge­bot bei: Mit Fried­rich Küp­pers­busch ste­he ich jetzt regel­mä­ßig auf Büh­nen in Dort­mund und Ber­lin, um „Lucky & Fred“ vor Publi­kum auf­zu­zeich­nen. Da kommt das Thea­ter-Kind von frü­her wie­der zum Vor­schein, Applaus ist immer noch die stärks­te Wäh­rung. Weil Likes dage­gen abstin­ken und dort eh nichts mehr los ist, lösche ich am Sil­ves­ter­abend mei­nen Face­book-Account. Im Nach­hin­ein möch­te ich sagen: Ich habe schon düm­me­re Din­ge zu einem schlech­te­ren Zeit­punkt gemacht.
[Songs des Jah­res 2019 damals]

2020: Tay­lor Swift – Epi­pha­ny
Alles beginnt so schön mit wei­te­ren Live-Auf­trit­ten und Kon­zert­be­su­chen bei kett­car, Ider und Car­ly Rae Jep­sen. Und dann endet alles: Kon­zer­te, Kin­der­gar­ten, Bun­des­li­ga, sogar der Euro­vi­si­on Song Con­test wird erst­mals abge­sagt. „Wegen Coro­na“ wird ein soge­nann­tes geflü­gel­tes Wort, was auch irgend­wie zu den ver­damm­ten Flug­hun­den auf dem Nass­markt von Wuhan passt, die uns die gan­ze Schei­ße (mut­maß­lich) ein­ge­brockt haben.

Popkultur-Freund*innen ver­glei­chen die Stra­ßen mit jenen aus dem Zom­bie­film „28 Days Later“ und wir ler­nen die Wohn­zim­mer von Kolleg*innen und Rock­stars ken­nen, die von dort aus Mini-Kon­zer­te in die Welt strea­men (die Rock­stars, nicht die Kolleg*innen). Die Leu­te erschei­nen all das mit erstaun­li­chem Gleich­mut zu ertra­gen, aber die­ses Bild bekommt – um eine wei­te­re Phra­se zu ver­mei­den – schnell Ris­se: Als sich im April eine Frau, die vor einem Café war­ten muss, um Kuchen zum Mit­neh­men zu kau­fen, über die „Gesund­heits­dik­ta­tur“ beschwert, bin ich viel zu über­rascht und scho­ckiert, ihr vor­zu­schla­gen, dass wir ger­ne gemein­sam einen Bekann­ten von mir, der Arzt in Padua ist, anru­fen könn­ten und sie ja mal mit dem spre­chen kön­ne, wenn er nicht gera­de dabei ist, um Leben zu kämp­fen.

Es ist ein Vor­ge­schmack auf das, was kommt: Weil man sich jetzt nir­gend­wo mehr in die Augen gucken kann, ver­ges­sen nahe­zu alle, dass sie online mit ande­ren Men­schen dis­ku­tie­ren. Man­che von uns nut­zen die vie­le freie Zeit, um sich über Ras­sis­mus fort­zu­bil­den, ande­re, um sich zu radi­ka­li­sie­ren. Ich schrei­be viel in mei­nen News­let­ter und wenig ins Blog, star­te aber zusam­men mit Sue Reind­ke immer­hin einen neu­en Pod­cast namens „Bist Du noch wach?“

In all das hin­ein ver­öf­fent­licht Tay­lor Swift, die nach einer abge­sag­ten Welt-Tour­nee auch zu viel Frei­zeit hat, ein Album, das sie in den ers­ten Mona­ten des Lock­downs mit Aaron Dess­ner von The Natio­nal auf­ge­nom­men hat, remo­te. „Folk­lo­re“ wird zum Sound­track des ers­ten Coro­na-Som­mers und über­zeugt selbst jene, die ihrer Musik bis­her kri­tisch gegen­über­ge­stan­den hat­ten. Mit „Ever­mo­re“ erscheint ein paar Mona­te spä­ter noch so ein gro­ßer Wurf. Nach dem groß­ar­ti­gen „1989“ von 2014 hab ich end­lich die nächs­te era, in der ich mich ein­rich­ten kann. Es ist der Sound­track zu sehr aus­gie­bi­gen Spa­zier­gän­gen durch die ver­schie­de­nen Nach­bar­schaf­ten hier in Bochum. Und mit­ten­drin ein Song über Sol­da­ten und Men­schen im Gesund­heits­we­sen, über das Ster­ben in Ein­sam­keit und über das Wei­ter­ma­chen der Über­le­ben­den: „Epi­pha­ny“. „Someone’s daugh­ter, someone’s mother /​ Holds your hand through pla­s­tic now“ sind Zei­len, die mir auf ewig die Trä­nen in die Augen trei­ben und einen Klos in den Hals drü­cken wer­den. Die gute Nach­richt: Mei­ne Omi, die mit 94 noch allein in ihrem viel zu gro­ßen Haus wohnt, über­lebt all das ohne Anste­ckung. Das ist nicht ihr Song.
[Songs des Jah­res 2020 damals]

2021: Meet Me @ The Altar – Never Gon­na Chan­ge
2021 ist die etwas öde Fort­set­zung des Seu­chen­jah­res, aber als Far­ce: Hash­tag Oster­ru­he. Die Amts­zeit von Donald Trump endet, die von Ange­la Mer­kel auch. In Rot­ter­dam, wo der ESC unter Pan­de­mie-Bedin­gun­gen statt­fin­det, lau­tet der schon 2019 erson­ne­ne Slo­gan pas­sen­der­wei­se „Open Up“. Den Som­mer ver­brin­ge ich damit, mein Buch über den Song Con­test zu schrei­ben, an Omis Geburts­tag und an Weih­nach­ten sind wir wie­der alle ver­eint.

In Aachen tref­fe ich einen mei­ner aller­größ­ten Hel­den: Micha­el Sti­pe von R.E.M. Er ist so bezau­bernd, wie ich erhofft hat­te, und gibt mir das Gefühl, als sei ich der aller­ers­te Mensch, der „You’­ve chan­ged my life“ zu ihm sagt. Der VfL Bochum steigt nach elf Jah­ren wie­der in die Bun­des­li­ga auf. Natu­re is heal­ing.

Mei­ne aktu­el­le Lieb­lings­band heißt Meet Me @ The Altar, que­er Women of Color aus den USA, die Pop-Punk zwi­schen Avril Lavi­gne, Para­mo­re und Blink-182 machen. Zum ers­ten Mal hören tue ich von ihnen bei – natür­lich – „All Songs Con­side­red“ auf – natür­lich – einem mei­ner lan­gen Spa­zier­gän­ge, in Erin­ne­rung blei­ben mir ihre EP „Model Citi­zen“ und der Song „Never Gon­na Chan­ge“ aber vor allem als Sound­track zu den ers­ten Besu­chen im Fit­ness­stu­dio, die jetzt wie­der mög­lich sind.
[Songs des Jah­res 2021 von damals]

2022: Maro – Sau­da­de, Sau­da­de
Am Ende wird es das Jahr gewe­sen sein, das ich so lang gefürch­tet hat­te: das, in dem mei­ne Omi stirbt. Es wer­den lan­ge vier Mona­te des Abschieds, die ihren Kin­dern alles abver­lan­gen, aber es eine Zeit des bewuss­ten, lie­be­vol­len Abschieds und der Lie­be in ihrer reins­ten Form.

All das ahne ich noch nicht, als ich beim ESC in Turin sit­ze und völ­lig gebannt (das eng­li­sche Wort mes­me­ri­zed ken­nen wir im Deut­schen lei­der nicht, obwohl es doch auf einen deut­schen Arzt zurück­geht) dem Auf­tritt der por­tu­gie­si­schen Künst­le­rin fol­ge, die das spe­zi­fisch por­tu­gie­si­sche Gefühl sau­da­de besingt, das mit „ver­mis­sen“ nur unzu­rei­chend über­setzt wer­den kann und das sie nach dem Tod ihres gelieb­ten Groß­va­ters emp­fin­det. „Sau­da­de, Sau­da­de“ erreicht am Ende einen tol­len 9. Platz, Deutsch­land hat auch teil­ge­nom­men. Aller­spä­tes­tens hier in Turin ist der ESC nicht mehr die leicht tra­shi­ge Quatsch-Ver­an­stal­tung, als die er noch galt, als Ste­fan und ich 2007 erst­ma­lig dar­über gebloggt haben. Er ist ein ech­tes Musik­fes­ti­val, bei dem man Gen­res und Acts vor­ge­stellt bekommt, auf die man sonst viel­leicht nie gesto­ßen wäre. Wer hier noch alles doof fin­det, mag wahr­schein­lich ein­fach kei­ne Musik.

Mein Buch über die­se Ver­an­stal­tung erscheint qua­si zeit­gleich mit Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne, was mir eine ordent­lich Por­ti­on der Freu­de raubt. Als ich den Release trotz­dem mit Freund*innen in mei­ner Stamm­knei­pe feie­re, ste­cke ich mich (end­lich) mit COVID-19 an und bin immer noch reich­lich außer Atem, als ich das Buch in einer klei­nen gro­ßen Live­show in der Zeche Carl in Essen vor­stel­le. Irgend­wie schaf­fe ich es sogar, in die­sem Jahr noch einen Pod­cast zu pro­du­zie­ren: die Talk­sen­dung „Woher ken­nen wir uns?“
[Songs des Jah­res 2022 damals]

2023: Foo Figh­ters – Res­cued
Omi und Tay­lor Haw­kins sind im sel­ben Jahr gestor­ben, was inso­fern beson­ders tra­gisch ist, als der Schlag­zeu­ger der Foo Figh­ters 46 Jah­re jün­ger gewe­sen war. Dave Grohl hat­te zum drit­ten Mal einen sei­ner bes­ten Freun­de ver­lo­ren, Mona­te spä­ter sei­ne Mut­ter. Ob das der Beginn einer etwas ver­spä­te­ten mid­life-cri­sis war, in deren Ver­lauf jene Toch­ter ent­stand, die „außer­halb mei­ner Ehe“ gebo­ren wur­de, wie er auf Insta­gram schrieb, ver­mag ich nicht zu beur­tei­len — es war zumin­dest der Aus­lö­ser, „But Here We Are“ auf­zu­neh­men, das bes­te Foo-Figh­ters-Album seit fast 25 Jah­ren, auf dem er wie­der ein­mal Trau­er in Wut ver­wan­delt und umge­kehrt.

„Res­cued“ ist einer der ers­ten Songs, den ich in mei­ner klei­nen Musik­sen­dung spie­le, die ich in einem Anfall beson­de­rer Geis­tes­ge­gen­wart auch „Cof­fee And TV“ genannt habe. Sie ist das, wor­auf ich Jahr­zehn­te lang gewar­tet hat­te: die Mög­lich­keit, Songs in einem Pod­cast zu spie­len, ohne in einem kost­spie­li­gen Büro­kra­tie­ge­wit­ter namens „GEMA“ unter­zu­ge­hen. Das Ergeb­nis kann man zwar nur beim fins­te­ren Tech-Kon­zern Spo­ti­fy hören, aber ent­schei­den­der ist für mich eh, sowas über­haupt machen zu kön­nen. Aber wie so oft mit den schö­nen Din­gen im Inter­net: Nur ein Jahr spä­ter zieht Spo­ti­fy den Ste­cker und schafft die Mög­lich­keit, sol­che Musik­sen­dun­gen zu bau­en, direkt wie­der ab.

„But Here We Are“ wird auch 2024 wie­der für mich da sein: Als mei­ne gelieb­te Tan­te Dör­te stirbt, eine groß­ar­ti­ge Grund­schul­leh­re­rin, höre ich den Song, den Dave Grohl für sei­ne ver­stor­be­ne Mut­ter Vir­gi­nia geschrie­ben hat, die eben­falls Leh­re­rin gewe­sen war: „The Tea­cher“.

2024: Ezra Coll­ec­ti­ve feat. Yaz­min Lacey – God Gave Me Feet For Dancing
Das ist mir in all den Jah­ren auch noch nicht pas­siert, dass ich – trotz aller Play­lis­ten, Noti­zen-Apps und Zet­tel – beim Zusam­men­stel­len der „Alben“ oder „Acts des Jah­res“ ein Album bzw. einen Act kom­plett ver­ges­se. Ob’s am Alter liegt oder dem schon erwähn­ten Über­an­ge­bot?

Immer­hin habe ich hier die Gele­gen­heit, den Feh­ler schnell halb­wegs wett­zu­ma­chen: „God Gave Me Feet For Dancing“ von Ezra Coll­ec­ti­ve und Yaz­min Lacey. Ezra Coll­ec­ti­ve sind eine Jazz-Fusi­on-Band aus Lon­don, die Ele­men­te aus Afro­beat, Calyp­so, Reg­gae, Hip-Hop, Soul und Jazz ver­bin­den und deren Songs bei BBC Radio 6 Music, mei­ner aktu­el­len Haupt­quel­le für neue Musik, rauf und run­ter läuft. Es ist die­se Musik, die ich mit dem leicht­fü­ßi­gen Som­mer 2024 ver­bin­de, als wir alle den­ken, dass Kama­la Har­ris US-Prä­si­den­tin wer­den wird, und die Olym­pi­schen Spie­le in Paris ein Gefühl von Hoff­nung, Zuver­sicht und Gemein­schaft ver­mit­teln, das wir so lan­ge ver­misst hat­ten. Sich ein paar Mona­te spä­ter über die eige­ne ver­meint­li­che Nai­vi­tät lus­tig zu machen, wäre aber auch zynisch.
[Songs des Jah­res 2024 von „damals“]

Epi­log
„Am Ende wird alles okay sein — und wenn es nicht okay ist, ist es nicht das Ende“, hat der bra­si­lia­ni­sche Autor Fer­nan­do Sabi­no geschrie­ben und Weezer nann­ten ihr 2015er Album „Ever­y­thing Will Be Alright In The End“. „Schwimm für die Songs, die noch geschrie­ben wer­den“, hat Mar­cus Wie­busch von kett­car auf sei­nem Solo­al­bum gesun­gen — und dabei Andrew McMa­hon refe­ren­ziert. Alles hängt immer mit allem zusam­men.

Social Media ist, spä­tes­tens seit sich die Tech-Olig­ar­chen um Donald Trump scha­ren, ein dumps­ter fire, das unse­re See­len und Gehir­ne ver­zehrt. Doch das hier sind nur die ers­ten 18 Jah­re und die ers­ten 18 Songs. Cof­fee And TV ist mein Zuhau­se und ich pla­ne zu blei­ben, mein Freund.

Denn wie sang einst Gra­ham Coxon in jenem Blur-Song, des­sen Titel wir uns damals ein­fach gemopst haben?

Take me away from this big bad world
And agree to mar­ry me
So we can start over again

(Auf das mit dem Hei­ra­ten wür­de ich nach den oben erwähn­ten Erfah­run­gen aller­dings ger­ne ver­zich­ten.)

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Musik Leben

25 Jahre „Reload“

Die­ser Ein­trag ist Teil 8 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Tom Jones - Reload (abfotografiert von Lukas Heinser)

Zum ers­ten Mal von Tom Jones gehört habe ich, wie ver­mut­lich die meis­ten Men­schen mei­ner Gene­ra­ti­on, in „Mars Attacks!“, dem über­se­he­nen Meis­ter­werk von Tim Bur­ton. In dem Film grei­fen Mar­sia­ner die Erde an und sie tun das unter ande­rem in Las Vegas, wäh­rend Tom Jones auf der Büh­ne eines Casi­no-Hotels steht und – natür­lich – „It’s Not Unu­su­al“ singt. Jones spielt sich selbst, er wird im wei­te­ren Ver­lauf des Films mit Annet­te Bening und Janice Rive­ra zu den Tahoe-Höh­len flie­hen und, nach­dem die Mar­sia­ner besiegt sind und ein Fal­ke auf sei­nem Arm gelan­det ist, erneut „It’s Not Unu­su­al“ anstim­men. Eines der Top-10-Enden der Film­ge­schich­te. (Falls Ihr „Mars Attacks!“ noch nie gese­hen habt: Es ist, seit ich mit 13 im Kino war, einer mei­ner abso­lu­ten Lieb­lings­fil­me. Auch mehr als 25 Jah­re spä­ter muss ich immer noch sagen: 10/​10, ein Meis­ter­werk für alle Zei­ten. Guckt ihn Euch an!)

Für mei­ne Eltern und ihre Gene­ra­ti­on war Tom Jones damals im Wesent­li­chen eine etwas abge­half­ter­te Witz­fi­gur, nicht unähn­lich den ehe­ma­li­gen Schla­ger­stars, die bei Baum­artk­er­öff­nun­gen san­gen. Es waren die zyni­schen 1990er und die Qua­li­tä­ten, die es braucht, um Las Vegas resi­den­ci­es und Baum­artk­er­öff­nun­gen zu bestehen, wur­den allen­falls von Götz Als­mann gewür­digt. Da konn­te auch sein Mini-Come­back von 1994 nichts dran ändern, als er gemein­sam mit The Art Of Noi­se „Kiss“ von Prin­ce cover­te und mit sei­ner Ver­si­on für nicht weni­ge Kri­ti­ker das Ori­gi­nal über­traf.

Womög­lich war es eine Mischung aus 1990er-„Ironie“ und Teen­ager-Trotz, aber irgend­wie fand ich Tom Jones cool. Ent­spre­chend über­rascht war ich, als ich im Herbst 1999 in einem Elek­tronik­markt ein neu­es Album von ihm sah, gemein­sam mit Gast­stars wie The Car­di­gans, Rob­bie Wil­liams, Nata­lie Imbru­glia und Sim­ply Red, die mir natür­lich etwas sag­ten. Irgend­wie muss ich auch erkannt haben, dass es sich um jede Men­ge Cover­ver­sio­nen und Neu­ein­spie­lun­gen han­del­te, denn ich war ent­täuscht, dass „It’s Not Unu­su­al“ nicht dabei war, und so habe ich die CD zu die­sem Zeit­punkt nicht gekauft.

Doch dann kam der Auf­tritt bei „Wet­ten, dass ..?“: Nina Pers­son und die Jungs hat­ten sich trotz aller eige­nen Chart­erfol­ge ver­mut­lich nie vor­ge­stellt, ein­mal in die­ser selt­sa­men deut­schen Fern­seh­sen­dung, von der sich inter­na­tio­na­le Stars in first class loun­ges, Fes­ti­val-Back­stage-Berei­chen und bei Preis­ver­lei­hung fas­sungs­los erzäh­len, vor einem spre­chen­den Büh­nen­bild (ja, in der Tat: ein bren­nen­des Haus) einen Auf­tritt mit dem „Tiger“ zu absol­vie­ren, bei dem sie so tun, als wür­den sie gera­de ihre Ver­si­on von „Bur­ning Down The House“ live per­for­men. Ich kann­te das Ori­gi­nal von den Tal­king Heads nicht (und war, als ich es dann end­lich irgend­wann mal hör­te, nicht son­der­lich beein­druckt), aber die­ser Auf­tritt ließ mich direkt am dar­auf­fol­gen­den Mon­tag zu R&K in Dins­la­ken fah­ren und „Rel­oad“ doch noch kau­fen.

Das Album war für mich der Erst­kon­takt mit Acts wie The Divi­ne Come­dy, Baren­aked Ladies, Port­is­head, Cata­to­nia und Ste­reo­pho­nics und die ers­te CD in mei­ner Samm­lung, auf der The Car­di­gans und James Dean Brad­field von den Manic Streets Pre­a­chers zu hören waren – Acts, bei denen ich, wie auch bei Rob­bie Wil­liams, in der Fol­ge einen gewis­sen Hang zum Kom­plet­tis­mus ent­wi­ckeln soll­te. Es mach­te mich nicht nur mit „Bur­ning Down The House“ bekannt, son­dern auch mit Songs wie „All Mine“ (Port­is­head), „Never Tear Us Apart“ (INXS) und wahr­schein­lich auch „Lust For Life“ (Iggy Pop). Kurz­um: Es war ein Crash­kurs in Sachen Pop­kul­tur der vor­an­ge­gan­ge­nen Jahr­zehn­te und der Gegen­wart.

„Are You Gon­na Go My Way“ (Len­ny Kra­vitz) mit Rob­bie Wil­liams wirk­te nicht nur wegen des Titels wie die Über­ga­be eines Staf­fel­stabs. „Some­ti­mes We Cry“ von und mit Van Mor­ri­son, der als Ein­zi­ger einen sei­ner eige­nen Songs sang, rührt mich bis heu­te. James Dean Brad­field von den Manic Streets Pre­a­chers lie­fert bei „I’m Left, You’­re Right, She’s Gone“ (Elvis Pres­ley) eine der bes­ten Gesangs­leis­tun­gen sei­ner Kar­rie­re ab (Tom Jones schreibt, wenn ich das rich­tig erin­ne­re, in sei­ner Auto­bio­gra­phie, dass er Angst hat­te, ein Duett mit einem so begna­de­ten Sän­ger zu sin­gen, und ganz ehr­lich: Wenn Ihr kei­ne Gän­se­haut bekommt, wenn JDBs Stim­me zum ers­ten Mal in den Song rein­grätscht, kann ich Euch auch nicht hel­fen!). Selbst die Ideen, die auf dem Papier schlecht wir­ken, funk­tio­nie­ren im (hof­fent­lich weit auf­ge­dreh­ten) Laut­spre­cher: Soll­te man Iggy Pops „Lust For Life“ covern? Nein. Außer, wenn Chris­sie Hyn­de von The Pre­ten­ders und Tom Jones sin­gen. Dann unbe­dingt.

Dass ein Album mit 17 Tracks so sei­ne Län­gen hat, lässt sich schwer ver­mei­den: „Ain’t That A Lot Of Love“ mit fuck­ing Sim­ply Red? „She Dri­ves Me Cra­zy“ mit Zuc­che­ro? Ist doch schön, wenn Tom Jones so vie­le ange­sag­te Acts zum Mit­wir­ken bewe­gen konn­te!

Der gro­ße Hit, der zu einem spä­ten signa­tu­re song wer­den soll­te, war indes ein ande­rer: „Sex Bomb“, die ein­zi­ge Neu­kom­po­si­ti­on des Albums, aus der Feder des Han­no­ve­ra­ner Musik­pro­du­zen­ten Mousse T., der mit sei­nem Debüt-Hit „Hor­ny ’98“ bereits gezeigt hat­te, dass er stump­fes Rumpf-Gemumpf extrem cool und club­taug­lich klin­gen las­sen konn­te. Heu­te wür­de man anders dar­über den­ken, wenn ein 59-jäh­ri­ger Mann mit gefärb­tem Haupt­haar einer mut­maß­lich sehr viel jün­ge­ren Frau den Refrain „Sex­bomb, sex­bomb you’­re a sex­bomb /​ You can give it to me, when I need to come along /​ Sex­bomb, sex­bomb you’­re my sex­bomb /​ And baby you can turn me on“ ange­dei­hen las­sen woll­te, aber man muss Pop­kul­tur immer aus ihrem Zeit­geist lesen, wenn man sie irgend­wie ver­ste­hen will, und der Zeit­geist der aus­ge­hen­den 1990er Jah­re war eben so, dass ich ihn auf einer Web­site, die auch Min­der­jäh­ri­ge besu­chen kön­nen, schlecht aus­for­mu­lie­ren kann.

Ein­mal ange­fixt, tauch­te ich natür­lich in das Gesamt­werk des wali­si­schen Tigers ein – und, mei­ne Güte, waren da Hits, Hits, Hits! Gut: Die Mör­der­bal­la­de „Deli­lah“ wur­de in den letz­ten Jah­ren von Sport­ver­an­stal­tun­gen ver­bannt und auch die Sujets manch ande­rer Songs sind schlecht geal­tert, aber die­se Stim­me, die immer über irgend­wel­chen Sta­te-of-the-art-Arran­ge­ments schweb­te, lässt zumin­dest mich einen Tacken mehr durch­ge­hen las­sen als es bei ande­ren Acts der Fall wäre.

Tom Jones war – nach den Prin­zen 1994 – tat­säch­lich das zwei­te gro­ße Pop­kon­zert, das ich in mei­nem Leben besuch­te (im Mai 2000 mit mei­nen Eltern und mei­nem Bru­der in der Are­na Ober­hau­sen; das Kon­zert­pla­kat, das mein Vater auf dem Heim­weg von einem Maschen­draht­zaun abmon­tier­te, könn­te immer noch im Kel­ler mei­ner Eltern ste­hen) und auch wenn natür­lich kei­ner der „Reload“-Gäste dabei war, war es ein Erleb­nis. Jones leg­te in der wei­te­ren Fol­ge einen beein­dru­cken­den drit­ten (oder vier­ten oder fünf­ten) Kar­rie­re-Akt hin, indem er auf­hör­te, sei­ne Haa­re zu fär­ben, und begann, Folk- und Ame­ri­ca­na-Alben auf­zu­neh­men (ich habe im letz­ten Jahr zufäl­lig fest­ge­stellt, dass er eine Ver­si­on von „Char­lie Dar­win“ von The Low Anthem ver­öf­fent­licht hat!). Das hat­te Fol­gen, denn als ich ihn zum zwei­ten Mal live sah, spiel­te er die meis­ten sei­ner Klas­si­ker in kaum wie­der­zu­er­ken­nen­den Arran­ge­ments. Das Publi­kum wirk­te ein biss­chen ent­täuscht, aber mit damals schon 79 Jah­ren hat­te er sich das Recht erar­bei­tet, sei­ne Songs der­art zu dylani­sie­ren. Der über­ra­schen­de Ort die­ses über­ra­schen­den Auf­tritts: das Burg­thea­ter Dins­la­ken.

Tom Jones – Rel­oad
(Gut/​V2, 16. Sep­tem­ber 1999)
Apple Music
Spo­ti­fy
Ama­zon Music
Tidal

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Musik Leben

25 Jahre „The Man Who“

Die­ser Ein­trag ist Teil 7 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Travis - The Man Who (abfotografiert von Lukas Heinser)

Ein aller­letz­tes Mal habe ich die Sin­gle zuerst gehört. Denn das war ja frü­her so: Man kann­te einen Song aus dem Radio (oder Musik­fern­se­hen, um nicht ganz so alt zu erschei­nen) und wenn man dann beschlos­sen hat­te, ver­gleichs­wei­se viel Geld in die CD zu inves­tie­ren, fing das Album meist mit einem Song an, den man (noch) gar nicht kann­te. Man woll­te ja aber end­lich den ver­kaufs­för­dern­den Hit hören, des­sent­we­gen man den Weg zum Plat­ten­la­den auf sich genom­men hat­te. Mit dem Fahr­rad. An einem Sams­tag­vor­mit­tag im Janu­ar. In Dins­la­ken.

Ich weiß noch, wie ich auf der Couch im Wohn­zim­mer mei­ner Eltern lag (dem Drei­sit­zer an der Innen­wand, nicht dem Zwei­sit­zer an der Außen­wand, in case you’­re won­de­ring) und Track 7 aus­ge­wählt hat­te: „Why Does It Always Rain On Me?“, die­se über­le­bens­gro­ße Char­lie-Brown-Ver­lie­rer­hym­ne, die natür­lich direkt zu einem 16-jäh­ri­gen sprach, der sich irgend­wie nie so ganz dazu­ge­hö­rig fühl­te. Und danach dann das Album von vor­ne.

Tra­vis waren einen Monat zuvor – sor­ry, wenn ich mich da wie­der­ho­le – Teil der „Rol­ling Stone Road­show“ gewe­sen und mit Ben Folds Five und Gay Dad durch Deutsch­land getourt. (Ich weiß qua­si nichts über Gay Dad. Ich habe, seit wir im Jahr 2005 die CD-Schrän­ke bei CT das radio auf­ge­räumt haben, sogar ihr 1999er Album „Lei­su­re Noi­se“ im Regal ste­hen, aber in all den Jah­ren nie gehört. Wenn man über­legt, wel­che Bedeu­tung Ben Folds Five und Tra­vis in der Fol­ge in mei­nem Leben ein­neh­men soll­ten, ist es eigent­lich wahl­wei­se ein Wun­der oder eine Schan­de, dass Gay Dad als fünf­tes Rad am Wagen der­art an den Rand gedrängt wur­den. Ich ver­spre­che Euch jetzt ein­fach mal, dass ich zum 25. Jah­res­tag des ver­häng­nis­vol­len, nicht besuch­ten Kon­zerts in der Live Music Hall am 29. Novem­ber zum ers­ten Mal bewusst Gay Dad hören und hier dar­über schrei­ben wer­de!) „Why Does It Always Rain On Me?“ kann­te ich von Viva 2, obwohl ich das damals gar nicht gucken konn­te, und ich moch­te die Mischung aus unver­kenn­ba­rer Lebens­en­er­gie (der Rhyth­mus!) und Trau­rig­keit (alles ande­re).

Stell­te sich raus: Mit sei­nem hüpf­ba­ren Rhyth­mus war der Song noch der kla­re upper auf dem Album. Alle ande­ren Songs schlepp­ten sich eher dahin, kro­chen oder tau­mel­ten. Selbst der ein­zi­ge objek­ti­ve Rock­song auf „The Man Who“, der hid­den track „Blue Flas­hing Light“, dreht sich schwind­lig auf der Stel­le und han­delt davon, dass jemand allein zuhau­se sitzt, wäh­rend alle ande­ren fei­ern gehen. Wer weiß, wie ich das Album gefun­den hät­te, wenn ich es bei Ver­öf­fent­li­chung im Mai 1999 gehört hät­te – in den grau­en ers­ten Wochen des Jah­res 2000 pass­te es jeden­falls per­fekt zum Wet­ter und dem Mill­en­ni­umska­ter, der sich über die Welt gelegt hat­te: Die Zukunft hat­te ganz ein­deu­tig und aus­weis­lich des Kalen­ders begon­nen, aber alles war immer noch wie zuvor. Das Theo­dor-Heuss-Gym­na­si­um in Dins­la­ken war kein Ort, an dem Opti­mis­mus und Zuver­sicht (oder auch nur irgend­et­was ande­res als gene­rel­ler Welt­schmerz) gedei­hen und auf­blü­hen konn­ten.

Ich hat­te gera­de im Janu­ar (genau­er: am 7., als ich mir bei einem Aus­flug nach Essen den Sound­track zu „Abso­lu­te Gigan­ten“ gekauft hat­te) begon­nen, abends zum Ein­schla­fen Musik auf mei­nem Disc­man zu hören. Nicht etwa gan­ze Alben, son­dern drei Songs, sau­ber kura­tiert. „The Man Who“ bot sehr vie­le die­ser Songs. Noch heu­te kommt eine gan­ze Wel­le sehr spe­zi­fi­scher Emo­tio­nen hoch, wenn das Intro von „Drift­wood“, die ers­ten Tak­te von „Turn“ oder das Gitar­ren­so­lo aus „As You Are“ erklin­gen. Es ist wie­der Anfang 2000 und ich war vor ein paar Tagen mit mei­nem Papa und mei­nen Freun­den in die Groß­stadt (Duis­burg) gefah­ren, um im dor­ti­gen Art­house-Kino „Ghost Dog“ von Jim Jar­musch oder „The Mil­li­on Dol­lar Hotel“ von Wim Wen­ders zu sehen – Fil­me, die im Kern schon irgend­wie lebens­be­ja­hend sind, aber in ers­ter Linie schwel­ge­risch, melan­cho­lisch, lang­sam und rät­sel­haft. (Und falls sich jemand gefragt hat: Natür­lich habe ich an mei­nem 17. Geburts­tag um kurz nach Mit­ter­nacht „Why Does It Always Rain On Me?“ gehört, des­sen titel­ge­ben­de Fra­ge ja wei­ter­geht: „Is it becau­se I lied when I was seven­teen?“)

„Ever­y­day I wake up alo­ne becau­se /​ I’m not like all the other boys“, singt Fran Hea­ly zu Beginn von „As You Are“ und die­se Zei­le soll­te mir in den kom­men­den Jah­ren so etwas wie Man­tra und Trost wer­den, ste­ter Beglei­ter beim Melo­dra­ma­tisch-unglück­lich-ver­liebt-Sein, Die Lei­den des jun­gen Hein­sers. (Alter Vat­ter, was bin ich froh, dass die­se Zei­ten vor­bei sind! Kin­der, wenn Ihr glaubt, dass Euer Leben nur mit einem ande­ren Men­schen an Eurer Sei­te „gut“ und „rich­tig“ wer­den kann: Sucht Euch Hil­fe! Ihr wer­det geliebt, Ihr seid lie­bens­wert, aber die Exis­tenz oder Nicht­exis­tenz einer Zwei­er­be­zie­hung ist in die­sem Kon­text eben genau: zweit­ran­gig.)

Viel­leicht wäre ich auch ohne „The Man Who“ auf die Idee gekom­men, Musik zu machen, Schlag­zeug in einer Band zu spie­len, mir selbst Gitar­re bei­zu­brin­gen und eige­ne Songs zu schrei­ben. Die hät­ten aber zumin­dest sehr anders geklun­gen, denn Tra­vis waren, was trau­rig-antriebs­lo­se Songs in G‑Dur betrifft, ein gro­ßer Ein­fluss. Weil ich wuss­te, dass die Band­mit­glie­der Joni Mit­chell so sehr lie­ben, habe ich mit 18 ange­fan­gen, Joni Mit­chell zu hören. Ich hat­te sogar so einen faux hawk wie Fran Hea­ly (oder wahl­wei­se David Beck­ham)! Chris Mar­tin hat mal gesagt, dass es ohne Tra­vis kein Cold­play gege­ben hät­te, aber den vier Schot­ten jetzt die Schuld an der wei­te­ren Ent­wick­lung sei­ner Kapel­le zu geben, wäre auch üble Nach­re­de.

Im Juni 2001 erschien der Nach­fol­ger „The Invi­si­ble Band“, der heu­te eigent­lich einen noch grö­ße­ren Stel­len­wert bei mir hat. Als wir erst­mal schnel­les Inter­net hat­ten, habe ich alle, wirk­lich alle B‑Seiten, die Tra­vis jemals auf ihren Sin­gles ver­öf­fent­licht hat­ten, zusam­men­ge­sam­melt und sicher­lich öfter gehört als gro­ße Tei­le ihres Spät­werks. („Die B‑Seiten bri­ti­scher Gitar­ren­bands zwi­schen 1994 und 2002 sind bes­ser als alles, was nach 2005 von der Insel kam“ ist ein immer noch nicht geschrie­be­ner, aber in regel­mä­ßi­gen Abstän­den nam­haf­ten deut­schen Publi­ka­tio­nen ange­bo­te­ner Text von mir.) Ich habe Tra­vis zwi­schen Som­mer 2001 und Dezem­ber 2016 sie­ben Mal live gese­hen (ein­mal sogar tat­säch­lich am glei­chen Abend wie Ben Folds) und ein paar Mal kurz gespro­chen; im Sep­tem­ber könn­te ein ach­tes Mal hin­zu­kom­men. Ihre letz­ten Alben haben mich gar nicht mehr inter­es­siert, aber wenn einem eine Band mal so wich­tig war, ver­sucht man es ja doch immer wie­der.

Und irgend­ei­ne beson­de­re Bezie­hung muss es immer noch geben: Ich hät­te die­sen Text hier eigent­lich ges­tern schon schrei­ben wol­len, aber nicht die Zeit gefun­den. Da hät­te aber auch die Son­ne geschie­nen. Heu­te passt hin­ge­gen alles: Der VfL Bochum ist so gut wie abge­stie­gen und es reg­net. Weil ich mit 17 gelo­gen habe.

Tra­vis – The Man Who
(Inde­pen­di­en­te; 24. Mai 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „Play“

Die­ser Ein­trag ist Teil 6 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Moby - Play (abfotografiert von Lukas Heinser)

Am Anfang waren die Songs. Ich weiß gar nicht, wel­che alle als Sin­gle aus­ge­kop­pelt wur­den und wo ich sie viel­leicht gehört habe – am Ende ist es auch egal, denn „Play“ ging ja auch des­halb in die Geschichts­bü­cher ein, weil es das ers­te kom­plett durch­li­zen­zier­te Album war: Jeder ein­zel­ne Track wur­de für (min­des­tens) einen Wer­be­spot, einen Film und/​oder eine Serie ver­wen­det. Im Radio und in Cafés lau­fen die Songs eh immer noch rauf und run­ter, als sei­en sie Teil des dor­ti­gen Sound-Designs. (Selbst als ich ver­gan­ge­ne Woche dem Deutsch­land­funk Kul­tur ein Inter­view zum ESC in Mal­mö gege­ben habe, lief vor dem Gespräch irgend­ein Song aus die­sem Album. Es zahlt ein biss­chen auf mei­ne hier auf­ge­stell­te Muzak-The­se ein, dass ich nicht sagen kann, wel­cher, aber ich bin mir abso­lut sicher, dass es einer von die­sem Album war.)

Gekauft hab ich „Play“ von Moby auch erst etwa andert­halb Jah­re nach dem Release – obwohl die­se Songs damals schon all­ge­gen­wär­tig schie­nen. Das Kon­zept, Musik zu „besit­zen“ ist im Jahr 2024 ja nicht nur Nach­ge­bo­re­nen schwer zu ver­mit­teln, son­dern fast allen, aber es war eben unab­ding­bar, 30,99 D‑Mark für die­se CD zu bezah­len, sie im Ruck­sack auf dem Rücken mit dem Fahr­rad vom R&K‑Markt nach Hau­se zu fah­ren und dann ins DVD-Rom-Lauf­werk des Com­pu­ters zu schie­ben, um sie über die PC-Boxen abzu­spie­len. Opa erzählt vom Frie­den.

Obwohl ich die vor­he­ri­gen Hit-Sin­gles von Moby schon aus „Hit-Clip“, von 1Live und von „Bra­vo Hits“ kann­te, umweh­te die­se Musik etwas Erwach­se­nes, ja, regel­recht: Kos­mo­po­li­ti­sches. So, dach­te ich damals, klingt Dins­la­ken nicht. Der Big Beat von „Body­rock“ und „Mache­te“, die Blues- bzw. Gos­pel-Samples von „Honey“ und „Run On“, die Kaf­fee­haus-Elec­tro­ni­ca von „7“ und „Down Slow“ – so etwas kann­te man in der Klein­stadt nur aus dem Fern­se­hen. (Heu­te hat Dins­la­ken sei­ne eige­nen Hips­ter-Sze­nen und ‑Knei­pen und die­se Ent­wick­lung ist durch­aus zu begrü­ßen, bremst sie doch die Gen­tri­fi­zie­rung in den Groß­städ­ten wenigs­tens mini­mal ab.)

Moby selbst war bekannt als der knuf­fi­ge, aus­ge­sucht freund­li­che, manch­mal ein ganz klei­nes biss­chen ner­ven­de Vega­ner mit der Glat­ze. Womög­lich hät­te man ahnen kön­nen, dass bei ihm nicht alles im Lot war und er mit psy­chi­schen Pro­ble­men, Alko­hol und ande­ren Dro­gen kämpf­te; „Play“ war ein eher melan­cho­li­sches Par­ty-Album, vor allem in der zwei­ten Hälf­te. Und allein die Song­ti­tel: „Why Does My Heart Feel So Bad?“, „Natu­ral Blues“, „My Weak­ne­ss“. Aber als schwer­mü­ti­ger 17-jäh­ri­ger Indi­vi­dua­list bezieht man das alles natür­lich aus­schließ­lich auf sich selbst und denkt nicht mal an den Künst­ler.

„Play“ war da schon lan­ge ein unfass­ba­rer welt­wei­ter Erfolg und alle Labels, die das Album abge­lehnt hat­ten, hat­ten sich viel­leicht kurz geär­gert. Moby, des­sen Out­put bis dahin eher eklek­tisch gewe­sen war, hat­te sei­ne Nische gefun­den und lie­fert seit­dem ver­läss­lich den Sound­track zu Wer­be­spots, Seri­en, Fil­men und Leben.

Moby – Play
(Mute/​PIAS; 17. Mai 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner“

Die­ser Ein­trag ist Teil 4 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Ben Folds Five - The Unauthorized Biography Of Reinhold Messner (abfotografiert von Lukas Heinser)

Bis­her spiel­ten die Geschich­ten die­ser Rei­he ja alle­samt nicht im Jahr 1999 und ich den­ke, ich ver­ra­te nicht zu viel, wenn ich sage, dass die meis­ten wei­te­ren Kapi­tel über die wich­tigs­ten Alben die­ses Jah­res auch spä­ter spie­len wer­den. Schon in die­ser Hin­sicht ist das heu­ti­ge Album ein beson­de­res. Aber auch in fast jeder ande­ren.

Man kann das jun­gen Men­schen ja nur noch schwer ver­mit­teln, aber es gab eine Zeit, da stan­den einem das Wis­sen und die Kul­tur­gü­ter die­ser Welt nicht jeder­zeit kos­ten­los von zuhau­se aus zur Ver­fü­gung – man muss­te dafür wäh­rend der Öff­nungs­zei­ten die ört­li­che Stadt­bi­blio­thek auf­su­chen. Weil mei­ne Mut­ter immer in sol­chen Ein­rich­tun­gen gear­bei­tet hat­te (erst in Mül­heim an der Ruhr, dann in Dins­la­ken), bin ich qua­si dort auf­ge­wach­sen und mit den Büchern, Zeit­schrif­ten, VHS-Kas­set­ten, Audio­kas­set­ten und spä­ter auch CDs.

Ich weiß nicht mehr das genaue Datum, aber der 26. April war es nicht (da kam das Album in Deutsch­land ja gera­de erst in die Läden, ich war nach­mit­tags mit Ste­fan T. in der Licht­burg „The Facul­ty“ gucken und mon­tags hat die Stadt­bi­blio­thek Dins­la­ken seit jeher geschlos­sen), als ich in der durch­aus beein­dru­cken­den CD-Abtei­lung bei den Neu­erschei­nun­gen die­ses Album mit dem merk­wür­di­gen, sper­ri­gen Namen sah. Ben Folds Five hat­te ich im Jahr zuvor auf dem Sound­track zu Roland Emme­richs „God­zil­la“ ken­nen­ge­lernt (der Hype war damals enorm gewe­sen, der Film eher egal, aber das Sound­track-Album stell­te auch noch mei­nen Erst­kon­takt mit den Wall­flowers, Jami­ro­quai, Rage Against The Machi­ne und Micha­el Penn dar), also nahm ich „The Unaut­ho­ri­zed Bio­gra­phy Of Rein­hold Mess­ner“ mit nach Hau­se. Ich erin­ne­re mich nicht unbe­dingt an die aller­ers­te lis­tening ses­si­on (die Chan­cen ste­hen gut, dass es nach der Schu­le wäh­rend des Mit­tag­essens war, das – seit mei­ne Eltern eine Mikro­wel­le mit einer soge­nann­ten Crunch-Funk­ti­on hat­ten – gefühlt jeden Tag aus Tief­kühl­piz­za Capric­cio­sa aus dem Aldi bestand), aber es ist in der Rück­schau schon erstaun­lich, dass mich der jaz­zi­ge, manch­mal Kam­mer­pop-arti­ge Sound die­ser Band nicht über­rasch­te oder gar abschreck­te. Ich wuss­te noch nicht viel über Musik und das muss­te wohl so.

Ich wuss­te auch noch nicht viel über Ben Folds Five. Dass es sich trotz des Band­na­mens um ein Trio han­del­te, konn­te ich mir auf­grund der Cre­dits und des Band­fo­tos im Book­let zusam­men­rei­men. Dass da gar kei­ne Gitar­ren zu hören waren, auch (ich wuss­te, wie gesagt, wirk­lich noch nicht viel über Musik und beim Hören allein wäre es mir wohl nicht auf­ge­fal­len). Auf dem Band­fo­to begut­ach­te­ten zwei der Band­mit­glie­der (Sänger/​Pianist Ben Folds und Bas­sist Robert Sledge) ihre Fin­ger­nä­gel, was mir aus­ge­spro­chen gut gefiel, und im Book­let erklär­te die Band eben­falls, dass sie (Ame­ri­ka­ner!) gar nicht gewusst hät­ten, dass Rein­hold Mess­ner ein berühm­ter Berg­stei­ger sei – die­ser exo­tisch klin­gen­de Name sei ein­fach das gewe­sen, was Schlag­zeu­ger Dar­ren Jes­see und sei­ne Freun­de im Feld „name:“ auf ihren gefälsch­ten Füh­rer­schei­nen (also dem ame­ri­ka­ni­schen Äqui­va­lent zum Per­so­nal­aus­weis) ste­hen gehabt hät­ten, als sie noch zu jung waren, um mit ech­ten Doku­men­ten in eine Bar gehen zu dür­fen.

Ich hör­te das Album viel in die­sem Sum­mer of ’99. Sehr viel. Ich hat­te noch nicht sehr vie­le eige­ne CDs; neben Film-Sound­tracks waren „May­be You’­ve Been Brain­wa­shed Too“ von den New Radi­cals, „Syn­kro­ni­zed“ von Jami­ro­quai und „TUBORM“, wie wir Ben-Folds-Fans es spä­ter in den Online-Foren nen­nen soll­ten, im Wesent­li­chen das, wor­aus ich zu die­ser Zeit aus­wäh­len konn­te.

Im zwei­wö­chi­gen Som­mer­ur­laub in – natür­lich! – Dom­burg ent­wi­ckel­te ich die Ange­wohn­heit, mei­ne Tage all­abend­lich im Bett mit drei Songs aus mei­nem Disc­man zu beschlie­ßen: „Chan­ges“ von 2Pac, das damals ein ziem­li­cher Hit und auf dem 2Pac-Best-Of ent­hal­ten war, das mir mein bes­ter Freund für den Urlaub gelie­hen hat­te, zwei­mal hin­ter­ein­an­der und dann „Lul­la­bye“, der clo­ser die­ses Rein­hold-Mess­ner-Albums. In den Herbst­fe­ri­en in einer Jagd­hüt­te im Huns­rück wuchs mir dar­über­hin­aus „Your Red­neck Past“ ans Herz, einer der rocki­ge­ren Songs, des­sen genaue lyri­sche Bedeu­tung sich mir bis heu­te nur unzu­rei­chend erschließt. Auch das muss­te wohl so.

Wenn ich mir „The Unaut­ho­ri­zed Bio­gra­phy Of Rein­hold Mess­ner“ heu­te anhö­re, bin ich erstaunt, wie melan­cho­lisch, gera­de­zu depres­siv das Album klingt. Zwar hat Ben Folds zuvor und danach bewie­sen, dass er sich ganz groß­ar­tig Geschich­ten aus­den­ken kann, aber auf die­sem Album han­deln fast alle Songs vom Schei­tern, Ver­sa­gen oder Ster­ben und das Lyri­sche Ich zieht sich selbst der­art durch den Staub, dass da schon mehr dahin­ter­ste­cken muss­te. Musi­ka­lisch ist das zwei­fels­oh­ne ganz gro­ße Song­wri­tin­g­kunst, hand­werk­lich gekonnt umge­setzt, aber eigent­lich nicht das, womit 16-Jäh­ri­ge zu einer Band fin­den soll­ten. Wie „anders“ das Album auch für die Band selbst war, ver­stand ich erst, als ich mir ihr sons­ti­ges Schaf­fen erschlos­sen hat­te, aber es ist eines die­ser Alben, von denen ich jeden ein­zel­nen Ton ken­ne, jedes Knar­ren des Schlag­zeug­ho­ckers, jeden Blä­ser­satz und jede Zei­le Text. Ich woh­ne seit acht Jah­ren in mei­ner Woh­nung und lau­fe immer noch min­des­tens ein­mal pro Woche gegen einen Tür­rah­men, aber in mei­nem Eltern­haus kann ich zur Not betrun­ken im Dun­keln die Trep­pe hoch­ge­hen und fin­de pro­blem­los den Weg in mein altes Kin­der­zim­mer. Genau so fühlt sich die­ses Album für mich an. Selbst der „Hos­pi­tal Song“, der nur eine Stro­phe hat, und das aus­ufern­de Qua­si-Instru­men­tal­stück „Your Most Valuable Pos­ses­si­on“, das die Band im Stu­dio zu einer Art spo­ken word per­for­mance impro­vi­sier­te, die Ben Folds‘ Vater Dean sei­nem Sohn zu nächt­li­cher Stun­de auf dem Anruf­be­ant­wor­ter (goo­gelt das, GenZ!) hin­ter­las­sen hat­te, müs­sen genau so.

Die CD aus der Stadt­bi­blio­thek („Leih­frist: vier Wochen, Ver­län­ge­rung zwei Mal mög­lich“) beglei­te­te mich eigent­lich durch den Rest des Jah­res, bis ich bei der Erstel­lung mei­nes weih­nacht­li­chen Wunsch­zet­tels „Alle bis­her erschie­ne­nen Alben von Ben Folds Five“ schrieb. Weil das Book­let der Büche­rei-Ver­si­on so vie­le Rei­sen mit mir unter­nom­men hat­te, regel­te mei­ne Mut­ter das auf der Arbeit sogar so, dass die­ses Book­let gelöscht und durch die in der für mich als Geschenk gekauf­ten CD-Hül­le ent­hal­te­ne Ver­si­on ersetzt wur­de. Ich durf­te also das Book­let behal­ten, mit dem ich schon so viel Zeit ver­bracht hat­te.

Als ich mei­ne eige­ne Ver­si­on des Albums zu Weih­nach­ten bekam, war die „Rol­ling Stone Road­show“ schon Geschich­te: Im Namen des Musik­ma­ga­zins waren Ben Folds Five, Tra­vis und Gay Dead durch die Bun­des­re­pu­blik getourt und hat­ten am 29. Novem­ber 1999 in der Köl­ner Live Music Hall gespielt. Ich hat­te es mir notiert und dann gedacht: „Ach, mit dem Zug abends allei­ne nach Köln und zurück – die wer­den schon noch mal wie­der­kom­men!“ Ich hat­te end­lich eine Lieb­lings­band. Weni­ger als ein Jahr spä­ter lös­ten sich Ben Folds Five auf, aber das habe ich schon ein paar mal auf­ge­schrie­ben.

„The Unaut­ho­ri­zed Bio­gra­phy Of Rein­hold Mess­ner“ hat kei­ne Hits im eigent­li­chen Sin­ne. Der Song „Army“ ist – vor allem wegen des vom Publi­kum gesun­ge­nen Blä­ser-Arran­ge­ments – auch heu­te noch ein Ereig­nis bei jedem Kon­zert von Ben Folds. Aber der Song, der mich von Anfang an am Meis­ten gepackt hat, ist „Magic“: ein schlep­pen­der Wal­zer; das ein­zi­ge Lied auf dem Album, das Schlag­zeu­ger Dar­ren Jes­see geschrie­ben hat, und in dem sich die Trau­er um einen ver­stor­be­nen Men­schen und das Wis­sen, dass die­se Per­son es hin­ter sich hat, auf ganz wun­der­ba­re Wei­se ver­mi­schen. Die­ser Song hat, bevor über­haupt irgend­je­mand aus mei­nem nähe­ren Umfeld gestor­ben war, mir immer Hoff­nung gege­ben. Und nach­dem mei­ne Omi vor andert­halb Jah­ren gestor­ben war, wuss­te ich plötz­lich ganz genau, wel­chen Song­text ich auf Insta­gram zitie­ren wür­de.

Saw you last night
Stars in the sky
Smi­led in my room

Ben Folds Five – The Unaut­ho­ri­zed Bio­gra­phy Of Rein­hold Mess­ner
(550/​Caroline Music; 26. April 1999)
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Leben Musik

25 Jahre „Equally Cursed And Blessed“

Die­ser Ein­trag ist Teil 3 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Catatonia - Equally Cursed And Blessed (abfotografiert von Lukas Heinser)

Radio Boh­len, jeden­falls, schloss im Som­mer 2001 für immer sei­ne Türen. Der Ort, an dem mei­ne Eltern (und Groß­el­tern) nahe­zu alle Fern­se­her, Video­re­cor­der und Ste­reo­an­la­gen gekauft hat­ten, und an dem ich auch ein paar CDs erstan­den hat­te (ein ganz paar: R&K und Kar­stadt waren meist güns­ti­ger gewe­sen – und ich hat­te die Prei­se natür­lich oft ver­gli­chen), mach­te nach Jahr­zehn­ten dicht. Der Ver­kaufs­raum war eine die­ser 1950er-Jah­re-Extra­va­gan­zen gewe­sen, die man zu ebe­ner Ebe­ne betrat (Kas­se, Kopf­hö­rer und ande­res Zube­hör), um dann wahl­wei­se eine hal­be Eta­ge hin­ab- (Fern­se­her, Ste­reo­an­la­gen, Boxen, Laser­disc-Play­er) oder hin­auf­zu­stei­gen (CDs, Band-T-Shirts, Pos­ter und letz­te Vinyl-Schall­plat­ten, die damals wirk­lich out waren). Abso­lut nicht bar­rie­re­frei (dabei hat­te Deutsch­land in den 1950er Jah­ren über einen außer­ge­wöhn­lich hohen Bevöl­ke­rungs­an­teil von Men­schen mit feh­len­den Glied­ma­ßen ver­fügt) und beim anschlie­ßen­den Umbau zu einem DM ordent­lich nivel­liert (schö­ne 50er-Jah­re-Trep­pen­ge­län­der kann man sich schließ­lich auch woan­ders anschau­en).

Die letz­te CD, die ich bei einer die­ser für alle Betei­lig­ten immer etwas ent­wür­di­gen­den, Aus­ver­kauf gehei­ße­nen, Lei­chen­fled­de­rei­en erstand (und das unge­hört), war „Equal­ly Cur­sed And Bles­sed“, das drit­te Album der wali­si­schen Band Cata­to­nia. Die hat­te ich, wie schon die Ste­reo­pho­nics, als Gäs­te auf dem Tom-Jones-Kar­rie­re-Revi­ta­li­sie­rungs­werk „Rel­oad“ ken­nen­ge­lernt und es muss, wenn ich mich nicht sehr irre, der ers­te Act mit weib­li­cher Stim­me gewe­sen sein, der sei­nen Weg in mei­ne CD-Samm­lung fand. Kos­te­te glaub ich auch nur noch acht Mark oder so.

Was mich zuhau­se beim ers­ten Hören erwar­te­te war das, was ich mir als Noch-nicht-18-Jäh­ri­ger unter „Musik für Erwach­se­ne“ vor­stell­te: ein biss­chen über­dreh­ter, ein biss­chen coo­ler und ein biss­chen cle­ve­rer als das, was meist auf 1Live und WDR2 lief. Ich mal­te mir aus, dass Men­schen um die 30, die in schi­cken Apart­ments in Lon­don wohn­ten und in den Medi­en arbei­te­ten, sol­che Musik bei ihren din­ner par­ties auf­le­gen wür­den. Aus irgend­ei­nem Grund stell­te ich mir ziem­lich genau das Set­de­sign der „About A Boy“-Verfilmung vor, ein Jahr, bevor der Film raus­kam.

Sän­ge­rin Cerys Matthews hat­te eine Stim­me, die klang, als hät­te Tiffy aus der „Sesam­stra­ße“ mit dem Trin­ken und Rau­chen ange­fan­gen, und sie sang bis­si­ge, gelang­weil­te Gesell­schafts­kom­men­ta­re; man­che Text­zei­len über­ra­schen auch Jahr­zehn­te spä­ter („The ad begs, ‘Buy bot­t­led water‘ /​ But we know that it tas­tes of piss /​ Should be get­ting our tam­pons free /​ DIY gyneco­lo­gy“). Das Album wur­de Teil mei­nes Som­mer-Sound­tracks und tat­säch­lich klin­gen die meis­ten Songs für mich auch heu­te noch nach dem leich­ten Wind, der an hei­ßen Som­mer­ta­gen über die nie­der­rhei­ni­sche Land­schaft kriecht: Könn­te auch noch schwül wer­den, könn­te noch gewit­tern, aber wir wür­den bei irgend­wel­chen Schul­freun­den, deren Eltern ohne sie in den Urlaub gefah­ren waren, unter der Mar­ki­se sit­zen.

Track 2 – und damit tra­di­tio­nell das kla­re High­light, die kla­re Sin­gle – ist ein Hass­lie­bes­lied auf Lon­don: „Lon­di­ni­um“ beklagt die hohen Lebens­hal­tungs­kos­ten, den dich­ten Ver­kehr und den ver­lo­ge­nen Show­biz-Gla­mour mit einem unfass­bar ein­gän­gi­gen Refrain, der Bahn­hö­fe und Taxen zusam­men­bringt. In mei­ner leb­haf­ten Phan­ta­sie ent­stand eine roman­ti­sche Komö­die um Men­schen, die bei einem Stadt­ma­ga­zin namens „Lon­di­ni­um“ arbei­te­ten. (Fuck, viel­leicht habe ich aus Ver­se­hen „Tat­säch­lich Lie­be“ erfun­den!)

Cata­to­nia ver­öf­fent­lich­ten im glei­chen Som­mer ihr vier­tes Album, das ich nie gehört habe; die Band lös­te sich kurz dar­auf auf. Ich habe „Equal­ly Cur­sed And Bles­sed“ mehr als zehn Jah­re lang nicht gehört, aber die Musik erschafft immer noch far­ben­fro­he Bil­der in mei­nem Kopf. Nur die Men­schen sind inzwi­schen Mit­te Fünf­zig und zum zwei­ten Mal geschie­den.

Cata­to­nia – Equal­ly Cur­sed And Bles­sed
(Blan­co y Negro; 12. April 1999)
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Musik Leben

25 Jahre „Clarity“

Die­ser Ein­trag ist Teil 1 von bis­her 10 in der Serie 1999

Im Jahr 1999 erschie­nen jede Men­ge Alben, die für unse­re Autor*innen prä­gend waren. Zu ihrem 25. Jubi­lä­um wol­len wir sie der Rei­he nach vor­stel­len.

Jimmy Eat World - Clarity (abfotografiert von Lukas Heinser)

So rich­tig gil­det das ja gar nicht: „Cla­ri­ty“ von Jim­my Eat World kam in Deutsch­land ja erst Ende Janu­ar 2001 auf den Markt, fast zwei Jah­re nach sei­ner Ver­öf­fent­li­chung in den USA – auch etwas, was jun­gen Men­schen heu­te nur noch schwer zu ver­mit­teln ist, wo Musik ein­fach um Mit­ter­nacht Orts­zeit bei den Strea­ming-Diens­ten auf­taucht.

1999 wäre ich aber auch noch gar nicht bereit gewe­sen: ein 15-jäh­ri­ges Kind, des­sen sehr über­schau­ba­re CD-Samm­lung über­wie­gend mit Film-Sound­tracks und Radio­pop von Phil Coll­ins bis Light­house Fami­ly bestückt war. 2001 war das anders: Ich hat­te inzwi­schen ein recht ordent­lich gefüll­tes CD-Regal, eine Fest­plat­te vol­ler MP3s und Viva II und „Visi­ons“ boten Ein- und Aus­bli­cke auf all das, was musi­ka­lisch noch exis­tier­te. Und an Jim­my Eat World und ihrer Sin­gle „Lucky Den­ver Mint“ kam man dort nicht vor­bei:

Die­ser Song klang glei­cher­ma­ßen cat­chy und erwach­sen. Wie die Musik vom „Ame­ri­can Pie“-Soundtrack, aber ein ganz klei­nes biss­chen sper­ri­ger. Ich weiß, dass ich das Album an einem Frei­tag­nach­mit­tag bei Radio Boh­len gekauft habe, jenem Unter­hal­tungs­elek­tro­nik- und Ton­trä­ger­händ­ler in der Dins­la­ke­ner Innen­stadt, bei dem schon mein Vater Ste­reo­an­la­ge und Schall­plat­ten erwor­ben hat­te, und der kein hal­bes Jahr spä­ter sei­ne Pfor­ten für immer schlie­ßen soll­te. (Seit­dem ist ein DM an die­ser Stel­le.) Ich erin­ne­re mich, dass ich noch schnell eine Kas­set­te auf­nahm, die ich am nächs­ten Tag hören konn­te, wäh­rend ich mit Schulfreund*innen bei der Inven­tur in der Filia­le eines gro­ßen nie­der­län­di­schen Beklei­dungs­kon­zern aus­half, wie wir es zu jener Zeit öfter taten. Und ich weiß, dass die Songs von Jim­my Eat World in der Fol­ge auf zahl­rei­chen Mix­tapes für mich und ange­him­mel­te Mit­schü­le­rin­nen lan­de­ten.

Viel­leicht pro­ji­zie­re ich im Nach­hin­ein zu viel in die­ses Album hin­ein, viel­leicht dach­te ich aber auch schon mit 17, dass es mehr nach Stu­den­ten­wohn­heim als nach Jugend­zim­mer klang. Neben den kla­ren, ein­gän­gi­gen Sin­gles „Lucky Den­ver Mint“ und „Blis­ter“ war da ein Song wie „A Sun­day“, wo sich tief­tö­nen­de Gitar­ren mit Strei­chern und Glo­cken­spiel misch­ten; das sie­ben­mi­nü­ti­ge „Just Watch The Fire­works“, das sich immer wie­der stei­ger­te und die Rich­tung wech­sel­te, wie irgends­o­ein Prog­rock-Song der 1970er, nur ohne des­sen gleich mit­ge­dach­tes Kif­fer-Publi­kum; die per­len­den Kla­vier- und Gitar­ren­so­li in „For Me This Is Hea­ven“, die sich spie­gel­ten und ver­ein­ten wie eine Beet­ho­ven-Sona­te, und natür­lich der mehr als 16-minü­ti­ge clo­ser „Good­bye Sky Har­bor“.

Ich ken­ne kein ande­res Album, des­sen Lyrics so gut in die Zeit gepasst hät­ten, in dem ich es fast jeden Tag gehört habe, ohne es zu mer­ken. Fast jeder Song ent­hält min­des­tens eine Zei­le, die ich mit Edding (oder wenigs­tens Blei­stift) auf die Schul­ti­sche hät­te schrei­ben kön­nen, aber erst jetzt, mehr als 20 Jah­re spä­ter, erfas­se ich beim Hören, was uns die Band damals mit­tei­len woll­te. Wie die Tex­te das Kon­zept „Emo“, schon Jah­re vor My Che­mi­cal Romance und Fall Out Boy, auf eine Art aus­reiz­ten, die in der Rück­schau bis an die Gren­ze der Selbst­par­odie reicht. Wie sehr die­ses Album nur am Ende eines in jeder Hin­sicht ein­zig­ar­ti­gen Jahr­zehnts erschei­nen konn­te, etwa in einem Song, der sich expli­zit mit der Tod­sün­de der so auf Authen­ti­zi­tät bedach­ten 1990er Jah­re beschäf­tigt, dem sell-out („Your New Aes­the­tic“).

Womög­lich liegt irgend­ein tie­fe­rer Sinn in dem absur­den Unter­hal­tungs­in­dus­trie­pro­zess, der dafür sorg­te, dass uns „Cla­ri­ty“ nicht schon 1999 vor die Füße fiel, son­dern wir bis 2001 dar­auf war­ten muss­ten. In der Rück­schau, die ja vie­les umdeu­tet und in soge­nann­te Nar­ra­ti­ve zwängt, war „Cla­ri­ty“ jeden­falls der zwin­gen­de Sound­track zu dem einen, letz­ten sor­gen­frei­en Som­mer: fast jedes Wochen­en­de saßen wir am Rhein­ufer, mach­ten ille­ga­le Lager­feu­er und hör­ten betont bedeu­tungs­vol­le Musik. Min­des­tens ein­mal im Monat waren irgend­je­man­des Eltern weg, was in einer soge­nann­ten Stumrfrei-Par­ty resul­tier­te. „Unglück­lich ver­liebt“ war die Default-Ein­stel­lung bei fast allen. Mein Sony-Walk­man und die dar­an ange­schlos­se­nen In-Ear-Kopf­hö­rer waren Teil mei­nes Kör­pers.

Und Jim Adkins und Tom Lin­ton san­gen sich die See­le aus dem Leib:

When the time we have now ends
When the big hand goes round again
Can you still feel the but­ter­flies?
Can you still hear the last good­night?

Am 20. August begann dann für uns das letz­te Schul­jahr und drei Wochen spä­ter krach­ten die Flug­zeu­ge ins World Trade Cen­ter und ins Pen­ta­gon. Aber das ist die Geschich­te des Nach­fol­ge-Albums „Bleed Ame­ri­can“.

Jim­my Eat World – Cla­ri­ty
(Capi­tol Records; 23. Febru­ar 1999/​29. Janu­ar 2001)
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Leben Gesellschaft

Entsetzen in Dinslaken: Der Wendler dreht durch!

Für Dins­la­ken, die sym­pa­thi­sche Stadt im Grü­nen, ist es der schwers­te Schick­sals­schlag seit dem Ende des Stein­koh­le­berg­baus: Der größ­te Sohn der Stadt ist plötz­lich Coro­na-Leug­ner! Ein Bei­trag über das bis­he­ri­ge Lebens­werk Micha­el Wend­lers und dar­über, was sein Melt­down für sei­ne alte Hei­mat bedeu­tet.

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Leben

In memoriam Renate Erichsen

Ich schrei­be jetzt seit über 25 Jah­ren: Schul­auf­sät­ze, Lied­tex­te, Dreh­bü­cher, Rezen­sio­nen, Arti­kel, Semi­nar­ar­bei­ten, Blog­ein­trä­ge, Vor­trä­ge, Wit­ze, Mode­ra­tio­nen, News­let­ter, Tweets, … 

Letz­te Woche gab es eine Pre­mie­re, auf die ich auch noch ein paar Jah­re hät­te ver­zich­ten kön­nen: Ich habe mei­ne ers­te Trau­er­re­de geschrie­ben und gehal­ten – auf mei­ne Oma, die heu­te vor einem Monat im Alter von 84 Jah­ren gestor­ben ist.

Ich habe lan­ge dar­über nach­ge­dacht, ob ich dar­über etwas schrei­ben soll, weil es ja nicht nur um mein Pri­vat­le­ben geht, son­dern auch um das mei­ner Oma und mei­ner Fami­lie, des­we­gen will ich nicht ins Detail gehen, aber ande­rer­seits war mei­ne Oma medi­al bis zuletzt fit, hat mein Blog (und ande­re) gele­sen, „Lucky & Fred“ gehört (wes­we­gen ich ihren Tod auch in der letz­ten Fol­ge the­ma­ti­siert habe) und mit uns Enkeln per Tele­gram kom­mu­ni­ziert (Whats­App lief nicht auf ihrem iPad). Außer­dem gab es ja sonst kei­ne Nach­ru­fe auf sie und mut­maß­lich wird man auch kei­ne Stra­ßen nach ihr benen­nen oder ihr Sta­tu­en errich­ten.

Rena­te Erich­sen, die für uns nur Omi Nate war, wur­de 1932 in Ber­lin gebo­ren, wäh­rend des Krie­ges floh ihre Fami­lie nach Feh­marn und ließ sich dann spä­ter in Dins­la­ken (of all places) nie­der. Sie war, wohl auch des­halb, poli­tisch und gesell­schaft­lich sehr inter­es­siert und woll­te von ihren Enke­lin­nen und Enkeln immer wis­sen, wie wir über bestimm­te Din­ge den­ken. 

Die Rena­tio­na­li­sie­run­gen, die in der EU – aber nicht nur dort – in den letz­ten Jah­ren zu beob­ach­ten waren, berei­te­ten ihr gro­ße Sor­gen, poli­ti­sche Strö­mun­gen wie AfD und Donald Trump auch. „Das habe ich alles schon mal erlebt“, sag­te sie dann und es gab kei­ne Zwei­fel dar­an, dass sie das nicht noch mal haben muss­te — und auch nie­man­dem sonst wünsch­te.

Bei einem unse­rer Tele­fon­ge­sprä­che nach dem Brexit-Refe­ren­dum im ver­gan­ge­nen Jahr beklag­te sie sich dar­über, dass so weni­ge jun­ge Men­schen zur Wahl gegan­gen waren — aber auch und vor allem, dass so vie­le alte Men­schen über die Zukunft der Jun­gen abge­stimmt und ihnen damit die Zukunft ver­baut hät­ten. Obwohl sie, wie sie oft erwähn­te, eine klei­ne Ren­te hat­te, stimm­te sie bei Wah­len lie­ber so ab, wie sie es für „die jun­gen Leu­te“ (also: uns) für rich­tig hielt.

All das und eini­ge ande­re Din­ge habe ich ver­sucht, in mei­ne Rede ein­zu­bau­en und dabei fest­ge­stellt, dass das auf ein paar Sei­ten Text gar nicht so ein­fach ist. Klar: Auch in mei­nen jour­na­lis­ti­schen Arbei­ten ist nie Platz für alles, aber die füh­len sich nicht an, als müss­ten sie ein The­ma (oder in die­sem Fall: ein Leben) qua­si „abschlie­ßend“ ver­han­deln.

Vor der Trau­er­fei­er war es auch so, dass ich haupt­säch­lich an mei­ne Rede gedacht habe, was sich einer­seits total ego­is­tisch und fehl am Plat­ze anfühl­te, ande­rer­seits aber eine ganz gute emo­tio­na­le Ablen­kung war — und ich woll­te ja auch, dass die Rede eini­ger­ma­ßen gut und vor allem ange­mes­sen wird.

Ich habe des­halb auch noch mal die Rede gegoo­gelt, die Thees Uhl­mann von Tom­te im Febru­ar 2004 (Wahn­sinn, wie lang das schon wie­der her ist!) auf der Beer­di­gung von Roc­co Clein gehal­ten hat — für mei­ne Zwe­cke nur bedingt hilf­reich, aber auch all die Jah­re spä­ter immer noch groß, gewal­tig und trös­tend. Und bei der Suche bin ich auch auf ein Dop­pel­in­ter­view mit Thees und Ben­ja­min von Stuck­rad-Bar­re gesto­ßen, das letz­tes Jahr im „Musik­ex­press“ erschie­nen ist. Die bei­den lie­gen mir ja eh sehr am Her­zen (im Sin­ne von: ich wür­de ohne die bei­den ver­mut­lich gar nicht schrei­ben — oder zumin­dest nicht so, wie ich es jetzt – auch hier, gera­de in die­sem Moment – tue), aber es ist auch so ein schö­nes Gespräch, in dem es auch um beson­de­re Men­schen geht.

Und so erschien mir der Rück­weg aus Dins­la­ken nach Trau­er­fei­er, Urnen­bei­set­zung, Kaf­fee­trin­ken und sehr engem fami­liä­ren Bei­sam­men­sein dann auch der rich­tig Zeit­punkt, um nach Jah­ren mal wie­der „Hin­ter all die­sen Fens­tern“ zu hören, das Album mit dem Tom­te damals in mein Leben gekracht waren und das ich damals ganz oft im Zug von Dins­la­ken nach Bochum und zurück gehört hat­te.

Es war sicher­lich auch den beson­de­ren Umstän­den geschul­det, dass mich das Album noch ein­mal mit­ten ins Herz traf: „Schreit den Namen mei­ner Mut­ter, die mich hielt“, „Das war ich, der den weg­brach­te, den Du am längs­ten kennst“, „Es könn­te Trost geben, den es gilt zu sehen, zu erken­nen, zu buch­sta­bie­ren“, „Von den Men­schen berührt, die an dem Fried­hof stan­den, am Ende eines Lebens“ — ich hät­te mir sofort das gesam­te Album täto­wie­ren las­sen kön­nen.

Die­ses Gefühl, dass da jemand vor inzwi­schen 15 Jah­ren ein paar Tex­te geschrie­ben hat, die etwas mit sei­nem dama­li­gen Leben zu tun hat­ten, und dass die­se Tex­te dann zu ver­schie­de­nen Zeit­punk­ten im eige­nen Leben in einem genau die wun­den Stel­len tref­fen und gleich­zei­tig weh­tun und beim Hei­len hel­fen: Wahn­sinn! Immer wie­der aufs Neue!

Und dann noch mal die liner notes zum Album lesen und immer wie­der nicken und sich ver­stan­den füh­len. Mei­ne Oma hat Zeit ihres Lebens alle Lite­ra­tur ver­schlun­gen, derer sie hab­haft wer­den konn­te — „ich habe mehr durch Musik gelernt, als durch Biblio­the­ken“, sang wie­der­um Thees Uhl­mann auf der fina­len Tom­te-Plat­te.

Im Übri­gen hat sich her­aus­ge­stellt, dass so ein Tod (zumin­dest, wenn er nach einem lan­gen und erfüll­ten Leben kam und die Ver­stor­be­ne sich ange­mes­sen ver­ab­schie­den konn­te) ein viel­leicht etwas absei­ti­ger, aber zuver­läs­si­ger Gesprächs­mo­tor ist. Ich habe jeden­falls in den letz­ten Wochen vie­le sehr gute Gesprä­che mit engen Freun­den, aber auch ganz ande­ren Men­schen geführt.

Die­ser Text erschien ursprüng­lich in mei­nem News­let­ter „Post vom Ein­hein­ser“, für den man sich hier anmel­den kann.

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Politik Gesellschaft

Sonst ist der bitt’re Frost mein Tod

Als ich noch kein Kind hat­te, fand ich die Fra­ge „Haben Sie selbst Kin­der?“ in einer Dis­kus­si­on immer etwas unver­schämt – so, als ob einem das Schick­sal der Welt und der Men­schen weni­ger wich­tig wäre, nur weil man sich noch nicht erfolg­reich fort­ge­pflanzt hat. Stellt sich raus: Es ändert sich tat­säch­lich wahn­sin­nig viel und plötz­lich steht man am Mor­gen nach einer US-Prä­si­dent­schafts­wahl wei­nend unter der Dusche, weil man lang­sam echt Angst bekommt, in was für einer kran­ken Welt das Kind und sei­ne Freun­de eigent­lich auf­wach­sen sol­len.

Die neue Sicht auf die Welt ist aber nicht aus­schließ­lich apo­ka­lyp­tisch – im Gegen­teil: Die Geschich­te von St. Mar­tin hat mich als Kind nie ernst­haft beschäf­tigt. Klar: Bett­ler, Man­tel, Hei­li­ger. Jedes Jahr gab es in Dins­la­ken einen Gro­ßen Mar­tins­zug mit Pferd und Feu­er, danach gab es Stu­ten­kerle, aber das alles war nur das Vor­pro­gramm für die Mar­ti­ni­kir­mes, über die wir anschlie­ßend mit Omas Kir­mes­geld in der Tasche zie­hen durf­ten – und deren Name uns auch erst sehr viel spä­ter irgend­wie mehr­deu­tig und lus­tig erschien. Letz­tes Jahr aber, als wir das ers­te Mal mit dem Kind beim Mar­tins­zug waren und die Flücht­lings­kri­se gera­de auf dem Höhe­punkt war, da erschien mir die Geschich­te des römi­schen Sol­da­ten, der sich um einen Obdach­lo­sen vor den Stadt­to­ren küm­mert, plötz­lich wahn­sin­nig wich­tig und aktu­ell. Da hät­te der Pfar­rer bei sei­ner Rezi­ta­ti­on der Mar­tins­ge­schich­te gar nicht mehr den Bogen in die Gegen­wart schla­gen müs­sen.

Je län­ger ich dar­über nach­den­ke, des­to mehr habe ich das Gefühl, dass das Mar­tins­fest der viel­leicht wich­tigs­te – sicher­lich aber: greif­bars­te – christ­li­che Fei­er­tag sein könn­te. Geburt oder Auf­er­ste­hung eines Hei­lands, Hei­li­ger Geist und Was­ge­nauf­ei­ert­man­noch­mal­an­Fron­leich­nam? sind von der Lebens­wirk­lich­keit der Men­schen dann doch eher weit ent­fernt, Hilfs­be­reit­schaft und Nächs­ten­lie­be ver­ste­hen die meis­ten noch. Da braucht es dann auch gar nicht unbe­dingt noch die Schluss­poin­te und die fünf­te Stro­phe des Mar­tins­lieds, wo Jesus Chris­tus auf­taucht und erklärt, dass der gute Mar­tin jetzt für ihn, Chris­tus, den Man­tel gege­ben hät­te.

Nach­dem Ange­la Mer­kel mit ihrem Auf­ruf, Lie­der­zet­tel zu kopie­ren und Block­flö­tis­ten zu Rate zu zie­hen, mal wie­der für gro­ßes Hal­lo auf dem Gebiet gesorgt hat­te, das die meis­ten Deut­schen immer noch für Sati­re hal­ten, ver­öf­fent­lich­te der WDR in sei­ner Sen­dung „WDR aktu­ell“ einen Bei­trag aus dem WDR-Lehr­buch „WDR-Bei­trä­ge, die wie WDR-Bei­trä­ge aus­se­hen“: Erst san­gen nor­ma­le Men­schen auf der Stra­ße Weih­nachts­lie­der in Kame­ra und Mikro­fon, dann gab es Schnitt­bil­der von der Kanz­le­rin, schließ­lich kamen ein paar ein­ord­nen­de O‑Ton-Geber zu Wort. Der stell­ver­tre­ten­de CDU-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de im Düs­sel­dor­fer Stadt­rat, Andre­as Hart­nigk, erklärt:

Wir sind hier in einer christ­lich-abend­län­di­schen Kul­tur groß gewor­den, wir leben die­se Kul­tur auch, und da sin­gen wir kei­ne Son­ne-Mond-und-Ster­ne-Lie­der, son­dern wir sin­gen St.-Martins-Lieder und das Ding heißt auch St.-Martins-Umzug. Und das muss auch so blei­ben und jeder, der das nicht will, kann sich einen andern Lebens­raum suchen, wenn er das nicht akzep­tiert, oder er hält sich vor­nehm zurück.

Ich habe ein paar Stun­den gebraucht, bis mir die­ser O‑Ton rich­tig übel auf­stieß. Mal davon ab, dass „Later­ne, Later­ne, Son­ne, Mond und Ster­ne“ nun seit Jahr­zehn­ten zum Reper­toire eines Mar­tins­zugs gehö­ren dürf­te, klopft hier ein ganz ande­res Pro­blem an: Wäre es nicht irgend­wie sinn­vol­ler, sich dafür zu inter­es­sie­ren, was die Bot­schaft hin­ter dem Fest und dem Umzug ist, und nicht, wie ande­re Leu­te das Ding nen­nen?

Die Panik, dass unse­re schö­nen christ­li­chen Fes­te umbe­nannt wer­den, treibt Kon­ser­va­ti­ve und Neu­rech­te seit Jah­ren um und sorgt immer wie­der für besorg­te Falsch­mel­dun­gen. (Klar: Nichts trans­por­tiert die Weih­nachts­bot­schaft bes­ser als ein soge­nann­ter Weih­nachts­markt, auf dem sich erwach­se­ne Men­schen nach Fei­er­abend mit min­der­wer­ti­ger Plör­re betrin­ken. Den soll­te man auf kei­nen Fall in „Win­ter­markt“ umbe­nen­nen!) In denen meis­ten Fäl­len geht es ihnen dabei gar nicht um den Anlass eines sol­chen Fei­er­tags, son­dern um die rei­ne Exis­tenz die­ses Fei­er­tags, abge­kop­pelt von sei­ner Geschich­te. Der Ursprung des Zitats, Tra­di­ti­on sei nicht das Bewah­ren der Asche, son­dern die Wei­ter­ga­be des Feu­ers, ist eini­ger­ma­ßen unklar, aber man soll­te die­se Wor­te mal ein biss­chen in Hirn und Herz bewe­gen.

Als Alex­an­der Gau­land von der AfD im Gespräch mit FAZ-Repor­tern sei­nen berüch­tig­ten Jérô­me-Boat­eng-Nach­barn-Satz äußer­te, sag­te er auch, unter den Anhän­gern sei­ner Par­tei gebe es die Sor­ge, „dass eine uns frem­de Reli­gi­on sehr viel prä­gen­der ist als unse­re abend­län­di­sche Tra­di­ti­on“. Die Wort­wahl war auf­fäl­lig, weil er nicht wie ande­re Kon­ser­va­ti­ve von einer „christ­lich-abend­län­di­schen“ Kul­tur oder Tra­di­ti­on sprach – die christ­li­chen Kir­chen hat­ten zu die­sem Zeit­punkt die AfD näm­lich schon mit­un­ter deut­lich kri­ti­siert. Wenn es ernst­haft um christ­li­che Wer­te gin­ge, hät­te ja auch die CSU ein völ­lig ande­res Par­tei­pro­gramm.

Der musi­ka­li­sche Lei­ter des Schau­spiel­hau­ses Dort­mund, Tom­my Fin­ke, ein guter Freund von mir, sagt dann auch den ent­schei­den­den Satz in die­sem WDR-Bei­trag:

Vie­le unse­rer christ­li­chen Wer­te sind ja eigent­lich huma­nis­ti­sche Wer­te, das heißt, sie sind nicht unbe­dingt der christ­li­chen Reli­gi­on allein zuzu­schrei­ben.

Ich bin Kind einer Misch­ehe, evan­ge­lisch getauft, habe aber von mei­ner Oma die vol­le Palet­te der katho­li­schen Schutz­hei­li­gen mit­be­kom­men. Wenn sie in ihrem Haus­halt etwas nicht wie­der­fin­det, zün­det sie eine Ker­ze für den Hei­li­gen Anto­ni­us an, in der Hoff­nung, dass der „Klün­gel­tün­nes“ ihr hilft. (Mei­ne Oma sagt aber auch immer: „Ein Haus ver­liert nichts“, was die Ver­ant­wor­tung ein biss­chen von den Schul­tern des Hei­li­gen nimmt.) Das ist harm­lo­se, lebens­na­he Reli­gi­ons­aus­übung, das Gegen­teil von Kreuz­zü­gen und Hei­li­gem Krieg. Ich selbst habe mir das Got­tes­bild aus dem Kin­der­got­tes­dienst bewahrt und sehe es prag­ma­tisch: Da man die Nicht­exis­tenz eines höhe­ren Wesens nicht bewei­sen kann, kann man auch dran glau­ben, wenn es einem selbst wei­ter­hilft und man ande­ren damit nicht zur Last fällt. Ich find’s aber auch total in Ord­nung, wenn jemand sagt, er glau­be nicht an Gott – das ist ja das Wesen von „Glau­ben“. (Wenn jemand behaup­tet, er wis­se, dass Gott exis­tie­re – oder, dass der nicht exis­tie­re – wird’s schwie­rig: Bei­des. Ist. Wis­sen­schaft­lich. Nicht. Beweis­bar.)

Nächs­ten­lie­be und Hilfs­be­reit­schaft fin­de ich gut, unab­hän­gig davon, ob man jetzt aus reli­giö­sen oder huma­nis­ti­schen Grün­den han­delt. Aber man kann ja schlecht immer den Unter­gang der „christ­li­chen Wer­te“ bewei­nen, wenn man sie sel­ber nicht lebt. Und das mein­te die Kanz­le­rin ja auch mit ihren Aus­füh­run­gen zu Block­flö­te und Weih­nachts­lie­dern: Eine Reli­gi­on geht ja nicht dadurch unter, dass plötz­lich (im Sin­ne von: seit über fünf­zig Jah­ren) Men­schen einer ande­ren Reli­gi­on in einem Land leben, son­dern dadurch, dass sie nicht mehr bzw. nur als see­len­lo­se Tra­di­ti­on prak­ti­ziert wird. Und ein sprich­wört­li­cher fuß­ball­spie­len­der Sene­ga­le­se wird vom Gene­ral­se­kre­tär einer soge­nann­ten christ­li­chen Par­tei auch noch dafür geschol­ten, dass er minis­triert, weil man ihn dann nicht mehr abschie­ben kön­ne. Da hat sich die Logik ja schon auf hal­ber Stre­cke selbst ans Kreuz gena­gelt.

Wie war ich da jetzt hin­ge­kom­men und wie krie­ge ich die­sen Text zu Ende, ohne auch noch Schlen­ker über Donald Trump, die Geschich­te der römisch-katho­li­schen Kir­che und die Songs des ges­tern ver­stor­be­nen Leo­nard Cohen zu neh­men?

Ich wün­sche Ihnen und vor allem Ihren Kin­dern einen schö­nen St.-Martins-Tag und schau­en Sie heu­te viel­leicht mal ein biss­chen genau­er hin, ob jemand in Ihrer Umge­bung Hil­fe gebrau­chen könn­te!

Nach­trag, 16.28 Uhr: Nach Ver­öf­fent­li­chung die­ses Arti­kels habe ich gele­sen, dass der St.-Martins-Umzug eines Kin­der­gar­tens in Fürth abge­sagt bzw. ver­legt wer­den muss­te, weil zur glei­chen Zeit am glei­chen Ort Pegi­da unter dem Mot­to „Sankt Mar­tin und sei­ne heu­ti­ge Bedeu­tung“ demons­triert.

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Digital Gesellschaft

Die Geräusche meiner Kindheit

Aus­ge­löst durch eine Kolum­ne von Caro­lin Emcke schrei­ben die Men­schen auf Twit­ter heu­te unter dem Hash­tag #geräu­sche­der­kind­heit Geräu­sche auf, die sie an ihre Kind­heit erin­nern. Das ist sehr toll, aber weil ich kei­nen Bock mehr habe, mei­ne Gedan­ken immer­zu in den Sphä­ren der Social Media zu ver­bal­lern, und weil 140 Zei­chen nun wirk­lich zu wenig sind, nut­ze ich die­ses Blog für das, wozu es mal gedacht war, und blog­ge:

  • Fuß­ball­re­por­ta­gen aus dem Nach­bar­gar­ten. Als mei­ne Geschwis­ter und ich noch sehr klein waren, hat­ten mei­ne Eltern einen Schre­ber­gar­ten, der sich seit Gene­ra­tio­nen im Fami­li­en­be­sitz befand. Wenn das Wet­ter gut war (aber auch, wenn es nicht so gut war), waren wir gefühlt das gan­ze Wochen­en­de dort. Unse­re Eltern schnit­ten Sträu­cher, zupf­ten Unkraut, mäh­ten den Rasen und bau­ten an der Gar­ten­lau­be her­um (kein Strom­an­schluss, ein Torf­klo hin­term Haus), wäh­rend wir Kin­der auf dem Klet­ter­ge­rüst schau­kel­ten, fri­sches Obst aßen (das natur­ge­mäß wohl eher sai­so­nal begrenzt und nicht, wie mei­ne Erin­ne­rung mir weis­ma­chen will, immer) oder irgend­wo her­um­lie­fen (ande­re Kin­der gab es in der Kolo­nie, soweit ich mich erin­nern kann, kaum). Fes­ter Bestand­teil eines sol­chen Wochen­en­des waren schrei­en­de Män­ner, unter­legt von einem viel­stim­mi­gen Rau­schen, die aus den Radi­os der umlie­gen­den Gär­ten schall­ten. Mein Inter­es­se für Fuß­ball außer­halb der gro­ßen inter­na­tio­na­len Tur­nie­re begann erst mit der Bun­des­li­ga­sai­son 1994/​95 (5. Platz, Pokal­sieg, Ste­fan Effen­berg, Hei­ko Herr­lich, Mar­tin Dah­lin), des­we­gen hat­te ich nur eine unge­fäh­re Ahnung, was die­se Geräu­sche zu bedeu­ten hat­ten. Sie durch­misch­ten sich auch, gera­de am Sonn­tag, ger­ne mit den tat­säch­li­chen Durch­sa­gen, die von der nahe­ge­le­ge­nen Bezirks­sport­an­la­ge her­über weh­ten, wo der SuS Dins­la­ken 09 sei­ne Spie­le absol­vier­te. Noch heu­te ist Fuß­ball für mich eher ein akus­ti­sches als ein visu­el­les Erleb­nis (das Geräusch eines ordent­lich getre­te­nen Leder­balls lässt mich auch heu­te immer noch sofort zusam­men­zucken, weil ich damit rech­ne, das Teil Sekun­den­bruch­tei­le spä­ter an den Hin­ter­kopf, gegen die Nase oder in den Unter­leib zu bekom­men) und vor allem Bun­des­li­ga­nach­mit­ta­ge ver­brin­ge ich lie­ber am Radio als vor dem Fern­se­her.
  • Die Feu­er­wehr­si­re­ne. In den 1980er und 1990er Jah­ren wur­den Brän­de und ähn­li­che Kata­stro­phen noch von einem anschwil­len­den Sire­nen­ge­heul beglei­tet, das angeb­lich die Feu­er­wehr­leu­te zum Dienst rufen soll­te. Für mich war das ein schreck­li­ches Geräusch mit dunk­lem Hin­ter­grund: nach eini­gen Brän­den in umlie­gen­den Indus­trie­ge­bie­ten, nach denen die Bevöl­ke­rung ange­hal­ten wor­den war, Türen und Fens­ter geschlos­sen zu hal­ten, war das Geräusch für mich gleich­be­deu­tend mit einem nahen­den, bei unver­schlos­se­nen Fens­tern unaus­weich­li­chen Ersti­ckungs­tod. Wenn die Sire­ne los­ging, wäh­rend wir nicht zuhau­se waren, kam eine zwei­te, min­des­tens genau­so schlim­me Mög­lich­keit in Betracht: der Alarm galt unse­rem Haus, das gera­de in Flam­men stand – und mit ihm mei­ne Spiel­sa­chen und Kuschel­tie­re. Erst im Nach­hin­ein däm­mert mir, dass das Geräusch bei mei­ner Oma, die die Bom­bar­die­rung gleich meh­re­rer deut­scher Groß­städ­te er- und über­lebt hat­te, und ihren Alters­ge­nos­sen mög­li­cher­wei­se noch ein klein biss­chen beschis­se­ne­re Asso­zia­tio­nen aus­ge­löst haben muss. Ein­mal im Monat wur­den die­se ver­damm­ten Sire­nen, die in der gan­zen Stadt auf höhe­ren Häu­sern (dar­un­ter auch auf unse­rer Schu­le) mon­tiert waren, getes­tet – und es war für mich immer eine Schreck­se­kun­de, bis ich mich ver­ge­wis­sert hat­te: „Ja, ers­ter Sams­tag im Monat, 11.30 Uhr – dies­mal haben wir noch mal Glück gehabt.“ Aller­dings habe ich bis heu­te kei­ne Ahnung, was eigent­lich pas­siert wäre, wenn es aus­ge­rech­net zu die­ser Zeit tat­säch­lich mal gebrannt hät­te.
  • Das Fie­pen einer Bild­röh­re. Wir waren jung, wir durf­ten eine hal­be Stun­de am Nach­mit­tag fern­se­hen und wir hat­ten Rock’n’Roll, Walk­man und Kon­zer­te noch nicht für uns ent­deckt: natür­lich konn­ten wir hören, wenn irgend­wo in der Woh­nung ein Fern­se­her ein­ge­schal­tet war – selbst ohne Ton. Noch heu­te sind Bild­röh­ren für mich die ein­zig waren Fern­seh­ge­rä­te – auch, weil die so schö­ne Din­ge mit den eige­nen Haa­ren machen, wenn man direkt davor steht. Inzwi­schen bin ich 32 Jah­re alt, höre Musik über­wie­gend über Kopf­hö­rer, habe bei gro­ßen Ver­an­stal­tun­gen vor, hin­ter und auf der Büh­ne gear­bei­tet – und krie­ge regel­mä­ßig einen Rap­pel, wenn ich so etwas wie Lap­top-Netz­tei­le, Akku­la­de­ge­rä­te oder Tra­fos von Halo­gen­lam­pen immer noch fie­pen hören kann. Wozu die gan­ze Mühe?!
  • Der Anlas­ser­zug eines Zweitakt-Rasen­mäh­rer­mo­tors. Nach sei­ner Pen­sio­nie­rung hat­te mein Groß­va­ter drei gro­ße Hob­bies: Rei­sen, Golf spie­len und sei­nen Rasen. Die ers­ten bei­den lie­ßen sich ganz gut kom­bi­nie­ren, die letz­ten bei­den hät­ten immer noch eine Teil­zeit-Beschäf­ti­gung als Green­kee­per zuge­las­sen. So aber pfleg­te er den hei­mi­schen Rasen mit jähr­li­chem Ver­ti­ku­tie­ren, aus­gie­bi­gem Ein­satz von Dün­ge- und Unkraut­ver­nich­tungs­mit­teln und regel­mä­ßi­gem Rasen­mä­hen. Der Rasen­mä­her ist min­des­tens so alt wie ich und auch heu­te noch im Ein­satz, was – neben Autos der Mar­ke Opel – stark zu mei­nem unbe­irr­ten Glau­ben an die deut­sche Inge­nieurs­kunst bei­getra­gen hat. Gestar­tet wird das Teil mit einem Seil­zug­star­ter (die­ses Wort habe ich gera­de natür­lich ergoo­gelt), wobei der Motor fast laut ist wie der einer klei­nen Pro­pel­ler­ma­schi­ne, der Mäher aber bei rich­ti­ger Bedie­nung auch ähn­li­che Geschwin­dig­kei­ten erreicht – nur halt auf der Erde. Als ich alt genug war, um die Auf­ga­be des Rasen­mä­hens über­neh­men zu kön­nen, griff ich auf eine alt­be­währ­te Tak­tik zurück: ich ließ das selbst­fah­ren­de Unge­tüm ein­mal ins Blu­men­beet bret­tern und muss­te danach nie wie­der ran.
  • Der Rasen­spren­ger mei­nes Groß­va­ters. Glei­cher Rasen, ande­res Werk­zeug: Ein Kreis­ra­sen­spren­ger (auch gera­de ergoo­gelt – toll, dass die­se Din­ge alle auch einen rich­ti­gen Namen haben!), der ver­mut­lich schon zu Vor­kriegs­zei­ten in den Krupp’schen Stahl­wer­ken gefer­tigt wor­den war, des­sen Geräusch­ku­lis­se jeden­falls etwas mecha­nisch-mar­tia­li­sches an sich hat­te. Schnap­pend dreh­te sich der Kopf zunächst ruck­wei­se in die eine Rich­tung und spie gro­ße Was­ser­fon­tä­nen auf den zu benet­zen­den Grund, nach einer Dre­hung von schät­zungs­wei­se 320 Grad schnell­te er mit einem Mal zurück in die Aus­gangs­po­si­ti­on und begann die nächs­te Run­de. Als Kin­der konn­te man sich einen Spaß dar­aus machen, genau vor dem Was­ser­strahl her­zu­ren­nen und sich dann im toten Win­kel in Sicher­heit zu brin­gen. Ich glau­be, das Gerät ist irgend­wann kaputt­ge­gan­gen (mut­maß­lich zer­ros­tet) – oder es wur­de gewinn­brin­gend an Steam-Punk-Fans ver­kauft.
  • Zuge­schla­ge­ne Auto­tü­ren. Als Kind habe ich gefühlt sehr viel Zeit mit War­ten ver­bracht: Dar­auf, dass mei­ne Freun­de end­lich von ihren Eltern zum Spie­len vor­bei­ge­bracht wür­den, oder dar­auf, dass Tan­ten, Onkels oder ähn­li­cher Besuch kam. Die­ses War­ten ging ein­her mit der auf­merk­sa­men Beob­ach­tung der Park­plät­ze unter unse­rer dama­li­gen Miet­woh­nung, wobei ich jetzt nicht die gan­ze Zeit auf der Fens­ter­bank saß und nach drau­ßen starr­te – ich konn­te ja auch auf die Geräu­sche ach­ten. Jede zuge­schla­ge­ne Auto­tür konn­te bedeu­ten, dass es gleich end­lich an der Tür klin­geln wür­de und mein zwangs­wei­se auf Pau­se gesetz­ter Tages­ab­lauf (gut: ich hät­te auch lesen, Kas­set­ten hören oder irgend­et­was spie­len kön­nen) wei­ter­ge­hen konn­te. Was die Rück­kehr mei­nes Vaters von der Arbeit angeht, so bin ich mir sicher, auch heu­te noch einen Kadett E Cara­van, Bau­jahr 1988, aus einer belie­big gro­ßen Men­ge ande­rer Fahr­zeu­ge her­aus­hö­ren zu kön­nen.
  • Die Schwimm­hal­le mei­ner Groß­el­tern. Bevor im Pri­vat­fern­se­hen jeder Hinz und Kunz einen Pool oder einen Schwimm­teich vor lau­fen­der Kame­ra in Eigen­ar­beit zusam­men­bau­te, hat­ten mei­ne Groß­el­tern schon Anfang der 1970er Jah­re eine der ers­ten pri­va­ten Schwimm­hal­len der Stadt. Die­ser Stand­ort­vor­teil half mir zwar weder dabei, beson­ders früh Schwim­men zu ler­nen, noch dabei, als Teen­ager Mit­schü­le­rin­nen in den Feri­en zum Besuch im Biki­ni zu bewe­gen, aber Schwim­men ist heu­te immer noch mei­ne liebs­te Art sport­li­cher Betä­ti­gung. Das Becken ist mit fünf mal zehn Metern gar nicht mal so klein und ermög­licht es auch einem unge­üb­ten Sport­ler, bei­na­he Welt­re­kord­zei­ten zu schwim­men – weil man ja stän­dig umkeh­ren muss und sich dabei ordent­lich absto­ßen kann. Aus Grün­den der Ener­gie­ef­fi­zi­enz ist das Becken bei Nicht­be­nut­zung mit einer 50 Qua­drat­me­ter gro­ßen Pla­ne bedeckt, die auf eine gro­ße elek­trisch betrie­be­ne Rol­le am Ende auf­ge­wi­ckelt wer­den kann. Das Geräusch der sich öff­nen­den Pla­ne war stets Teil der Vor­freu­de auf den zu erwar­ten­den Bade­spaß. Die­ser ging dann anschlie­ßen­den meist mit lau­tem Plat­schen (im Gegen­satz zu öffent­li­chen Schwimm­bä­dern durf­te man hier vom Becken­rand sprin­gen – man muss­te nur anschlie­ßend wie­der tro­cken machen) und Gekrei­sche ein­her, das von den geka­chel­ten Wän­den und der gro­ßen Fens­ter­front wider­hall­te und sich gera­de bei geöff­ne­ter Front im Som­mer auch weit über den angren­zen­den Gar­ten ver­teil­te. Stil­echt abge­schlos­sen ist ein sol­cher Schwimm­bad­be­such bis heu­te übri­gens erst mit einem anschlie­ßend auf einem Bade­hand­tuch in der Son­ne kon­su­mier­ten „Däumling“-Eis der Fir­ma Bofrost.

Damit wären wir vor­erst am Ende mei­nes klei­nen Aus­flugs die Erin­ne­rungs­gas­se hin­un­ter. Ich bin sicher, dass mir schon bis heu­te Abend noch fünf ande­re Geräu­sche ein­ge­fal­len sein wer­den, die hier unbe­dingt hät­ten erwähnt wer­den müs­sen. Und in der nächs­ten Aus­ga­be machen wir es dann wie Mar­cel Proust und las­sen uns von Gebäck­stü­cken und ähn­li­chen Geschmä­ckern in der Zeit zurück­wer­fen.