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Musik

Aber hier leben? Nein, Danke!

Aus dem aktuellen Tocotronic-Newsletter:

Liebe FreundInnen,
es ist unfassbar: Anläßlich des Tages der Deutschen Einheit hat der ansonsten von uns hochgeschätzte Musikvideosender MTV auf seiner Internetseite unter der Überschrift “Heimatmelodien” (!) ein Voting für den besten deutschen Songtext (“Deutschland – Land der Dichter und Denker”) gestartet. Auch unsere Gruppe, Tocotronic, ist dort mit dem Text zu dem Lied “Imitationen” vertreten. Wir möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir nichts, aber auch gar nichts von unserer Teilnahme an dieser höchst zweifelhaften Aktion gewußt haben und wir auch nichts von solchen heimatduseligen Lyrikwettbewerben halten. Im Gegenteil: Eine solches Voting repräsentiert so ziemlich das genaue Gegenteil der von uns propagierten Inhalte. Dies nur mal so nebenbei.
Viele Grüsse
Tocotronic

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Politik

Auf jeden Sieger zehn Verlierer

Stellen wir uns für einen Moment bitte Folgendes vor: Ich habe Usain Bolt, den schnellsten Mann der Welt, zu einem Wettrennen über 100 Meter herausgefordert. Usain Bolt hat sich vorher beide Beine gebrochen, tritt aber trotzdem an. Durch dieses Handycap läuft Bolt die Strecke in 12,5 Sekunden, ich brauche 29,2 Sekunden und bin damit so langsam wie noch nie. Nach dem Rennen erkläre ich mich zum klaren Sieger, weil Bolt ja normalerweise viel, viel schneller ist und das muss man ja auch berücksichtigen.

Wenn Sie dieser Argumentation folgen können (und nicht schon bei der Vorstellung, ich könnte 100 Meter geradeaus laufen lachend unter Ihrem Schreibtisch verschwunden sind), sind Sie vermutlich in der SPD. Die hat nämlich gerade bei der bayrischen Landtagswahl das schlechteste Ergebnis ever eingefahren, was sie in der Selbstwahrnehmung zum Sieger macht, weil die CSU (die 2,3 Mal so viele Stimmen erhalten hat) immerhin seit 54 Jahren nicht mehr so schwach war.

Die gebrochenen Beine von Usain Bolt heißen Günther Beckstein und Erwin Huber und sie haben die Wahl natürlich nur derart vor die Wand gefahren, um Edmund Stoiber seinen 67. Geburtstag zu verhageln. Dafür haben sie Stoiber (und ich fürchte, Sie werden sich heute noch mit einigen schiefen Bildern rumschlagen müssen) bei Tempo 180 aus dem fahrenden Wagen geworfen, während Horst Seehofer an der Handbremse nestelte und Gabriele Pauli das Verdeck einfahren wollte. Aber für das führerlose und zertrümmerte Gefährt hätten sie immerhin noch die volle Pendlerpauschale beziehen können.

Die in jeder Hinsicht beeindruckende Schlappe für die CSU, die fast ein Drittel ihrer Wählerstimmen eingebüßt hat, wird aber in den Schatten gestellt von einer SPD, die das eigene Debakel elegant ignoriert (wohl Dank der Erfahrung auf dem Gebiet) und allen Ernstes Ansprüche auf die Regierungsbildung anmeldet.

Frank-Walter Steinmeier, den sie in der Partei mittlerweile vermutlich für einen Albino-Barack-Obama halten, der aber bestenfalls ein ganz sicher nicht gefärbter Gerhard-Schröder-Klon ist (was immerhin schon mal bedeutend besser ist als ein unrasierter Gordon-Brown-Klon), dieser Frank-Walter Steinmeier also stellt sich hinter ein Mikrofon und sagt:

Und immerhin: Es ist zum ersten Mal für viele Wählerinnen und Wähler in Bayern vorstellbar und möglich gewesen, nicht mehr CSU zu wählen. Sie sind noch nicht gleich durchgegangen zur SPD, aber es entsteht eine Perspektive.

Na, hurra! Da könnte ich ja auch in lautstarke Verzückung geraten, weil Natalie Portman nicht mehr mit Devandra Banhart zusammen ist — und mich jetzt sicher endlich heiraten wird.

Franz Maget, der aussieht wie Peter Zwegat, aber SPD-Spitzenkandidat in Bayern war, verspricht, den “halben Weg” beim “nächsten Mal” nachzuholen, und die Wähler nicht nur weg von der CDU, sondern auch hin zur SPD zu holen. Das klingt, als steckten die Wähler zwischen Villariba und Villabajo (formerly known as Not und Elend) auf halber Strecke im Schlamm — und nicht, als hätten sie sich gerade irgendwo ganz anders ein gemütliches kleines Zeltlager am warmen Herd von Gabi Pauli errichtet.

Um die Runde vollzumachen, trat auch noch Andrea Ypsilanti, die das Wortpaar “glaubwürdiger Politiker” im Alleingang zum Oxymoron stempeln will, freudestrahlend vor die Kameras und sprach von der zweiten Wahl, die “gründlich schiefgegangen” sei für … die CDU/CSU. Mit der ersten meint sie wohl ihre eigene in Hessen, diesem armen Bundesland, dass seit einem halben Jahr von einem geschäftsführenden Ministerpräsidenten regiert wird, der auch noch Roland Koch heißt.

Denn das ist die eigentliche Sensation der Wahlen in Hessen und Bayern: dass die Union nicht wegen ihrer politischen Gegner so dumm dasteht, sondern wegen ihres eigenen Führungspersonals. Aber selbst dann schafft es die SPD nicht, wenigstens so viele Wähler zu mobilisieren, dass sie selbst die meisten Stimmen bekommt — was nach meinem Demokratieverständnis (Koch hin, Beckstein her) irgendwie dringend notwendig wäre, um wasauchimmer zu regieren.

Aber vermutlich weiß es der Wähler zu schätzen, wenn eine Partei, der er vielleicht auch noch seine Stimme gegeben hat, in erster Linie durch Schadenfreude über die Verluste des politischen Gegners auf sich aufmerksam macht. Eigentlich ist es da doch inkonsequent, nicht gleich noch einen Schritt weiter zu gehen, auf Österreich zu zeigen und “wenigstens hat bei uns keiner das Nazipack gewählt” zu rufen.

Dass auch ein in Bayern erworbenes Abitur nicht zwangsläufig für große Mathematikkenntnisse steht, bewies dann Claudia Roth, die Mutter Beimer der Grünen. Sie sieht “eine deutliche Mehrheit jenseits der CSU”, die sich in den absoluten Zahlen der Sitzverteilung wohl vor allem darin niederschlägt, dass alle anderen Parteien zusammen exakt drei Sitze mehr haben als besagte CSU. Daraus leitet Frau Roth einen “Auftrag” zur Regierungsbildung ab.

Es ist beeindruckend, mit welcher Unbeirrtheit Politiker große Debakel und mittlere Enttäuschungen (die Grünen haben zwar als einzige vorher im Landtag vertretene Partei hinzugewonnen, sind aber nicht mal mehr drittstärkste Fraktion) in Siege und Triumphe umzuwidmen versuchen. Wie ein Wahlergebnis gedeutet werden soll, das eigentlich nur den Schluss zulässt, dass die Wähler die Schnauze voll haben von den beiden großen Volksparteien, die die Bundesrepublik seit drei Jahren in trauter Zwietracht regieren (und dabei noch jedes zweite Gesetz verfassungswidrig gekriegt haben). Und wie die Lähmung, die so ein Land durch uneindeutige Machtverhältnisse erfährt, gefeiert wird.

Man wartet eigentlich nur noch auf den Tag, an dem irgendeine Partei (mutmaßlich eine von Guido Westerwelle geführte) auf die Idee kommt, bei Wahlergebnissen analog zur Einschaltquote im Fernsehen eine “werberelevante Zielgruppe” auszurufen und nur noch das Abstimmverhalten der 14- bis 49-Jährigen berücksichtigen zu wollen.

Dabei sind die deutschen Vertreter noch blass und harmlos gegen das Personal, das im US-Wahlkampf angetreten ist, um das Amt zu erobern, das man nicht umsonst das wichtigste der Welt nennt. Wir haben ja noch nicht mal eine Sarah Palin (obwohl ich glaube, dass Gabriele Pauli für die Rolle notfalls zur Verfügung stünde), von einem John McCain oder Joe Biden ganz zu schweigen.

Andererseits reichen Ronald Pofalla, Guido Westerwelle und Oskar Lafontaine für den Anfang völlig aus.

[Ausgelöst via twitter]

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Rundfunk Politik

“Outrageous double standards”

Falls Sie eine lustige Fernsehsendung über Politiker oder Medien machen wollen: Sie müssen sich gar keine Frisurenwitze ausdenken oder tausend Mal irgendein albernes Video abspielen. Es reicht völlig, wenn Sie ein gut sortiertes Archiv haben:

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[Direktlink]

Die Frage ist nur, ob das am Ende eigentlich noch zum Lachen ist.

Und wenn Sie jetzt sagen: “Ja, so sindse halt, die Amis, aber so bekloppte Leute haben wir hier ja nicht”, dann sage ich: “Na ja. So sicher wäre ich mir da nicht …”

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Print Digital

Improve Your Importance!

Das People-Magazin “Vanity Fair” (also dessen tragischer deutscher Ableger) unternimmt zur Zeit mal wieder einen Versuch, Relevanz zu generieren. Diesmal nicht mit der beliebten Serie “Friedman und die Nazis”, sondern mit einer großen Abstimmung:

Die 100 wichtigsten Deutschen: Stimmen Sie ab!  Sie geben unserem Land Profil, ziehen an den Strippen, sorgen für Kultur, Fortschritt und kontroverse Debatten: 100 Persönlichkeiten, die unsere Gegenwart prägen. Wählen Sie mit uns die wichtigsten Deutschen des Jahres! Unterschätzt oder überschätzt? Starten Sie die Top 100 und klicken Sie auf den entsprechenden Button. Jede Stimme zählt. Ihr Favorit ist nicht dabei? In unserem Forum können Sie ihn gerne nachnommieren. Klicken Sie hier, um sich für das Forum anzumelden.

Man wundert sich ein bisschen, wer es so alles in die (aktuelle) Liste geschafft hat – über manche Personen ärgert man sich, bei anderen hält man es für verdient und muss zugeben, dass man sie selbst vergessen hätte.

Besonders angetan hat es den Machern und Nachreichern der Liste offenbar die Führungsetage von “Spiegel Online” bzw. “Spielgel Online”:

65: Wolfgang Büchner - Geschäftsführer Spielgel Online

66: Rüdiger Ditz - Geschäftsführer Spiegel Online

91: Rüdiger Dietz

(Der Mann, der sich zwei Mal mit unterschiedlicher Schreibweise, aber gleichem Foto in der Liste findet, heißt korrekt übrigens Rüdiger Ditz.)

Vorne werden die Plätze natürlich vor allem von mobilisierten Fanclubs vergeben (es gibt keine IP-Sperre, jeder kann so oft abstimmen, wie er mag): Hape Kerkeling, Tokio Hotel, Angela Merkel, Bushido, Benedikt XVI., Helmut Schmidt, Sido, …

Da stefan-niggemeier-fans.de.vu vermutlich noch einige Zeit auf sich warten lassen wird, dachte ich mir, ich könnte ja ersatzweise mal hier im Blog Stimmung für meinen Chef machen – gerade, wo sich die Verantwortlichen von vanityfair.de die Mühe gemacht haben, mal ein anderes Foto von ihm zu finden.

Also: Klicket zuhauf!

PS: Sie tun vanityfair.de damit auch noch was Gutes, denn jeder Klick gilt als page impression und treibt damit deren Anzeigenpreise in die Höhe.

Nachtrag, 30. August, 02:04 Uhr: Zum Thema Ditz/Dietz schickte David M. diesen schönen Screenshot:

Außerdem:

1: Stefan Niggemeier, Medienjournalist und Blogger

Nachtrag, 2. September: vanityfair.de hat auf die denkbar unsouveränste Weise reagiert und den Counter für Stefan Niggemeier (und offensichtlich nur für ihn) einfach zurückgesetzt.

Unabhängig davon bin ich der Meinung, dass diese peinliche Abstimmung inzwischen genug Aufmerksamkeit abbekommen hat, und möchte Sie deshalb bitten, mit vanityfair.de das zu tun, was man mit vanityfair.de am Besten tut, und den Quatsch fürdahin einfach zu ignorieren.

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Politik Gesellschaft

What’s your name, what’s your number?

Mein Leben als Lukas Heinser ist vorbei, seit heute bin ich eine elfstellige Nummer. Eine, in der noch nicht mal eine “42” vorkommt. Die Briefe des Bundeszentralamts für Steuern haben Bochum erreicht.

Noch bin ich mir nicht ganz sicher, was ich davon halten soll. Zentrale Identifikationsnummern gibt es in Ländern wie den USA oder Schweden (beide eigentlich bekannt für Bürgerrechte und Liberalität) schon lange und mir leuchtet durchaus ein, dass so eine zentrale Erfassung Vorteile mit sich bringen kann. Laut Anschreiben sind auch (bisher) nur Daten über mich gespeichert, die jeder von Ihnen innerhalb weniger Minuten bei Facebook und in diesem Blog herausfinden könnte. Allerdings sehe ich durchaus einen Unterschied, ob ich diese Daten freiwillig in die Welt hinausposaune, oder sie einfach so gespeichert werden. Darüberhinaus finde ich es etwas merkwürdig, dass das Bundeszentralamt für Steuern meine Religionszugehörigkeit nicht gespeichert haben will – wäre das angesichts der zu entrichtenden Kirchensteuer nicht eine hilfreiche Information?

Außerdem kann sich Wolfgang Schäuble noch so auf den Standpunkt stellen, dass meine Daten beim Staat sicher seien: fast wöchentlich gibt es in den Nachrichten eine Meldung darüber, wo geheime Daten verschwunden oder aufgetaucht sind. Dass diese Meldungen fast immer aus Großbritannien kommen, ist nicht beruhigend: Bei den zwei Möglichkeiten (entweder, die Briten sind das einzige Volk auf der Welt, denen sowas ständig passiert, oder sie sind das einzige Volk, das wenigstens davon erfährt) spricht schon die reine Wahrscheinlichkeitsrechnung für Option 2. Ich möchte nicht in einem Land leben, wo man sich meine Daten nicht mehr zusammensuchen, sondern sie einfach nur aus dem zentralen Melderegister klauen muss – gemeinsam mit denen von bis zu 82 Millionen anderen.

Bei der “Humanistischen Union” gibt es Musterklagen, mit deren Hilfe man sich gegen die Zuteilung der eigenen Identifikationsnummer wehren kann. Die Erhebung der Klage vor dem Finanzgericht kostet allerdings 200 Euro – das ist schon viel Geld, wenn man sich nicht mal sicher ist, ob man die Nummer jetzt richtig scheiße oder nur ein bisschen doof findet.

Aber was ist das eigentlich für ein Staat, der seine Bürger zwingt, sich mit solchen Fragen zu befassen?

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Leben Unterwegs

Der Weg ist das Ziel

Arnhem Central

Ich war ja in Amsterdam. Das Hinkommen war allerdings ein bisschen knifflig, das Wegkommen noch mehr.

Und das kam so:

Am Mittwoch, 23. Juli Uhr bestieg ich um 09:35 Uhr in Oberhausen den ICE International 226 nach Amsterdam – dort sollte er allerdings nie ankommen, da kurz vor Utrecht allen Fahrgästen per Durchsage mitgeteilt wurde, der Zug werde heute nur bis Utrecht fahren. Etliche Leute mussten mit ihrer Arbeit aufhören, die sie sich für die 110-minütige Fahrt vorgenommen hatten (ich nur mit dem Gucken von DVDs), die Familie am Nebentisch, die sich auf einem Tagesausflug nach Amsterdam befand, begann ihr Besuchsprogramm im Geiste zusammenzustreichen. In Utrecht wurde unser Zug sofort nach Einfahrt zu einem ICE nach Frankfurt (Main) umdeklariert, der allerdings auch schon einiges an Verspätung hatte. Außerdem hätte er eigentlich aus Amsterdam abfahren sollen und eben nicht aus Utrecht. Wir aber stiegen in einen niederländischen Intercity (was ungefähr unseren Regionalexpressen entspricht) und kamen mit etwa 25 Minuten Verspätung in Amsterdam an.

Am Freitag, 25. Juli sollte der ICE International Richtung Frankfurt um 18:34 Uhr in Amsterdam Centraal losfahren. Eine dreisprachige Durchsage informierte mich und die anderen Fahrgäste darüber, dass der Zug heute erst ab Arnhem fahren werde – wir mögen bitte mit dem Intercity um 18:22 Uhr bis dort fahren. Man machte sich Sorgen, ob wir den ICE denn in Arnhem überhaupt erreichen würden – erst spät kamen Durchsagen, dass der ICE dort auf uns warten würde.

Er hätte nicht warten brauchen, denn wir erreichten Arnhem so, dass ein Wechsel in den dort für 19:37 Uhr eingeplanten ICE problemlos möglich gewesen wären – allein der ICE war nicht da. Er wende gerade, erklärte das ebenfalls wartende DB-Bordpersonal. Schließlich konnten wir ihn alle sehen, aber er kam nicht, weil vorher noch mehrere Regional- und Güterzüge den Bahnsteig passieren mussten. Mütter brachen vor ihren Familien in Tränen aus, Studenten mit Interrailtickets (für die es sich offenbar auszahlt, mit den Lehren des Zen-Buddhismus vertraut zu sein) überschlugen grob, ob sie Salzburg noch vor der Wiederkehr Christi erreichen würden.

Als der Zug schließlich einfuhr gab es tumultartige Szenen, wie man sie sonst nur aus Zombiefilmen der 1970er Jahre kennt. Mit vierzig Minuten Verspätung fuhr der ICE schließlich aus Arnheim los – und kam nach wenigen Minuten wieder zum Stehen. Von den ersten vierzig Minuten nach der Abfahrt verbrachten wir insgesamt 24 Minuten auf offener Strecke stehend, weil die langsamen Güterzüge, die wir im Bahnhof Arnhem noch hatten an uns vorbeifahren sehen, nun direkt vor unserem ICE waren. Ich begann zu ahnen, dass die wirklich anspruchsvollen Aufgaben der Diplomatie eher mit grenzübergreifendem Schienenverkehr zu tun hatten und weniger mit Atombomben und Gefangenenaustauschen.

In den Durchsagen wurde den Reisenden vage in Aussicht gestellt, dass ihre Anschlusszüge auf sie warten könnten – was eine völlige Sprengung des Fahrplans in halb Mitteleuropa zur Folge gehabt hätte. Auf Deutsch und Holländisch (schade für die vielen Amerikaner) wurde schließlich angekündigt, dass es für jeden Fahrgast ein kostenloses alkoholfreies Getränk gebe. Bis Oberhausen schaffte es unser Zug noch auf beeindruckende 73 Minuten Verspätung – bei 110 Minuten geplanter Reisezeit, wohlgemerkt.

Man muss sich folgendes noch mal vor Augen halten:

  • Der ICE nach Amsterdam fuhr am Mittwoch Mittag nur bis Utrecht.
  • Der ICE aus Amsterdam fuhr am Mittwoch Mittag erst ab Utrecht.
  • Der ICE aus Amsterdam fuhr am Freitag Abend erst ab Arnhem.
  • Der ICE nach Amsterdam fuhr am Freitag Abend offenbar nur bis Arnhem.

Bei dieser Summe von Einzelfällen innerhalb eines sehr überschaubaren Zeitrahmens klopft natürlich schon die Frage an, ob es eigentlich eher die Ausnahme oder die Regel ist, dass die ICEs auf dieser Strecke bis zu ihrem geplanten Ziel bzw. von ihrem geplanten Start fahren.

Bei der Deutschen Bahn AG war man bisher nicht Willens und/oder in der Lage, mir diese Frage zu beantworten hat man ausführlich auf meine Frage geantwortet. Nachzulesen hier.

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Politik

Und ein Haken für Juli …

Gleich drei Vergleiche zum Preis von einem liefert die Büso-Chefin, Anglo-holländische-Verschwörungs-Gegnerin und Atomstromaktivistin Helga Zepp-LaRouche in ihrem aktuellen Kommentar zu Barack Obamas Deutschland-Besuch. Der Führer ist selbstverständlich mit dabei:

Das wirklich erschreckende aber war nicht Obamas Rede, die inhaltlich nichts brachte, was er nicht schon vorher gesagt hätte, von einigen Bezügen auf die Luftbrücke einmal abgesehen, worauf jeder professionelle Redenschreiber kommen mußte. Viel beunruhigender ist, daß die deutschen Massen anscheinend nichts aus der Geschichte gelernt haben, und bei bombastisch aufgezogenen Massenversammlungen offensichtlich eine fatale Neigung haben, in Manien zu verfallen. Dabei scheint es egal zu sein, ob es Hitler in Nürnberg, Gorby auf Deutschlandreise, der Dalai Lama oder eben jetzt das Soufflé Obama ist.

Auf eine etwas andere Art witzig (und zugegebenermaßen näher an meinem Humor) ist da der Kommentar von Jon Stewart in der “Daily Show”:

Hier klicken, um den Inhalt von www.thedailyshow.com anzuzeigen

[Direktobama]

Eine unvollständige Liste der schönsten Nazi-Vergleiche seit 1945 finden Sie nach wie vor hier.

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Print Digital

Selbstbezogen und unprofessionell

Der “Spiegel” hat sich eine self-fulfilling prophecy gebastelt. “Die Beta-Blogger” steht drüber – ein Wortspiel, das im für schlechte Wortspiele bekannten Blog coffeeandtv.de noch vor der Endkontrolle den Gnadenschuss bekommen hätte – und sie füllt in der morgen erscheinenden Ausgabe drei Seiten.

Egal, was man über Blogger schreibt, hinterher wird man von ihnen doch nur verdroschen, weil man nix verstanden oder mit den falschen Leuten gesprochen hat.

steht da ziemlich zu Beginn und damit ist eigentlich alles gesagt.

Genauso gut könnte da auch stehen “das Ganze nach dem Würzen eine halbe Stunde ziehen lassen”, oder “Schönes Wetter draußen, was?”, aber das würde vermutlich nicht dazu führen, dass diese schrecklich selbstreferentiellen Blogger hinterher schreiben, der “Spiegel” hätte nichts verstanden.

Gleich drei Autoren haben an dem “Stück” (“Spiegel”-Sprech) mitgestrickt, was der Kohärenz etwas schadet, dem Text aber ansonsten nicht hilft. Wer sich für Blogs interessiert, erfährt nichts Neues, und wer vorher noch nie von Blogs gehört hatte, wird nachher (“Ist ein bisschen so, als würde man sich einer Sekte nähern, die in internen Grabenkämpfen versunken ist.”) nichts mehr davon hören wollen.

Der Artikel krankt schon an der Grundannahme, die Journalisten jedes Mal tätigen, wenn sie einem sogenannten Massenphänomen gegenüberstehen, das sie nicht verstehen: sie verallgemeinern, scheren alle über einen Kamm und wollen Zusammenhänge sehen, wo keine sind. Normalerweise lautet das Wort, das solche Texte durchzieht “Generation irgendwas”, diesmal heißt es “Blogosphäre”.

Dabei ist die Blogosphäre weder eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, noch ist sie völlig zerstritten – sie ist eine völlig alberne Modellvorstellung, deren Sinnlosigkeit einem klar wird, wenn man das Wort einfach mal durch “Gesellschaft” ersetzt. In Wahrheit heißt Blogosphäre nämlich: die schiere Summe aller Menschen, die bloggen.

Es gibt bloggende Journalisten, bloggende Hausfrauen, bloggende Schüler, bloggende Bestatter und bloggende Hartz-IV-Empfänger – man könnte von einer bloggenden Gesellschaft sprechen. Und all diese Menschen haben so viel oder wenig gemeinsam, wie Journalisten, Hausfrauen, Schüler, Bestatter und Hartz-IV-Empfänger im Alltag gemeinsam haben. Blogs sind ein Medium, ein Mittel zum Zweck. Man wird unter Bloggern auf ähnliche viele nette Menschen, auf ähnlich viele Arschlöcher treffen, wie in der Welt da draußen – vielleicht gibt es unter Bloggern überdurchschnittlich viele Menschen mit einem gewissen Mitteilungsbedürfnis, aber das ist dann auch schon alles.

Natürlich gibt es Blogger, die aktiver sind und sich beispielsweise regelmäßig treffen – aber auch das gibt es in Form von Stammtischen, Vereinen und Freundeskreisen in der Wirklichkeit und hat vielleicht mehr mit den entsprechenden Leuten zu tun als mit ihrer Profession.

Ich kann das Bedürfnis verstehen, all das Tolle, Kluge, Beunruhigende, Abstoßende und Neue, das man in Blogs so finden kann, irgendwie einer größeren Leserschaft zu vorstellen zu wollen. In Blogs kann man meistens für eine klar umrissene Zielgruppe mit Vorkenntnissen schreiben, aber Journalismus braucht Prototypen und deshalb ist Keith Richards Rock’n’Roll, Kurt Cobain Grunge und Gerard Way Emo (wenn nicht gerade Hanni, Nanni und Kaffeekanni Emo sind).

Also setzt man sich hin, schreibt alles auf, was einem dazu einfällt (BILDblog, Don Alphonso, Politically Incorrect, Huffington Post) und guckt im Telefonbuch unter “B” wie “Blogger” nach. Nur wird man dem Thema Blogs damit ungefähr so gerecht wie ein Blogeintrag über Journalismus, der von “Bild”, “Spiegel” und irgendeiner Schülerzeitung handelt und bei dem Roger Willemsen, Günther Jauch und Thomas Leif was über Journalismus sagen dürfen. Es ist letztlich wie mit den Blinden und dem Elefanten.

Jeder Blogger schreibt über die Themen, die ihn interessieren, und wenn sich niemand zur “globalen Finanzkrise”, dem “Mindestlohn” oder der “Verarmung des Mittelstands” äußern will, dann tut das halt niemand. Natürlich tut es trotzdem jemand, denn auch in den Leserbriefspalten und Call-In-Sendungen der Radiostationen äußern sich ja Leute zu diesen Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Es braucht keine Vorschriften und keine Listen, was in deutschen Blogs falsch läuft.

Der Vergleich mit amerikanischen Blogs (also den relevanten, nicht denen bei MySpace) ist natürlich naheliegend, aber auch unfair: die Unterschiede zwischen Deutschland und den USA sind einfach zu groß. In den USA gibt es Mainstream-Medien mit extremen Positionen, die eine Gegenöffentlichkeit brauchen. Wir könnten uns ja glücklich schätzen, wenn deutsche Medien überhaupt irgendwelche Positionen verträten. Außerdem gibt es hierzulande einfach keine Debattenkultur, die man digital fortsetzen könnte.

Für mich gilt außerdem: Ich will gar keine gesellschaftliche Relevanz haben. Ich schreibe, weil mir Schreiben Spaß macht, seit ich denken kann – sogar schon länger, als ich eigentlich schreiben kann. Statt orthographisch fragwürdiger Geschichten über einen “Baua”, der “in Unmacht fellt”, und die meine Eltern lesen (und loben) mussten, kann hier heute jeder, den es interessiert, lesen, welche Musik mir gefällt und was mich alles am derzeitigen Zustand des deutschsprachigen Journalismus stört. Ich habe auch immer schon lustige kleine Videofilme gedreht – früher mussten die Freunde meiner Eltern deren Vorführung durchleiden, heute kann das via YouTube jeder, der will. Das Internet ist das einfachste Mittel, den Kram, den ich sonst für mich selbst machen würde, unverbindlich einem größeren Publikum zur Verfügung zu stellen. Das erfolgt für beide Seiten freiwillig (wer’s nicht lesen mag, muss nicht, und wenn ich keinen Bock hab, schreib ich nichts) und kostenlos.

Und natürlich werden jetzt jede Menge Blogger über den Artikel schreiben und sich aus diesem oder jenem Grund darüber aufregen. Wer sich für Blogs interessiert, erfährt daraus nichts Neues, und wer vorher noch nie von Blogs gehört hatte, wird es sowieso nicht lesen. Durch die ständige Gegenüberstellung der Begriffe “Blogger” und “Journalist” entsteht der Eindruck, es ginge um zwei unvereinbare Lager und Blogger würden Journalisten grundsätzlich hassen (was zumindest auf mich nicht zutrifft). Es gibt keinen Kampf, deswegen wird es auch keine Gewinner und Verlierer geben. Außer natürlich die “Spiegel”-Autoren, die am Ende Recht behalten mit ihrer Vorhersage.

(Immerhin steht vor dem Wort “Blog” jedes Mal der Artikel “das”. Man wird ja bescheiden.)

Nachtrag, 21. Juli: Den Artikel gibt’s jetzt auch bei “Spiegel Online”. Dabei hätte ich es tausend Mal lustiger gefunden, einen Artikel über Blogs nur offline zu verbreiten.

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Print Politik

Nicht wütend genug

Auch bevor er seinen Kopf verloren hatte, war der Berliner Wachs-Hitler seit Tagen in der Presse. “Bild” sah mal wieder eine “Empörung in ganz Deutschland” (bei der Abstimmung auf Bild.de sind derzeit 77% der Leser der Meinung, dass Hitler als Wachsdenkmal “o.k.” sei) und Michel Friedman sprang mal wieder über ein Stöckchen, das “Bild” ihm hingehalten hatte.

Wir haben also in den letzten Tagen jede Menge über den falschen Führer in Berlin gehört, gesehen und gelesen. Wie üblich durfte sich jeder, dessen Empörung nur glaubwürdig genug vorgetragen war, zum Thema äußern.

Aber ist Ihnen in den letzten Tagen und in diesem Zusammenhang mal der Name Stephan Kramer begegnet? Stephan Kramer ist Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland und hatte sich bereits vor gut einem Monat im Gespräch mit der “Netzeitung” zu dem Thema geäußert:

Kramer sagte zwar, Hitler solle in Berlin keine Touristenattraktion werden. «Wenn eine solche Ausstellung jedoch dabei hilft, unsere Sicht auf Hitler zu normalisieren und ihn zu demystifizieren, dann sollte man es versuchen.»

Dazu gehört für den Zentralrat auch die Beschäftigung mit der Historie: «Zu versuchen, Hitler aus der Geschichte zu löschen, funktioniert nicht und ist kontraproduktiv», sagte Kramer. Dies mache die Opfer des Holocaust nicht lebendig und beseitige nicht die verursachten Schäden und begangenen Verbrechen.

Klingt einigermaßen moderat, nicht? Und möglicherweise schlicht zu unspannend für die Presse, die ja immer auf den großen Skandal aus ist.

dpa und epd haben Kramers wichtigste Aussagen noch am gleichen Tag getickert, in deutlich verkürzter Form tauchte die Meldung Anfang Juni auch in der Berliner “Bild” auf. Als es jetzt kurz vor der Erinnerung heiß her ging, erinnerte sich kaum noch jemand an Kramers liberale Position.

So stieß ich auf den Namen Stephan Kramer und seine Meinung zum Wachs-Hitler in einem Bericht der BBC über die Köpfung (aus Stephan wurde dort allerdings Stephen).

Dort blieb von der “Empörung in ganz Deutschland” auch nur noch ein Nebensatz übrig:

Despite some criticism in the media, Stephen Kramer, general secretary of the Central Council of Jews in Germany, said he did not object to Hitler being shown, as long as it was done properly.

Eine kurze Recherche bei Google News ergab, dass Kramer in diesen Tagen genau zwei Mal von der deutschen Presse zum Thema zitiert worden war: heute Morgen in der “Märkischen Allgemeinen” und nach dem Übergriff in der “Erlebnis-Community” “Kwick!”

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Musik

Meeting Ben Folds

Heute machen wir’s mal so richtig Dogma-mäßig: Auf Sie wartet ein englischsprachiges Interview, ungeschnitten, gedreht in einer nicht wirklich ruhigen Hotellobby, mit einem Camcorder mit etwas verschmutzten Bild- und Tonköpfen.

Warum Sie sich das antun sollten? Nun, es ist ein Interview mit Ben Folds.

Teil 1:

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Das Kaiserreich verliert (mal wieder)

Ach ja, liebe “WAZ” in Bochum, wie war das noch mal mit der deutschen Fahne?

Ab 18.30 Uhr wurde es eng. Auch hier alles schwarz-weiß-rot gestimmt, spanische Trikots und die rot-gelbe Flagge der Iberer sah man nur vereinzelt.

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Rundfunk Sport

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!

Nun ist diese Fußball-EM also auch schon wieder vorbei. Deutschland hat sie nicht gewonnen (was zu erwarten war), ist aber Zweiter geworden (was nicht zu erwarten war).

Somit ist es Zeit für den Coffee-And-TV-EM-Rückblick:

Die Gastgeber
Legen wir ausnahmsweise mal, was wir bei der Hymne nie tun würden, die Hand aufs Herz: Schweizer und Österreicher gelten den Deutschen ja irgendwie als die etwas weltfernen Stiefcousins. Die, die so ähnlich wie wir reden, aber doch anders, und die, die beruhigenderweise immer noch schlechter Fußball spielen als die Deutschen.

Entsprechend war es dann auch das erste wichtige Turnier, bei dem alle Gastgeber die Vorrunde nicht überstanden, was wohl auch die Stimmung vor Ort etwas trübte. Von Österreich und der Schweiz bekam man im Fernsehen leider viel zu wenig mit, die Bilder aus den Innenstädten hätten auch in Dresden, Hannover oder einer anderen deutschen Stadt, in der ich noch nie war, gedreht sein können. Doch gestern nach dem Finale wurde klar: die Gastgeber waren die bescheidenen kleinen Brüder von Deutschland 2006. Alles war ein bisschen gedämpfter, stilvoller.

Die Favoriten
Ja, das war etwas merkwürdig: Mein Europameistertipp Tschechien überstand die Vorrunde ebensowenig wie meine Lieblingsmannschaft Schweden, die Italiener retteten sich mit Mühe und Not gegen die dann ausgeschiedenen Franzosen über die Gruppenphase, und Griechenland bewies endlich, dass der Gewinn der EM vor vier Jahren wirklich nur ein Betriebsunfall der Fußballgeschichte gewesen war. Vorher hatten sie uns allerdings mit dem 0:2 gegen Schweden eines der grauenhaftesten Spiele des Profisports geboten.

Nachdem sie in der Vorrunde den Weltmeister, den Vizeweltmeister und schließlich mit einer B-Mannschaft auch noch die Rumänen in Grund und Boden gedemütigt hatten, galten die Holländer als klarer Favorit, was sich alsbald als die bei diesem Turnier unliebsamste Rolle herausstellte: Zack!, brachen sie gegen die Russen ein wie eine labbrige Fritte im Nordseesturm. Von allen Gruppenersten schaffte es gerade mal Spanien, sich nach einem freudlosen Spiel gegen die Italiener durchzusetzen – aber auch nur, weil deren Elfmeterglück nach dem Berliner WM-Finale bis mindestens 2044 aufgebraucht ist. Portugal scheiterte an den Deutschen, die zur Überraschung aller ein gutes Spiel ablieferten, die Kroaten, die wirkten als hätte man ihnen das mit Elfmeterschießen erst nach Ende der Verlängerung erklärt, scheiterten letztlich an der unfassbaren Last-Minute-Macht der Türken.

Um die dem Turnier innewohnende Tragik auf die Spitze zu treiben, erwischte es im Halbfinale ausnahmsweise mal die Türkei in der letzten Minute, woraufhin Deutschland versehentlich im Finale stand, in das am Folgetag die Spanier einzogen. Auch Guus Hiddinks Russen, die sich im ersten Gruppenspiel gegen Spanien trickreich totgestellt und danach alles dominiert hatten, konnten die Iberer (Sportjournalismus geht nicht ohne Thesaurus) nicht mehr stoppen.

Im Finale musste Spanien nur noch Deutschland schlagen, was dann auch kein Problem mehr war, weil die Deutschen neben Philipp Lahm und Jens Lehmann ausschließlich Doppelgänger ihrer Stammelf aufgestellt hatten. Beim einzigen Gegentor kamen sich konsequenterweise Lahm und Lehmann in die Quere.

Dies Spanier wurden völlig verdient Europameister und bewiesen bei der Pokalübergabe auch noch, dass sie deutlich besser erzogen sind als die Italiener, die sich den Cup vor zwei Jahren einfach selbst verliehen hatten. Michel Platini wirkte wie ein Lehrer auf Klassenfahrt, als er inmitten der spanischen Spieler die am wenigsten hässliche Sporttrophäe der Welt (man ist ja schon für Kleinigkeiten dankbar) Iker Casillas in die Hand drückte.

Deutschland
Die eigentliche Sensation ereignete sich bereits am 8. Juni: Deutschland gewann ein EM-Spiel. Viel mehr hatten sich Joachim Löw und seine Mannschaft wohl nicht vorgenommen, weswegen man im darauffolgenden Spiel gegen Kroatien einfach mal alles (außer dem eigenen Harn) laufen ließ. Ich habe glücklicherweise die zweite Halbzeit verschlafen und wurde erst pünktlich zur roten Karte gegen Bastian Schweinsteiger wieder wach. Vermutlich zum letzten Mal in der Nationalmannschaft gesehen haben wir David Odonkor, bei Mario Gomez wird sehr, sehr viel Aufbauarbeit nötig sein.

Gegen Österreich erlebte man endlich wieder die klassische deutsche Turniermannschaft wie bei der EM ’96 oder der WM 2002: schwach spielen, hinten sauber halten, vorne eine Standardsituation ausnutzen, weiterkommen. Gegen Portugal siegte dann Bastian Schweinsteiger im Alleingang, wie er das jetzt offenbar immer gegen Portugal machen will, und gegen die Türkei war Deutschland so unfassbar schlecht, dass es einzig und allein dem grundsympathischen Philipp Lahm und dessen Siegtor zu verdanken war, dass ich mir das Finale überhaupt ansehen wollte. Das Trauma des Halbfinals, dass man sich über einen völlig unverdienten Sieg freuen sollte, wiederholte sich gestern Abend dann zum Glück nicht: Nach zehn Minuten Fußball wollte das Deutsche Team auch mal “was mit Rasen” machen und servierte den Spaniern die Torchancen auf einem Silbertablett mit Platinintarsien. Wenn man der spanischen Mannschaft einen Vorwurf machen kann, dann den, dass ihre Chancenausbeute genauso schlecht war wie bei allen anderen Mannschaften ab dem Viertelfinale. Ich möchte hiermit die neue Regel vorschlagen, dass, wenn zwei Mannschaften es nicht schaffen, innerhalb von 120 Minuten wenigstens ein Tor zu schießen, einfach beide aus dem Turnier ausscheiden.

Nicht unerwähnt bleiben sollte Angela Merkel, die im Stadion nicht nur die wichtigste Entscheidung ihrer bisherigen Amtszeit traf (Bastian Schweinsteiger motivieren), sondern auf der Tribüne und im Interview einmal mehr ihren Fußballsachverstand bewies. Ich möchte sie hiermit ganz ehrlich als kommende DFB-Präsidentin vorschlagen, was sicher auch im Hinblick auf 2011 ein schönes Signal wäre.

Regeln & Schiedsrichter
Die schon länger bestehende Regelung, dass in der Gruppenphase bei Punktgleichheit der direkte Vergleich zähle, sorgte dank des gut ausgearbeiteten Spielplans dafür, dass gleich drei Gruppensieger schon vor dem letzten Spiel feststanden, weswegen sie entsprechend mit einer B- bis C-Mannschaft (Oma der Nachbarin des Busfahrers) aufliefen. Andererseits gab es so in jeder Gruppe ein Endspiel um den zweiten Tabellenplatz. Das zwischen der Türkei und Tschechien schrieb Fußballgeschichte, als die Tschechen es in den letzten Spielminuten nicht schafften, den Ball auch nur in die Nähe des türkischen Tores zu schlagen, in dem seit der roten Karte gegen den türkischen Torwart ein Feldspieler stand. Außerdem gab es noch eine gelbe Karte für einen Ersatzspieler auf der Bank.

Die WM 2006 hatte den unverdienten Elfmeter der Italiener (ja, ich weiß, dass das ein Pleonasmus ist) gegen die Australier und die drei gelben Karten gegen Josip Simunic in einem Spiel, ist mir aber sonst nicht durch größere Schiedsrichter-Inkompetenzen in Erinnerung geblieben. Diesmal war es anders: die Fehlentscheidungen häuften sich und bei manchen Szenen fragte man sich, ob man – so das wirklich die Elite der europäischen Unparteiischen sein sollte – in Zukunft bei einer EM nicht besser Kollegen aus Trinidad und Tobago einfliegen sollte. Gab es vor Spielen Geschrei um die Nationalität eines Schiedsrichters (der Deutsche bei Spanien – Italien, der Schweizer bei Deutschland – Türkei, der Italiener im Finale), gaben sich diese größte Mühe, die Bedenken zu zerstreuen, in dem sie konsequent gegen die von ihnen vermeintlich bevorzugte Mannschaft pfiffen. Nur beim Handspiel Lehmanns an der Strafraumlinie bei erschöpftem Auswechselkontingent zwanzig Minuten vor Schluss kam den Deutschen mal die Inkompetenz des Schiri-Gespanns entgegen.

Der Tiefpunkt war da freilich schon lange erreicht gewesen: die Verbannung beider Trainer auf die Tribüne im Spiel Österreich – Deutschland war eine gefährliche Mischung aus den Ego-Problemen des sogenannten vierten Offiziellen und der Unentspanntheit des spanischen Schiedsrichters. Die UEFA bewies Humor, indem sie beide Trainer für je ein Spiel sperrte und eben jenen Spanier im Viertelfinale gegen Portugal als vierten Mann aufstellte. Wo er dann auch kurz davor stand, wenigstens den portugiesischen Trainer auf die Tribüne schicken zu lassen.

Immerhin eine Schiedsrichter-Entscheidung blieb positiv in Erinnerung: im Spiel Holland – Italien wusste der Schiedsrichter, dass das vermeintliche Abseitstor keines war (also kein Abseits, ein Tor war es ja sehr wohl).

Fernsehen
Schlimmer als Schiedsrichter und Deutsche waren immerhin noch die Leute, die uns den Fußball ins Haus bringen: es ging gar nichts. Nichts.

Béla Réthy, von den Printkollegen merkwürdigerweise immer über den grünen Klee gelobt, nervt nur. Er redet in einem fort, nur als im Halbfinale plötzlich das Bild ausfiel und man auf sein Gequassel angewiesen war, wurden seine Sätze knapper. Tom Bartels kann selbst Fußballkrimis zum Sandmännchen degradieren, so dass man gestern Angst haben musste, die deutschen Spieler hätten versehentlich seinen Kommentar aufs Ohr bekommen und seien deshalb so müde. Steffen Simon ist einer dieser Menschen, die beim Italiener “brusketta” und “jnokki” bestellen, weil sie mal ein Semester in der Volkshochschule waren. Besonders peinlich wurde es immer dann, wenn er einen ausländischen Namen zum gefühlt hundertsten Mal vorgeturnt hatte, und man anschließen den muttersprachlichen Stadionsprecher etwas ähnliches, aber doch ganz anderes sagen hörte. Wie wohltuend bodenständig war dagegen Wolf-Dieter Poschmann, der alles so aussprach wie man’s schreibt.

Beckmann und Kerner gehen per se nicht, in keiner Rolle und auf keinem Sender, mit Netzer und Delling sollte langsam auch mal gut sein, Jürgen Klopp ist mir unsympathisch. Urs Meyer geht, der großartige Mehmet Scholl kam bei Beckmann (s.o.) nicht wirklich zur Entfaltung. Monika Lierhaus wirkte bei den Trainerinterviews immer wie Kai Diekmann bei der Papstaudienz (außer in dem unpassenden Moment, wo sie endlich mal journalistisch wirken wollte) und Katrin Müller-Hohenstein … ach ja. Als ich es einmal nicht mehr aushielt mit Béla Réthy und im Radio weiterhören wollte, war dort grad Sabine Töpperwien am Mikrofon und relativierte wieder einiges, wenn auch nicht alles, was ich schlechts über Réthy zu sagen hätte.

Es sei an dieser Stelle nur noch einmal darauf hingewiesen: diese Kommentatoren, Moderatoren und sonstigen Sportjournalistendarsteller werden von uns allen bezahlt. Gutes Personal ist halt schwer zu finden.

Die Fans
Was soll das eigentlich mit diesem “Schland” und wann und wo hat das angefangen? An die Beflaggung von Wohnhäusern und Automobilen hat man sich zwei Jahre nach der Geburt des “positiven Patriotismus” inzwischen gewöhnt, die Reichsparteitagsverweise sind längst nur noch Brauchtum und Ironie.

Wie undogmatisch die Deutschen sind zeigte sich immer wieder, wenn die gleichen Leute, die morgens beim “Bild”-Kauf über die Benzinpreise jammerten, Abends beim Autokorso (nach dem Österreich-Spiel!) den Gegenwert eines Finaltickets in den Innenstädten verbrannten. Auch die Boulevardpresse schaffte diesen Spagat, indem sie vor dem Halbfinale gegen die Türkei gleichzeitig zu Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufrief und für die kommende Nacht bürgerkriegsähnliche Zustände voraussagte.

Das Coffee-And-TV-Redaktionsteam bewies seine große Fußballkompetnz, indem es sich vor dem Eröffnungsspiel mit Fahnen eindeckte, die allesamt zum Ende der Vorrunde eingeholt werden konnten: Schweden, Griechenland und die Schweiz spielten ungefähr so gut, wie wir tippten. In der familieninternen Tipprunde musste ich mich nicht nur meinem Bruder, sondern auch meinen Eltern und meiner Schwester geschlagen geben. Aber als Borussia-Mönchengladbach-Fan ist man leiden gewohnt.

So geht’s weiter …
Am 9./10. August startet der DFB-Pokal, eine Woche später die Bundesliga. Mönchengladbach ist wieder da, wo es hingehört, der MSV Duisburg auch.

Die Nationalmannschaft wird sich für die WM 2010 qualifizieren und wenn sie da plötzlich die Leistungen aus so manchen Qualifikationsspielen und dem EM-Viertelfinale wiederholen, könnte das schon was werden. Außerdem spricht 2006: 3., 2008: 2. für 2010: 1. Die einzige Alternative wäre eine goldene Generation im deutschen Team: wie die Portugiesen immer schön spielen und Favorit sein, es dann aber nie schaffen. Die Rolle des ewig erfolglosen Geheimfavoriten ist seit gestern Abend unbesetzt.